Kapitel 19

Eadulf fuhr aus dem Schlaf hoch, als die Tür seines kleinen Zimmers aufgerissen wurde. Verwirrt blinzelte er die Gestalten an, die sich an der Tür drängten. Eine von ihnen hielt eine Lampe. Sie war ihm sehr vertraut. Mit furchtbarer Verzweiflung erkannte Eadulf in ihr Bruder Cett. Neben ihm stand der junge Fianamail in freudiger Erregung. Undeutlich nahm Eadulf dahinter das erschrockene Gesicht Bruder Martans wahr.

Fianamails Miene verzog sich zu einem Lächeln der Befriedigung, als er auf Eadulf hinabblickte.

»Das ist der Mann«, bestätigte er. »Gut gemacht, Bruder Cett.«

Eadulf wurde von Bruder Cett aus dem Bett gezerrt und hochgerissen. Mit geübter Leichtigkeit wurde er herumgedreht, und die Hände wurden ihm auf dem Rücken gebunden. Der Hanfstrick schnitt tief in die Haut.

»Na, Angelsachse.« Bruder Cett grinste ihn höhnisch an, als er ihn wieder zum König herumdrehte, »du hast wohl gedacht, du bist uns entwischt. Haste falsch gedacht.«

Er begleitete seine Sätze mit kurzen, harten Schlägen, bei denen Eadulf sich vor Schmerzen krümmte und würgte.

»Bruder!« rief Bruder Martan entsetzt. »Wende doch nicht Gewalt gegen einen gefesselten Mann an, noch dazu einen Mann des Glaubens!«

Da hörte Eadulf eine vertraute Stimme.

»Der Angelsachse hat allen Glauben verloren, dem er einmal anhing, Bruder Martan. Doch du hast recht, wenn du Bruder Cett ermahnst. Du brauchst einen Todgeweihten nicht so grob zu behandeln, Bruder. Gott wird ihn strafen, bevor der Tag vergangen ist.«

Eadulf wandte sich um, und das bleiche Gesicht Abt Noes bot sich seinem umflorten Blick dar. Eadulf war sich seiner hoffnungslosen Lage bewußt und rang sich ein schmerzverzerrtes Lächeln ab.

»Deine christliche Nächstenliebe macht dir alle Ehre«, keuchte er mühsam.

Abt Noe trat einen Schritt vor und musterte ihn sorgfältig, doch seine Miene blieb ausdruckslos.

»Vor den Feuern der Hölle gibt es kein Entkommen, Angelsachse.« Sein Ton war feierlich.

»Das habe ich auch gehört. Wir alle haben uns eines Tages für unsere Missetaten zu verantworten, Könige und Bischöfe - und sogar Äbte.«

Abt Noe lächelte nur, wandte sich um und verließ die Zelle.

König Fianamail wurde ungeduldig. Er schaute zum Fenster der Zelle hinaus und sah, daß die Dunkelheit schwand. In einer Stunde würde der Tag an-brechen. Bruder Martan bemerkte seinen unruhigen Blick.

»Brecht ihr sofort nach Fearna auf?« fragte er. »Oder kehrt ihr erst zur Jagdhütte zurück?«

»Wir warten hier bis zur Morgendämmerung und reiten dann direkt nach Fearna«, erwiderte der König.

»Leider haben wir kein weiteres Pferd für euren Gefangenen«, entschuldigte sich der Klostervorsteher.

Fianamails Miene verdüsterte sich.

»Der Angelsachse braucht keins. Draußen vor dem Tor steht ein guter, starker Baum. Er ist unserer Gerechtigkeit zweimal entgangen. Ein drittes Mal entkommt er uns nicht. Wir hängen ihn, bevor wir fortreiten.«

Eadulf überlief es kalt, doch er bemühte sich, die Umstehenden seine Gefühle nicht merken zu lassen. Er zwang sich zu lächeln. Jeder mußte schließlich einmal sterben, war es nicht so? In diesen letzten Wochen hatte ihm ständig der Tod gedroht, wenn er auch gehofft hatte, durch Fidelmas Ankunft gäbe es eine Möglichkeit, daß die Wahrheit ans Licht käme. Fidelma! Wo war sie? Er wünschte, er könnte sie noch einmal in dieser Welt sehen.

»Geht das nach dem Gesetz?« Bruder Martan sah den König von der Seite an.

Fianamail drehte sich unwillig ihm zu.

»Nach dem Gesetz?« fragte er drohend. »Der Mann hat sein Urteil bekommen. Er sollte schon gehängt werden, als er entfloh. Natürlich ist das legal! Ich handle als Vertreter des Gesetzes. Bruder Cett wird sich um die Ausführung kümmern, und wenn du mo-ralische Bedenken hast, Bruder Martan, dann solltest du dich an den Abt wenden.«

Bruder Cett grinste Eadulf säuerlich an, während Bruder Martan die Zelle verließ.

