Kapitel 18

Wenige Minuten nach dem überraschenden Auftauchen Fials und ihrer Verfolger erschien Dego beim Schiff in Begleitung von Coba und mehreren seiner Krieger. Coba schlug vor, sie alle sollten die Behaglichkeit seiner Burg in Cam Eolaing nutzen und dort die Ereignisse besprechen. Fidelma war es noch nicht gelungen, der nach wie vor vollkommen verwirrten Fial irgend etwas Sinnvolles zu entlocken, und von Bischof Forbassach und Mel hatte sie ebensowenig erfahren. Beide schienen plötzlich nicht geneigt, sich irgendwie zu erklären. Die Äbtissin war auch still geworden. Fidelma war noch unentschlossen, als Dego sie darauf hinwies, daß der Tag fortgeschritten war und es bald dunkel würde. Damit war ihr die Entscheidung abgenommen.

Einige von Cobas Männern kannten den Fluß gut, und sie erboten sich, Gabrans Schiff zum Kai unterhalb der Burg von Cam Eolaing zu bringen. Zwei andere Männer und Enda übernahmen die Pferde und ritten mit ihnen zurück, während Fidelma mit den anderen das Schiff bestieg.

»Wenn wir deine Burg erreichen, Coba«, erklärte Fidelma dem Fürsten, »werde ich diese Leute verhören und versuchen herauszubekommen, was geschehen ist. Da du Friedensrichter dieses Gebiets bist, meine ich, du solltest als örtlicher Vertreter neben mir sitzen.«

Bischof Forbassach erhob sofort Einspruch.

»Coba hat nicht mehr die Berechtigung, als Friedensrichter zu fungieren«, beschwerte er sich scharf. »Dadurch, daß er deinem angelsächsischen Freund zur Flucht verhalf, hat er seine Vollmacht verloren. Du warst im Gasthaus dabei, als ich ihm das klargemacht habe.«

»Die Aberkennung eines Ranges muß vom König ausgesprochen und bestätigt werden«, wies ihn Fidelma zurecht. »Hat Fianamail Coba formell seines Ranges als bo-aire enthoben?«

Bischof Forbassach schien gereizt.

»Der König war mit Abt Noe auf der Jagd in den Bergen des Nordens, als ich ihn wegen Cobas Rechtsbruch sprechen wollte.«

»Also bleibt gegenwärtig, bis der König von der Jagd zurück ist, Coba der bo-aire dieses Gebiets, ist das korrekt?«

Bischof Forbassach schaute sie verächtlich an.

»Nicht in meinen Augen, und ich bin der Brehon von Laigin.«

»In den Augen des Gesetzes ist Coba immer noch Friedensrichter, während du selbst zu tief in diesen Fall verwickelt bist, Forbassach. Er wird mit mir den Vorsitz führen, während ich die Untersuchung vornehme.«

In Cobas Blick auf Forbassach und die Äbtissin lag kein geringer Triumph.

»Das werde ich gern tun, Schwester. Hier scheint ein Fall von geheimem Einverständnis vorzuliegen.«

»Das werden wir in Cam Eolaing erörtern«, versprach ihm Fidelma.

Es wurde schon dunkel, als das Schiff an dem Holzkai unterhalb der Burg von Cam Eolaing anlegte. Fackeln erhellten den Weg vom Fluß zum Tor von Cobas Burg. Eine kleine Gruppe von Gefolgsleuten des Fürsten hatte sich versammelt, als sie hörten, daß er zurückkehre und einen Leichnam mit sich führe. Sie drängten sich besorgt am Tor in der Befürchtung, ein Mitglied seines Haushalts könnte getötet worden sein.

Als Coba seine Schar zur Burg führte, hielt er kurz bei ihnen an und nannte den Namen des Toten. Überraschtes Gemurmel erhob sich, als sie erfuhren, es handle sich um Gabran.

»Nun geht wieder an eure Arbeit«, rief ihnen der Fürst zu. »Laß Feuer in den Sälen machen, und bereite Stärkungen für die Gäste vor«, wies er seinen Verwalter an, und zu den Stallknechten sagte er: »Nehmt die Pferde und versorgt sie.« Die Träger des Leichnams Gabrans erhielten den Befehl: »Schafft das in die Kapelle.«

Mit einem halben Dutzend knapper Anweisungen hatte Coba einen angemessenen Empfang für seine Gäste organisiert, für die unfreiwilligen wie für die freiwilligen. Erst nachdem sie gebadet, gegessen und sich ausgeruht hatten, wurden sie in den großen Saal gerufen, wo ein Feuer im Kamin loderte und Fackeln den Raum bis in die dunklen Winkel hinein erhellten.

Coba nahm seinen Amtssessel ein, und Fidelma erhielt einen Stuhl an seiner Seite.

Sie schaute hinunter in die erwartungsvollen Gesichter von Äbtissin Fainder, Mel, Enda und Dego und auf die verstockte, zusammengekauerte Gestalt des Mädchens Fial. Dann runzelte sie die Stirn und sah sich rasch um.

»Bischof Forbassach? Wo ist er?« Sie erfaßte ein Funkeln in den Augen Äbtissin Fainders.

Coba drehte sich zu dem Hauptmann seiner Krieger um, und der verließ eilig den Raum.

Fidelma sah Äbtissin Fainder scharf an.

»Es würde es uns allen leichter machen, wenn du uns sagtest, wo Forbassach geblieben ist.«

»Du nimmst an, daß ich das weiß?« fragte die Äbtissin spöttisch.

»Ich bin sicher, daß du es weißt«, erwiderte Fidelma bestimmt.

»Ich habe nichts Unrechtes getan«, gab Äbtissin Fainder zurück und hob trotzig das Kinn. »Ich weise es als unrechtmäßig zurück, daß ich hier festgehalten und von dir oder dem bo-aire von Cam Eolaing verhört werde. Coba hat bewiesen, daß er mir feindlich gesinnt ist. Ich werde hier gegen meinen Willen festgehalten.«

Ihre Miene verriet Fidelma, daß sie mit der Äbtissin nicht weiterkommen würde.

»Meine Leute werden die Burg absuchen, Schwester«, versicherte ihr Coba. »Wir werden ihn finden.«

Da kam Cobas Hauptmann zurück und ging direkt zu Coba.

»Bischof Forbassach hat die Burg verlassen!«

Coba fuhr überrascht auf. »Ich habe eine Wache ans Tor gestellt und den Befehl gegeben, daß niemand ohne meine Genehmigung oder die von Schwester Fidelma hinaus dürfe. Wie konnte das geschehen? Wurde mein Befehl nicht befolgt?«

Der Mann verzog verlegen das Gesicht. »Nein, mein Fürst. Das Tor steht offen, und Forbassach hat sich ein Pferd genommen. Jemand sah, wie er wegritt

- der wußte nicht, daß er keine Erlaubnis hatte, ihn trifft keine Schuld -, und zwar in Richtung Fearna.«

Coba fluchte heftig.

»Aequo animo«, murmelte Fidelma tadelnd.

»Mein Gemüt ist ruhig«, fauchte Coba. »Wo ist der Posten, der am Tor stand? Wo ist der, der Bischof Forbassach durchgelassen hat? Bringt ihn mir her!«

»Der ist auch weg«, knurrte der Hauptmann.

Coba war verblüfft. »Weg? Wer ist dieser Krieger, der es wagt, gegen meinen Befehl zu handeln?«

»Der Mann heißt Dau. Er hat einen verbundenen Kopf.«

Coba wurde plötzlich nachdenklich. »Derselbe Mann, der bewußtlos geschlagen wurde, als der Angelsachse heute morgen geflohen ist?«

»Der ist es.«

»Weiß man auch, in welche Richtung Dau geflohen ist?« schaltete sich Fidelma ein.

»Derjenige, der den Bischof in Richtung Fearna reiten sah, Schwester, beobachtete auch, daß noch ein Mann bei ihm war«, antwortete der Krieger. »Das war zweifellos Dau. Sie sind zusammen geflohen.«

»Bischof Forbassach ist nicht geflohen«, lachte die Äbtissin höhnisch. »Er reitet nach Fearna und holt den König und seine Krieger, um deinem Verrat ein Ende zu bereiten, Coba, und Schluß zu machen mit den falschen Anschuldigungen dieser Freundin des angelsächsischen Mörders!«

»Ich friere und habe Hunger. Mir geht es schlecht. Können wir nicht eine Weile rasten?«

So beklagte sich Conna, das jüngere Mädchen.

Eadulf hielt an und schaute sich nach der Kleinen um, die in der Dunkelheit, die sich rasch über den Berg senkte, hinter ihm und Muirecht herhinkte.

»Hier ist es zu offen und ohne Schutz, Conna«, antwortete er. »Wir müssen noch vor Einbruch der Nacht oder bald danach das Nebenkloster erreichen. Wenn wir hierbleiben, erfrieren wir.«

»Ich kann nicht weiter. Meine Beine versagen.«

Eadulf biß die Zähne zusammen. Er wußte, daß sie jetzt auf dem Südhang des Gelben Berges waren und der Freistätte, von der Dalbach gesprochen hatte, ziemlich nahe. Wenn sie haltmachten, würden sie nicht wieder in Gang kommen, und hier draußen auf der windigen, ungeschützten Seite des Berges konnten sie leicht erfrieren.

»Wir gehen noch ein Stück weiter. Es kann nicht mehr weit sein. Ich glaube, ich sah ein Waldgebiet weiter unten am Hang, als vor einer Weile noch die Sonne schien. In die Richtung gehen wir. Wenn wir das Nebenkloster nicht finden, suchen wir uns eine geschützte Stelle im Wald. Vielleicht können wir sogar ein Feuer anmachen.«

»Ich kann nicht weiter!« jammerte Conna.

»Laß sie hier«, knurrte Muirecht. »Ich friere auch und habe auch Hunger, aber ich will heute nacht nicht sterben.«

Eadulf wollte sie wegen ihrer Hartherzigkeit schelten, schonte aber lieber seinen Atem. Er wandte sich um und ging zurück zu Conna, die sich auf einen Felsen gesetzt hatte.

»Wenn du nicht laufen kannst«, sagte er fest, »muß ich dich eben tragen.«

Das Mädchen blickte ihn unsicher an. Dann senkte es den Kopf und stand mühsam auf.

»Ich versuch noch ein bißchen weiterzugehen«, murrte es.

Es dauerte lange, bis das Waldstück an der kräftigen Schulter des Berges auftauchte, nicht mehr als ein dunkler Schatten. Es war nicht weit entfernt, doch Eadulf konnte nichts erkennen außer seinem Umriß, der mit dem Berghang zu verschmelzen schien.

»Kommt!« sagte Eadulf. »Jetzt ist es nicht mehr weit.«

Sie trotteten weiter. Conna wimmerte leise vor sich hin, das ältere Mädchen war stumm und zornig.

Als sie den Wald erreichten, wirkte er wenig einladend in seiner dämmerigen Schwärze. Eadulf hatte Mühe, den Pfad zu verfolgen. Doch daß es einen begangenen Weg gab, war schon ein gutes Zeichen, er mußte zu dem Nebenkloster führen. Die Nacht kam rasch, und kein Mond leuchtete ihnen, denn der Himmel war stark bewölkt.

Nach einer Weile merkte Eadulf, daß die Bäume lichter wurden: Sie kamen wieder auf offenes Land hinaus. Der Pfad gabelte sich; zum Glück hatte er den Blick auf dem Boden, um die richtige Richtung zu finden, sonst hätte er die Abzweigung verpaßt.

Muirecht rief plötzlich: »Seht mal! Da unten ist ein Licht. Schau mal, Angelsachse, dort unten!«

Eadulf hob den Kopf. Das Mädchen hatte recht. Weiter unten an dem dunklen Abhang sah er ein Licht flackern. War es ein Feuer oder eine Laterne?

»Über uns ist auch ein Licht«, maulte Conna.

Überrascht wandte sich Eadulf um und spähte in die andere Richtung. Über ihnen erkannte er den schwachen Schein einer pendelnden Laterne. Sie war näher als das Licht unten. Er faßte einen Entschluß.