»Und jetzt«, fuhr Fianamail fort, »will ich frühstücken, denn der Morgen ist kalt, und ich habe Hunger. Vor dem Morgengrauen aufstehen und Geächtete jagen müssen ist eine anstrengende Angelegenheit.« Er zögerte, als sei ihm gerade etwas eingefallen. »Übrigens, wir nehmen auch die beiden jungen Mädchen mit nach Fearna. Unter diesen Umständen haben sie in der Abtei eine bessere Aussicht auf ein gutes Leben, als wenn sie nach Hause gingen oder in der Gegend herumwanderten.«

Bruder Cetts sadistische Miene wurde noch breiter. »Es soll geschehen, wie du sagst.«

Die Tür der Zelle schlug zu, und Fianamail und der stämmige Bruder Cett ließen Eadulf allein den Beginn seines letzten Tages betrachten.

Die Pferde trabten in Zweierreihe auf Fearna zu. De-go ritt neben Fidelma, es folgten Coba und Enda nebeneinander, und hinter ihnen saß Fial auf demselben Pferd wie Mel, der neben Äbtissin Fainder ritt. Bischof Forbassach hatte sich dahinter eingeordnet. Die Spitze und den Schluß bildeten Krieger aus der Leibgarde König Fianamails. Es war kalt und dunkel, doch die führenden Reiter kannten anscheinend den Weg von Cam Eolaing nach Fearna gut und legten ein gleichmäßiges Tempo vor. Dego schaute Fidelma an.

»Warum hast du Coba überredet, sich zu ergeben, Lady?« fragte er. Sein Ton war etwas mürrisch. Die Frage war ihm durch den Kopf gegangen, seit Fidelma den bo-aire gedrängt hatte, den Kriegern, die Forbas-sach mitgebracht hatte, keinen Widerstand zu leisten. Für Dego war es die erste Gelegenheit seit jenen hektischen Augenblicken, die Frage zu stellen, und er tat es leise, um nicht von den Wachen gehört zu werden. »Wir hätten mit dem Bischof und seinen Leuten kämpfen können.«

Fidelma erwiderte seinen Blick.

»Und was dann?« fragte sie sanft. »Wir hätten uns Befriedigung durch zwecklosen Widerstand verschafft, oder, falls wir mit Glück Bischof Forbassach, den Brehon von Laigin, und die Krieger des Königs abgeschlagen hätten, wäre es etwa eine Genugtuung für uns gewesen, wenn wir dadurch einen blutigen Konflikt zwischen den beiden Königreichen ausgelöst hätten, in dem die Wahrheit und die Gerechtigkeit völlig vergessen worden wären?«

»Das verstehe ich nicht, Lady.«

»Nehmen wir an, Coba hätte sich geweigert, sich zu ergeben? Bischof Forbassach ist Brehon dieses Königreichs und besitzt das Recht, die Auslieferung von Personen zu verlangen, die gegen ihren Willen festgehalten werden.«

Dego schwieg.

»Welche gesetzliche Grundlage gäbe uns das Recht, dem Brehon dieses Königreiches den Gehorsam zu verweigern?«

»Ich dachte, wir wären nahe daran, die Lage zu klären. Du hattest schon bewiesen, daß Bruder Eadulf ungerecht verfolgt wurde für Verbrechen, die er nicht begangen hatte. Du hattest festgestellt, daß die Äbtissin in den schrecklichen Sklavenhandel mit jungen Mädchen verwickelt sein muß.«

»Was ich gesagt habe«, erwiderte Fidelma langsam, »war nur, daß die Abtei als Umschlagplatz diente, auf dem junge Mädchen den Fluß hinunter verfrachtet und an ausländische Sklavenschiffe verkauft wurden. Die Einzelheiten hatten wir noch nicht nachgeprüft, und noch weniger hatten wir aufgedeckt, wer hinter diesem Handel steckt.«

Dego war verwirrt.

»Aber jetzt haben wir gar keine Gelegenheit mehr, etwas herauszubekommen, Lady. Dadurch, daß wir uns ergeben haben, ist uns jede Möglichkeit genommen, unsere Nachforschungen fortzuführen. Bischof Forbassach wird uns bestenfalls aus diesem Königreich hinauswerfen lassen. Schlimmstenfalls wird er uns einsperren lassen wegen ... na, wegen irgendwas. Er wird sich bestimmt eine passende Beschuldigung ausdenken.«

»Dego, hätte Coba sich nicht ergeben, wären wir vielleicht alle von den uns an Zahl überlegenen Kriegern Forbassachs niedergemetzelt worden. Hätten wir aber durch ein Wunder Forbassach zurückgeschlagen, wie lange hätte es gedauert, bis der König selbst mit einem Heer gekommen wäre und Cam Eolaing niedergebrannt hätte? Wir hatten keine Wahl.«