»Wir gehen nach oben auf das Licht zu.«

»Es wäre aber leichter, nach unten zu gehen«, wandte Muirecht ein.

»Doch der Rückweg wäre länger, wenn wir uns irren«, erklärte Eadulf logisch. »Wir gehen hinauf.«

Er lief voran, den Weg hinauf zu dem flackernden Licht. Es war weiter, als er dachte, aber schließlich kamen sie zu einer ebenen Stelle, und mehrere Gebäude, von Mauern umgeben, tauchten aus der Dunkelheit auf. Eine Laterne hing über dem Tor, und ein eisernes Kruzifix am Tor zeigte an, welchem Zweck die Gebäude dienten.

Eadulf seufzte erleichtert. Endlich hatten sie das Nebenkloster gefunden, das Dalbach empfohlen hatte. Er zog an dem Glockenstrang vor dem Tor.

Ein junger Mönch mit frischem Gesicht öffnete ihnen. Erstaunt blickte er auf das seltsame Trio, das da draußen im Lichtkreis der Laterne stand.

»Kann ich Bruder Martan sprechen?« redete Eadulf ihn an. »Dalbach hat mich hergeschickt, damit ich hier Schutz suche. Ich brauche Nahrung, Wärme und Unterkunft für mich und diese beiden Kleinen.«

Der junge Mönch trat zurück und winkte sie herein.

»Kommt rein, kommt alle rein.« Sein Willkommensgruß klang herzlich. »Ich führe dich zu Bruder Martan, und während du mit ihm sprichst, sorge ich für deine Töchter.«

Eadulf gab sich keine Mühe, den wohlmeinenden jungen Mann zu berichtigen.

Bruder Martan war untersetzt und hatte ein pausbäckiges Gesicht. Er stand schon im vorgerückten Alter und lächelte beständig.

»Deus tecum. Du bist willkommen, Fremder. Ich höre, du bist mit dem Segen Dalbachs gekommen.«

»Er sagte mir, in deinem Hause könnte ich für eine Nacht Schutz vor den Elementen finden.«

»Da sagte Dalbach die Wahrheit. Kommst du von weither? Deine Sprache ist die eines Ausländers.«

Der Alte hielt inne, denn Eadulf hatte inzwischen automatisch den Hut abgenommen.

»Du trägst die Tonsur des heiligen Petrus. Gehörst du zum Glauben?«

»Ich bin ein angelsächsischer Bruder«, gestand Eadulf.

»Und du bist mit deinen Kindern unterwegs?«

Eadulf schüttelte den Kopf, und ohne auf seinen eigenen Hintergrund einzugehen, erläuterte er, wie er die Mädchen gefunden hatte.

»Ach ja, solche Tragödien sind nicht ungewöhnlich«, seufzte Bruder Martan traurig, als Eadulf geendet hatte. »Ich habe schon von solch schlimmem Handel mit Menschenfleisch gehört. Und du sagst, der Name Ga-bran wurde bei diesem bösen Unternehmen genannt? Der Mann ist bei unseren Brüdern in Fearna bekannt. Er treibt Handel den Fluß entlang.«

»Ich mache mich morgen in aller Frühe auf den Weg nach Fearna.«

»Und die beiden Mädchen?«

»Könnte ich sie bei dir in sicherer Verwahrung lassen?«

Bruder Martan stimmte zu. »Sie können hier so lange bleiben wie nötig. Vielleicht können sie ein neues Leben in einer familiären Klostergemeinschaft beginnen, nachdem ihre eigenen Familien sie ausgestoßen haben. Der Glaube braucht immer Novizinnen.«

»Das müssen sie selbst entscheiden. Im Augenblick haben sie schlimme Erfahrungen gemacht. Verraten werden ist eine Sache, aber von den eigenen Eltern verraten werden ...« Er erschauerte leicht.

»Komm, Bruder.« Bruder Martan erhob sich. »Ich habe dich lange genug vom Essen und vom Glühwein abgehalten. Danach mußt du dich ausruhen. Du siehst völlig erschöpft aus.«

»Das bin ich auch«, gab Eadulf zu. »Ich hätte beinahe den falschen Pfad genommen, als wir aus dem Wald herauskamen. Hätte ich mich anders entschieden und wären wir noch länger am Berg herumgewandert, weiß ich nicht, ob ich noch lange hätte wach bleiben können.«

Bruder Martan sah ihn erstaunt an. »Hast du nicht unsere Laterne gesehen, die immer vor dem Tor unseres Klosters brennt?«

»O ja«, erwiderte Eadulf. »Aber ich dachte erst, das andere Licht wäre euer Zeichen.«

»Das andere Licht?« fragte Bruder Martan und lächelte dann, als er begriff. »Ach so! Weiter unten am Berg, ein paar Kilometer von hier, steht eine Jagdhütte des Königs. Wenn er oder seine Jäger dort übernachten, sieht man oft Feuer und Lichter. Sicher ist jetzt Fianamail oder jemand aus seiner Familie dort untergekommen.«

Eadulf stöhne beinahe laut auf vor Erleichterung. Hätte er sich falsch entschieden, wäre dieser Tag anders für ihn ausgegangen. In mehr als einer Hinsicht dankbar, folgte er dem freundlichen Vorsteher in den Speisesaal des Klosters.

In der Halle der Burg von Cam Eolaing hatte Fidelma zwanglos wieder die Leitung übernommen.

»Da Bischof Forbassach von hier geflohen ist«, erklärte sie ihren Zuhörern mit sarkastischem Unterton, »könnte man das - so wie er und andere Menschen ähnliche Handlungen anderer Leute ausgelegt haben -als ein Zeichen der Schuld werten.« Sie schaute Äbtissin Fainder herausfordernd an, die hochrot wurde, aber schwieg. »Doch wir haben mit ihm oder ohne ihn noch viel zu erledigen.«

»Ich glaube nicht, daß du Zeit hast, irgend etwas zu erledigen, Schwester Fidelma. Der Bischof wird bald mit den Kriegern des Königs zurückkehren«, provozierte sie Mel.

Coba ging nicht auf die Drohung ein. »Warum habt ihr, du und Bischof Forbassach, versucht, Fial umzubringen?« fragte er barsch, ohne auf Fidelmas Eröffnung zu warten.

»Wir haben nichts dergleichen getan!« antwortete Mel kühl.

»Fial selbst beschuldigt euch.«

»Das stimmt nicht.«

»Doch, das stimmt!« beharrte Fial, die sich jetzt ein wenig beruhigt hatte, und schaute in die Runde. »Ihr alle wollt mich umbringen.«

Fidelma sah Coba an, bevor sie sich einschaltete, denn sie war ja eigentlich nur Gast in der Halle. Der bo-aire nickte ihr zu.

»Sagen wir es mit anderen Worten, Mel. Warum habt ihr, du und Bischof Forbassach, das Mädchen verfolgt?«

»Es war bekannt, daß Schwester Fial aus der Abtei verschwunden war. Wir wollten weiter nichts als sie zurückbringen.«

»Aber woher wußtet ihr, wo sie war?« forschte Fidelma.

»Ich wußte nicht, wo sie war. Ich glaube, Bischof Forbassach wußte es auch nicht, bis wir zufällig auf sie stießen.«

»Du sagst, ihr seid zufällig auf sie gestoßen? Ich muß wohl etwas überhört haben. Wieso kamt ihr auf der Suche nach Schwester Fial hierher?«

»Warum nennst du mich denn dauernd Schwester?« rief Fial gekränkt dazwischen. Sie begann wieder zu schluchzen.

Fidelma ging zu ihr und streichelte ihr den Arm.

»Hab noch ein bißchen Geduld, liebes Kind. Wir werden die Wahrheit bald heraushaben.« Sie sah Mel an. »Erzähl deine Geschichte weiter, Mel. Wie kamst du hierher?«

»Daran mußt du dich erinnern können«, sagte Mel. »Du warst doch dabei. Ich kam herunter in den Hauptraum des Gasthauses meiner Schwester. Du warst da mit Coba, Bischof Forbassach und Abt Noe. Du hast Gabran beschuldigt, er habe dich angegriffen. Bischof Forbassach erklärte dir, er werde das untersuchen, und befahl mir, ihn zu begleiten.«

»Hast du dich deswegen heute früh in Cam Eolaing nach Gabran erkundigt?« unterbrach ihn Fidelma.

Mel nickte bejahend.

»Bischof Forbassach und ich gingen zuerst zur Abtei. Nachdem er mit Äbtissin Fainder gesprochen hatte, ritten wir hinaus auf der Suche nach Gabran, um zu sehen, ob an deiner Beschuldigung etwas dran wäre. Der Bischof wollte nicht glauben, daß du die Geschichte erfunden hattest.«

Fidelma sah Äbtissin Fainder an. »Hast du Forbas-sach gesagt, wo Fial sich aufhielt?«

»Ich wußte nicht, wo sie war«, verwahrte sie sich dagegen.

»Aber du hast dich heute früh mit Bischof Forbas-sach getroffen?«

»Er kam sehr früh, nachdem er im Gasthaus mit dir gesprochen hatte. Er berichtete mir von deiner Beschuldigung Gabrans, aber er sagte mir nicht, daß er ihn suchen wolle. Deshalb machte ich mich selbst auf die Suche nach ihm.«

Fidelma wandte sich wieder Mel zu. »Und du sagst, ihr beide seid sofort auf die Suche nach Gabran gegangen? Willst du behaupten, ihr wärt gerade erst angekommen, als wir euch hinter Fial herjagen sahen?«

»Da kamen wir bei Gabrans Schiff an, das stimmt.«

Fidelma schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Wenn ihr nach deiner Aussage die Abtei so früh verlassen habt, und eure frühe Ankunft in Cam Eolaing mit der Erkundigung nach Gabran scheint das zu bestätigen, wie kommt es dann, daß ihr Gabrans Schiff erst erreicht habt, als wir euch dort trafen? Wir hätten euch nicht so weit überholen können.«

»Wir wurden in die Irre geschickt.« Mel blieb unbeeindruckt von dem offensichtlichen Widerspruch.

»Wir ritten den falschen Arm des Flusses hinauf, und als wir merkten, daß er so schmal wurde, daß Gabrans Schiff nicht dort sein konnte, lagen wir schon ein paar Stunden hinter euch. Wir mußten das ganze Stück bis fast nach Cam Eolaing zurück, bevor wir auf den richtigen Weg kamen. Hätten wir nicht den Fehler gemacht, hätten wir Gabrans Schiff schon vor Stunden erreicht, vor euch oder der Äbtissin.«

»Forbassach und du, ihr beide stammt aus dieser Gegend. Ihr mußtet doch wissen, wie sich der Fluß teilt.«

»Fearna ist sechs oder sieben Kilometer von hier entfernt. Ja, ich stamme von dort, aber ich kenne nicht jede Ecke in diesem Königreich.«

Fidelma fand die Erklärung fragwürdig, aber immerhin möglich. Ohne nähere Kenntnis der Gegend konnte sie sie nicht nachprüfen.

»Als ihr den Umweg gemacht hattet und Gabrans Schiff suchtet, was geschah dann?«

»Da trafen wir auf Schwester Fial«, erklärte Mel. »Wir ritten den Uferweg entlang, als völlig unverhofft das Mädchen aus den Büschen vor uns heraussprang und zurückprallte. Ich glaube, sie erkannte uns, aber sie schrie auf und rannte davon. Bischof Forbassach und ich setzten ihr nach. Als nächstes trafen wir dann auf euch ...« Er zuckte die Achseln und lächelte schief. »Na, alles andere weißt du ja, Schwester.«

Fidelma dachte eine Weile über diese Aussage nach und seufzte dann tief. Sie wandte sich an Fial. Die hatte aufgehört zu schluchzen, sah aber mitgenommen und elend aus.

»Fial, zuerst will ich dir sagen, daß ich es nicht böse mit dir meine. Wenn du zu mir ehrlich bist, bin ich auch zu dir ehrlich. Verstehst du mich?«

Das Mädchen antwortete nicht, seine Augen erinnerten Fidelma an die eines verschreckten Tieres, das ein Raubtier auf sich zukommen sieht. Impulsiv ging sie hin und legte dem Mädchen den Arm um die schmalen Schultern.

»Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich bin nicht deine Feindin, und ich werde dich vor deinen Feinden beschützen. Glaubst du mir?«

Es gab auch jetzt keine Reaktion. Fidelma versuchte es mit direkten Fragen.

»Wie lange warst du auf Gabrans Schiff gefangen?«

Das Mädchen schwieg weiter.

»Ich weiß, daß du dort warst. Du warst in einer kleinen Kajüte unter Deck angekettet.«

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Fial erschauerte und antwortete endlich.

»Ich weiß nicht, wie lange ich da war. Das letzte Mal waren es wohl zwei oder drei Tage. Es war dunkel, und ich hatte keine Ahnung, wie lange es war.«

»Du legst dem Mädchen die Worte in den Mund«, wandte Äbtissin Fainder ein.

Fidelma nahm Fials Hände mit ihren beiden Händen und hielt sie den Zuschauern hin.

»Habe ich auch diese Stellen an ihren Handgelenken verursacht, Äbtissin Fainder?« fragte sie ruhig. Die Handgelenke wiesen wunde Stellen auf, wo die Fesseln gerieben hatten. »Ich glaube, Fial könnte dir ähnliche Stellen an ihren Fußgelenken zeigen.«

Coba hatte bereits festgestellt, daß es sie gab.

»Wurdest du auf dem Schiff angekettet, Kind?« brummte er.

Als das Mädchen nicht antwortete, ermunterte es Fidelma, indem sie die Frage sanft wiederholte. Fial senkte den Kopf.

»Ja.«

»Wie konnte jemand so etwas einer Novizin antun?« empörte sich Äbtissin Fainder, die nun bereit war, das zu glauben, was sie vor Augen hatte. »Wer es auch war, er wird dafür zu bezahlen haben.«

Fidelma warf ihr einen spöttischen Blick zu.

»Gabran hat bereits dafür bezahlt, Äbtissin, wie du dich erinnern wirst. Dieselben Wunden von Handschellen waren auch bei Gormgilla zu sehen, laut Aussage deines Arztes, Bruder Miachs.« Dann wandte sie sich wieder dem Mädchen zu. »Außerdem war Fial niemals Novizin, weder in Fearna noch in irgendeiner anderen Abtei. Ist es nicht so?«

Fial schüttelte den Kopf.

»Du hast mir aber gesagt ...«, fuhr Äbtissin Fainder auf, doch Fidelma brachte sie mit einer Geste zum Schweigen.

»Erzähl uns deine Geschichte, Kind. Du und deine Freundin Gormgilla, ihr wurdet vor ein paar Wochen auf Gabrans Schiff nach Fearna gebracht, nicht wahr?«

»Wir waren keine Freundinnen, bis wir uns ken-nenlernten, nachdem Gabran uns als Gefangene auf sein Schiff nahm«, antwortete das Mädchen.

Äbtissin Fainder starrte sie zornig an. »Das ist aber nicht die Geschichte, die du dem Gericht bei der Verhandlung gegen den Angelsachsen erzählt hast.«

»Es gibt viele Geschichten, die dem Gericht erzählt wurden und die verändert werden müssen«, erwiderte Fidelma bissig. »Laß das Mädchen weiterreden. Wo stammst du her?«

»Unsere Väter waren beide daer-fudir, und da wir nur Töchter waren, ließen sie sich zu unserer Schande von Gabrans Gold dazu verführen, sich von uns zu trennen. Gormgilla und ich sprachen darüber in den langen dunklen Zeiten, in denen wir zusammen waren.«

»Willst du damit behaupten, daß Gabran Mädchen kaufte und sie weiter unten am Fluß verkaufte - an die Abtei?« rief Äbtissin Fainder entsetzt.

»Nicht an die Abtei«, verbesserte sie Fidelma. »Ga-bran nahm die Mädchen wahrscheinlich den Fluß hinunter mit nach Loch Garman und verkaufte sie an Sklavenschiffe, die sie Gott weiß wohin brachten.«

»Aber Gormgilla und dieses Mädchen waren doch Novizinnen in der Abtei«, widersprach die Äbtissin. »Dieses Mädchen hat selbst ausgesagt, daß sie Novizin ist.«

»Fial hat uns gerade erklärt, daß sie es nicht waren. Erzähl uns, Fial, von der Nacht, als Gabrans Schiff auf der Fahrt den Fluß hinab bei der Abtei anlegte.«

Das Mädchen blinzelte, aber seine Tränen waren inzwischen versiegt.

»Gormgilla war jünger als ich, erst zwölf. Als wir an Bord gebracht wurden, hatte Gabran ein Auge auf sie geworfen und .« Sie verstummte.

»Wir verstehen«, versicherte ihr Fidelma.

»Wir wußten nicht, wohin wir fuhren, weil wir die ganze Zeit in der dunklen Kajüte angekettet waren. Ich merkte, daß das Schiff angelegt hatte und einige Zeit liegen blieb. Gormgilla und ich fragten uns ängstlich, wie lange wir wohl in diesem ekelhaft stinkenden Raum eingesperrt sein würden. Dann öffnete sich die Tür, und Gabran zwängte sich hinein. Er roch nach Alkohol. Er schloß Gormgillas Fesseln auf, und sie fragte ihn, wo er mit ihr hin wollte.« Fial hielt inne, mit der Erinnerung beschäftigt.

»Was sagte Gabran?« fragte Fidelma.

»Er sagte, er nehme sie mit, damit sie auch etwas von dem Vergnügen habe und die Nacht schneller verginge. Dann schleppte er sie, obwohl sie sich wehrte, in die andere, größere Kajüte, und ich blieb allein in der Dunkelheit eingesperrt. Bald danach hörte ich Gormgilla schreien. Es gab auch andere Geräusche -wie von einem Kampf. Dann war alles still.«

Sie hielt wieder inne, als müsse sie mit ihrer Erinnerung fertig werden, ehe sie fortfuhr.

»Ich weiß nicht, wieviel Zeit verging. Plötzlich wurde die Luke geöffnet. Erst dachte ich, Gabran käme zurück und wollte mich holen, aber es war ein anderer aus seiner Mannschaft - derselbe Mann, der uns an Bord gebracht hatte. Seinen Namen weiß ich nicht. Er befahl mir, mich absolut still zu verhalten, und versprach mir, wenn ich alles, ohne zu fragen, täte, was von mir verlangt würde, dann würde ich freikommen und belohnt werden.

Er nahm mich mit in die daneben liegende Kajüte, in der die Matrosen schliefen, obgleich Gormgilla und ich sie nie sahen; wir sahen niemand als Gabran und diesen einen Matrosen. Ich glaube nicht, daß die anderen überhaupt wußten, daß wir uns an Bord befanden. In dieser Kajüte erblickte ich Gabran. Er lag ausgestreckt auf dem Deck, und ich dachte, er wäre sinnlos betrunken - ich hatte meinen Vater oft so gesehen. Aber bald merkte ich, daß Blut an seiner Kleidung klebte und daß er ein blutiges Stück Stoff in der Hand hielt. Neben ihm saß ein Mann in einer Mönchskutte, aber die schwere Kapuze über den Kopf gezogen, so daß ich sein Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Er schien aufgeregt zu sein, und mit einer Hand befingerte er das Kruzifix, das unter seiner Kutte an seinem Hals hing.«

»Ist das wieder eine Geschichte, die meine Abtei in Verruf bringen soll?« Äbtissin Fainders Ton verriet ihren Zweifel an der ganzen Erzählung.

»Ich sage die Wahrheit«, erwiderte das Mädchen heftig. »Ich kann nur berichten, was ich gesehen habe.«

Fidelma streichelte ihr beruhigend den Arm.

»Du machst es gut. Was hat dieser Mönch zu dir gesagt?«

»Er hat nichts gesagt. Das Reden besorgte der Matrose. Er erklärte mir, es habe einen Unfall gegeben.

Gormgilla sei ums Leben gekommen, und es wäre wichtig, daß der richtige Mann dafür bestraft würde. Erst dachte ich, er meinte Gabran, denn ich hatte keinen Zweifel, daß er meine arme Begleiterin umgebracht hatte.«

»Aber er meinte nicht Gabran?«

»Nein. Er sagte, Gormgilla habe das Schiff verlassen und sei auf den Kai gegangen. Ein Angelsachse, der sich in der Abtei aufhielt, habe Gormgilla vergewaltigt und erdrosselt. Der Angelsachse würde nicht überführt werden, wenn ich nicht aussagte, ich hätte gesehen, wie er sie umbrachte.«

»Was?« Äbtissin Fainder schien völlig überrascht. »Du behauptest, man hätte dir befohlen, mit Billigung eines Mönches in einer so wichtigen Sache zu lügen?«

»Ich wußte, es war alles gelogen, aber ich wußte auch, wenn ich nicht zu dieser Aussage bereit wäre, dann würde ich ebenfalls sterben. Ich sollte sagen, ich hätte hinter ein paar Ballen gestanden und gesehen, wie der Angelsachse meine Freundin überfiel. Ich könnte ihn an der Tonsur erkennen, die anders sei als die bei allen anderen Mönchen. Man beschrieb mir diese Tonsur. Ich sollte auch sagen, daß ich und Gormgilla Novizinnen in der Abtei wären.«

»Wie konntest du das behaupten, wenn es nicht stimmte?« fragte die Äbtissin höhnisch. »Meine Vorsteherin der Novizinnen hätte diese Täuschung sofort entlarvt.«

»Nur, daß sie sich gerade auf einer Pilgerfahrt nach Iona befand«, erinnerte sie Fidelma.

»Mir wurde gesagt, niemand würde an meiner Geschichte zweifeln«, fügte Fial hinzu.

Fidelma schaute die Äbtissin an. »Soviel ich weiß, hast du die Geschichte beglaubigt, Fainder«, sagte sie. »Du hast deiner Verwalterin gegenüber die Mädchen als Novizinnen bezeichnet, nicht wahr?«

Stille trat ein, bis Fidelma dringlich fragte: »Wer sonst hat Fial als Novizin bestätigt?«

Äbtissin Fainder schwieg, mit Nachdenken beschäftigt.

Mel räusperte sich. Er hatte Fials Geschichte bei sich erwogen.

»Das Mädchen kam tatsächlich hinter den Ballen hervor. Es könnte vom Schiff gekommen sein. Aber zu mir sagte es .«

»Natürlich«, unterbrach ihn Fidelma ungeduldig. »Sie war die ganze Zeit auf dem Schiff. Das erklärt auch die Ungereimtheiten in ihrem Aufenthalt auf dem Kai, auf die ich dich schon hingewiesen habe. Aber lassen wir sie weiter erzählen. Als klar wurde, daß Gormgillas Leiche entdeckt worden war, mußte man zu schnellen Entschlüssen kommen.«

»Gabran konnte das nicht, er war betrunken. Das hat das Mädchen gesagt«, warf Coba interessiert ein. »Was meinst du, wer diese ausgeklügelte Lügengeschichte erfunden hat?«

»Das tat die Person, in deren Dienst Gabran stand und die diesen schrecklichen Handel mit menschlichem Leid betrieb«, antwortete Fidelma mit Bestimmtheit. »Anscheinend durch Zufall war diese Person zusammen mit einem Matrosen Gabrans in dem Moment am Kai erschienen, als Gabran Gormgilla umgebracht hatte. Gemeinsam packten sie den Betrunkenen, schlugen ihn wahrscheinlich bewußtlos, um besser mit ihm umgehen zu können, schleppten ihn an Bord und legten ihn in eine Kajüte, wo er seinen Rausch ausschlafen konnte. Dann kehrte einer von ihnen oder auch beide zur Leiche zurück, um sie zu beseitigen. Da trat wieder ein Zufall ein ... Gerade, als sie die Leiche fortschaffen wollten, trabte Äbtissin Fainder auf ihrem Pferd aus der Dunkelheit heran. Sie flüchteten wieder aufs Schiff und überlegten, was sie tun sollten. Da kam auch noch Mel hinzu.«

»Fainder hat uns berichtet, wie sie den Leichnam entdeckte«, meinte Coba. »Das paßt zu deiner Theorie.«

»Außer daß der Angelsachse Blut an der Kleidung hatte und ein Stück .« Äbtissin Fainder brach ab, als ihr einfiel, was das Mädchen über Gabrans Kleidung ausgesagt hatte.

»Was geschah mit dem blutigen Stück Stoff, das Gabran in der Hand hielt, Fial?« fragte Coba.

»Der Matrose gab es dem Mönch. Er meinte, es könnte nützlich verwendet werden, wenn es dem Mönch gelänge, in die Abtei zurückzukommen.«

»Mit anderen Worten, es wurde Bruder Eadulf angehängt«, murmelte Fidelma. »Aber wir wollen nicht vorauseilen. Das Erscheinen der Äbtissin löste Panik aus. Der Matrose und der Mönch hörten, wie Mel Äbtissin Fainder anrief, als er sich dem Kai näherte. Ga-brans Auftraggeber steckte auf dem Schiff in der Klemme. Das Verbrechen ließ sich nicht mehr verheimlichen. Deshalb wurde es nun dringend nötig, daß Gabrans Dienstherr in der Dunkelheit verschwand und kein Verdacht auf Gabran fiel. Jemand kam auf die Idee, die kleine Fial dazu zu zwingen, falsch auszusagen mit dem Versprechen, sie würde dadurch freikommen. War es so?«

Fial bestätigte ihre Vermutung.

»Ich spielte meine Rolle. Ich sagte allen, was man von mir verlangte. Ich erkannte den Angelsachsen an seiner ungewöhnlichen Tonsur. Man erklärte mir, ich müßte zu meiner eigenen Sicherheit bis zur Gerichtsverhandlung in einem Raum in der Abtei eingesperrt bleiben. Die Zeit verging, bis vor zwei Tagen ein Mönch kam und mich hinausließ.«

»Dieselbe Person, die bei dem Matrosen saß, der dir befahl, den Angelsachsen zu identifizieren?«

»Nein, nicht derselbe. Diesen Mann hatte ich vorher noch nicht gesehen. Er brachte mich auf Gabrans Schiff. Gabran war an Bord. Bevor ich mich wehren konnte, wurde ich wieder angekettet wie vorher. Ich hörte, wie der Große zu Gabran sagte: >Du sollst sie wegschaffen.< Das war alles, was er sagte. Gabran antwortete: >Das wird erledigt.< Der Mönch ging weg, und Gabran stieß mich hinunter in dieselbe kleine dunkle Kajüte, in der ich mit Gormgilla gelegen hatte. Er grinste mich an und sagte: >Es wird erledigt, aber wann, das bestimme ich.<«

Fial fing erneut an zu schluchzen. »Ich habe eine Ewigkeit da unten zugebracht. Vorige Nacht kam Gabran herunter und . und . er benutzte mich.«

Fidelma nahm das schluchzende Mädchen in die Arme und schaute Coba an.

»Leider waren es meine Ankunft in der Abtei und meine Nachforschungen, die dazu führten, daß das arme Mädchen von dort weggeholt und wieder Ga-bran übergeben wurde.«

Äbtissin Fainder, sehr blaß geworden, räusperte sich nervös.

»Können wir denn sicher sein, daß sie diesmal die Wahrheit sagt? Sie gibt zu, daß sie damals gelogen hat, also lügt sie vielleicht wieder? Die Geschichte hört sich zu grotesk an, als daß sie stimmen könnte.«

»Zu grotesk, als daß eine Dreizehnjährige sie hätte erfinden können«, erwiderte Fidelma scharf. Sie wandte sich wieder an Fial. »Nur noch ein paar Fragen, Kleine. Als du auf dem Schiff in der Dunkelheit angekettet warst, hast du deine Zeit genutzt, nicht wahr?«

Fial sah sie fragend an. »Woher weißt du das?«

»Du hast ein scharfes Stück Metall gefunden und angefangen, die Befestigung der Kette um deine Füße aus der Wand zu sägen.«

»Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dazu brauchte -eine Ewigkeit.«

»Und als du frei warst ...?«

»Ich konnte mich nur von den Fußfesseln befreien. Die Handschellen saßen noch fest.«

»Genau. Aber du konntest durch die kleine Luke in Gabrans Kajüte hochklettern? Der Durchgang zur Hauptkajüte war natürlich verschlossen.«

»Also hat sie ihn umgebracht!« rief Äbtissin Fain-der, die nun merkte, worauf es hinauslief. »Sie erstach ihn in dem Moment, als ich an Bord kam. Ja«, überlegte sie, »sie muß die Tat genau zu dem Zeitpunkt begangen haben. Ich klopfte an die Kajütentür, und das Mädchen schlüpfte durch Luke zurück. Und während ich mich dann über den Leichnam beugte, entkam sie durch die Kajüte und ließ sich über Bord gleiten. Das war das Plätschern, das ich hörte.«

»Du hast beinahe recht, Mutter Äbtissin«, stimmte ihr Fidelma zu.

»Beinahe recht?« fragte die Äbtissin streitlustig.

»Als Fial in die Kajüte kletterte, stellte sie fest, daß Gabran bereits tot war. Er starb durch einen Schwertstreich, der mit mächtiger Wucht geführt wurde. Stimmt das, Fial? Soll ich weitererzählen?«

Das Mädchen war völlig verblüfft von ihrer scheinbaren Allwissenheit. Als sie schwieg, fuhr Fidelma fort: »Fial wußte, wo Gabran seine Schlüssel aufbewahrte, und befreite sich von den Handschellen. Sie wollte sich entfernen, als sie der Durst nach Rache überkam, Rache für das schreckliche Leid, das ihr dieser brutale Mensch zugefügt hatte. Es war vielleicht eine instinktive, unreife Reaktion. Sie ergriff ein herumliegendes Messer, zog Gabran an den Haaren hoch

- in ihrer Wut packte sie seine Haare so fest, daß sie ein Büschel davon mit den Wurzeln ausriß - und stieß ihm das Messer ein halbdutzendmal in Brust und Arme. Die Wunden waren oberflächlich. Dann klopfte die Äbtissin an die Tür. Fial ließ das Messer fallen und den Leichnam los. Das war der dumpfe Fall, den Fainder hörte.

Fial wußte, daß sie entkommen mußte. Der einzige Weg führte nach unten, aber die Tür war verschlossen. Sie riß ein paar Schlüssel in Gabrans Kajüte an sich. Es waren vier. Sie dachte, daß einer davon zum Schloß ihres Gefängnisses passen würde. Das war ihr einziger Fluchtweg. Sie schlüpfte zurück in ihre Kajüte. Der Rest ist klar.«

Fidelma hielt inne, nahm das Gesicht des Mädchens in beide Hände und zog es hoch, so daß Fial ihr in die Augen schauen mußte.

»Habe ich es richtig wiedergegeben, meine Liebe? Ist es so gewesen?«

Fial stieß einen schweren Seufzer aus.

»Ich hätte ihn umgebracht, wenn ich gekonnt hätte. Ich haßte ihn so sehr - für das, was er mir angetan hatte! Was er mir angetan hatte!«

Fidelma nahm das Kind tröstend in die Arme.

Coba lehnte sich zurück, schloß die Augen und holte tief Luft.

»Habe ich das richtig verstanden? Während die Äbtissin in Gabrans Kajüte war, gelangte das Mädchen an Deck und sprang in den Fluß? Die Strömung ist dort sehr stark. Warum ging es nicht einfach an Land?«

»Das habe ich mich auf dem Schiff auch gefragt«, gestand Fidelma. »Aber ich habe nicht berücksichtigt, daß die Furcht ein mächtiger Antrieb ist. Die arme Fi-al war zu Tode erschrocken. Sie wußte nicht, wo sie sich befand. Sie wollte auf keinen Fall auf sich aufmerksam machen, indem sie vom Schiff auf den Kai stieg. Sie wußte nicht, ob sich dort nicht ihre Feinde aufhielten. Sie konnte offensichtlich gut schwimmen und zog diesen Weg vor. Und als sie kurz danach am Ufer auf Forbassach und Mel stieß .«

». dachte sie, wir gehörten mit zu dieser Sklavenhändlerverschwörung«, ergänzte Mel.

»Verschwörung ist der richtige Ausdruck, Mel. Denn es gibt hier noch viele Geheimnisse zu ergründen.«

Äbtissin Fainder rümpfte verächtlich die Nase.

»Das ist wohl wahr, Schwester. Wenn Fial nicht Gabran getötet hat und du anscheinend endlich einsiehst, daß ich es auch nicht tat - wer hat ihn dann umgebracht?« Plötzlich funkelten ihre Augen. »Oder sollen wir daraus schließen, daß dein Angelsachse herkam und Rache nahm?«

Fidelmas Augen blitzten zornig auf.

»Ich hoffe, die Aussage dieses armen Mädchens hat bewiesen, daß Bruder Eadulf an der Vergewaltigung und Ermordung von Gormgilla nicht schuldig ist und eine andere Hand diese schändliche Verschwörung eingefädelt hat!«

»Trotzdem, Schwester«, warf Coba ein, »worauf willst du hinaus? Du sagst, Gabran wurde weder von Fial noch von der Äbtissin ermordet. Ich weiß nicht, wer ihn sonst getötet haben könnte, und auch nicht, warum überhaupt.«

»Gabran war nur ein Werkzeug. Er war das Mittel, mit dem der Handel mit Menschen betrieben wurde, das Mittel, mit dem sie zum Seehafen transportiert wurden. Gabran besaß nicht den Verstand, dieses grausige Geschäft zu ersinnen und durchzuführen. Habt ihr Fials Worte schon wieder vergessen? Sie sprach von dem verhüllten Mönch, der ihr befahl, Bruder Eadulf fälschlich zu beschuldigen.«

Mel rieb sich den Nacken. »Sie erwähnte auch einen anderen Matrosen, der ihm half, als Gabran betrunken dalag. Wer war denn dieser Matrose? Hat er sich gegen Gabran gestellt?«

Fidelma machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Nein. Gabran hat sich gegen ihn gestellt. Dieser Matrose war der, der am nächsten Tag getötet wurde -der, für dessen Ermordung der arme Bruder Ibar hingerichtet wurde.«

Äbtissin Fainder zuckte zusammen. »Willst du damit sagen, daß Ibar unschuldig war?«

»Genau das will ich damit sagen. Ibar der Schmied war ein bequemer Sündenbock, und der wurde wahrscheinlich gebraucht. Kurz bevor er getötet wurde, hatte er sich darüber beschwert, daß er in der Abtei weiter nichts zu tun hatte, als Fesseln für Tiere anzufertigen. Vielleicht hat er nicht geahnt oder es zu spät geahnt, daß die Tierfesseln für Menschen benutzt wurden?

Bruder Eadulf erzählte mir, er habe gehört, wie Ibar auf dem Weg zum Galgen von Handschellen gesprochen habe. >Fragt nach den Handschellen!< habe er gerufen.«

»Ich würde gern wissen, Schwester, was Coba dich auch schon gefragt hat, nämlich worauf du hinauswillst«, schaltete sich die Äbtissin ein. Ihre Stimme zitterte leicht und schien alle Kraft verloren zu haben.

Fidelma schaute ihr offen ins Gesicht.

»Ich habe gedacht, das sei klar, Mutter Äbtissin«, antwortete sie ruhig. »Dieser Handel mit jungen Mädchen, die an ausländische Sklavenschiffe verkauft werden, wird von jemandem in Fearna geleitet, jemandem in der Abtei - und dieser Jemand ist ein Mönch, der dort einen hohen Rang besitzt.«

Äbtissin Fainder griff sich an die Kehle und wurde bleich.

»Nein! Nein!« schrie sie und brach unvermittelt bewußtlos zusammen.

Fidelma ging rasch zu ihr, beugte sich über sie und fühlte den Puls an ihrem Hals.

In diesem Augenblick stürmte einer der Krieger Cobas in höchster Aufregung in die Halle.

»Bischof Forbassach ist zurück. Er steht draußen mit einer großen Schar Krieger des Königs. Er verlangt, daß die Äbtissin und der Krieger Mel freigelassen werden und alle anderen sich ergeben. Was sagst du, Fürst? Ergeben wir uns, oder kämpfen wir?«

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