Dego wollte die Logik ihrer Beweisführung nicht gern anerkennen. Auch Fidelma hatte sich eben erst von ihrer eigenen Logik überzeugt, denn vom Gefühl her stimmte sie Dego zu. Ihr Instinkt hatte sie zuerst zum Kämpfen aufgefordert, denn es gab eine Finsternis und ein Übel, das die Abtei durchdrang und alle, die mit ihr zu tun hatten. Doch als sie die Lage kühl erwog, erkannte sie, daß es keinen anderen Ausweg gab. Nun erhob sich jedoch die Frage, wie sie Bischof Forbassach dahin bringen könnte, daß er ihr gestattete, die Anhörung fortzusetzen, die sie in Cobas Halle begonnen hatte. Wenigstens hatte sie bewiesen, daß Bruder Eadulf nicht schuldig war, und sie hatte die Hauptzeugin dafür zur Verfügung, das Mädchen Fial.

Aber konnte sie sich auf Fial verlassen? Sie war jung und stand noch nicht im »Alter der Wahl«, und sie hatte ihre Darstellung der Ereignisse schon einmal geändert. Nach dem Gesetz war ihre Aussage unzulässig. Das hatte freilich Forbassach nicht daran gehindert, sie unter einem nichtigen Vorwand zuzulassen. Deshalb müßte er bei einer Berufung akzeptieren, daß Fials ihre Aussage zurückzog. Doch würde er das tun? Wenn Forbassach wollte, konnte er ihre Aussage leicht verwerfen.

Jeder Appell an Fianamail war jetzt fast hoffnungslos. Er war zu jung, ihm fehlte die Reife der Jahre, um seine Vorurteile zu überwinden und seinen übersteigerten Ehrgeiz, in seinem Lande ein bleibendes Andenken zu hinterlassen. Abt Noe hatte dem jungen Mann anscheinend eingeredet, sich als »Fianamail der Gesetzgeber« zu betrachten, als den König, der das Rechtssystem von Laigin änderte, indem er die Bußgesetze einführte, um es, wie er meinte, zu einem wahrhaft christlichen Königreich zu machen. Ihr wurde das Herz schwer, als sie diese Möglichkeiten bei sich erwog.

Ein Kampf gegen Bischof Forbassach und seine Krieger wäre nicht in Frage gekommen, doch sie näherten sich Fearna Kilometer um Kilometer, und ihr fiel kein vernünftiger Ausweg ein. Zu keinem Zeitpunkt ihrer Laufbahn hatte sich Fidelma so hilflos gefühlt. Dego hatte wahrscheinlich recht. So, wie sie Forbas-sach kannte, konnte sie nur hoffen, er werde sie und ihre Gefährten zur Grenze schaffen und aus Laigin ausweisen lassen. Schlimmstenfalls konnte er sie auch irgendeiner Verschwörung beschuldigen mit dem Ziel, die Gerechtigkeit zu behindern, falsche Anschuldigungen zu erheben oder Coba in seiner »Rebellion« gegen das Gesetz zu unterstützen. Forbassach war das alles zuzutrauen. Sie seufzte. Jetzt hoffte sie wirklich, es sei Eadulf gelungen, das Königreich zu verlassen. War er klug, hatte er sich zur Küste durchgeschlagen und ein Schiff gefunden, das ihn in seine Heimat brachte. Hatte er das nicht getan, dann konnte sie nur mit Schaudern daran denken, welches Schicksal ihn erwartete.

Das Morgengrauen führte einen klaren, kalten Tag herauf. Bruder Martan und zwei seiner Mönche standen am Tor der winzigen Klosterkirche der heiligen Brigitta, die Hände in ihren Kutten verborgen und die Köpfe mit den Kapuzen gesenkt. Der weiße Reif auf den Hängen des Gelben Berges glänzte wie Schnee und erstreckte sich noch weit nach Süden bis in das ferne Tal, wo sich der Fluß um die Hauptstadt des Königreichs Laigin herumwand, um Fearna, den Ort der großen Erlen.

Vor den Mönchen standen die beiden jungen Mädchen, Muirecht und Conna. In der eisigen Luft des frühen Morgens zitterten sie trotz der Wollmäntel, die ihnen der freundliche Bruder Martan gegeben hatte. Die Ereignisse hatten sie verwirrt und eingeschüchtert. Bruder Martan schaute unter seiner Kapuze heraus unglücklich auf das, was sich vor ihm abspielte.

Einer der Krieger Fianamails hielt die Pferde mit einer Hand locker an den Zügeln. Abt Noe, etwas seitlich von Bruder Martans Gruppe postiert, schien nicht sonderlich interessiert an den Vorgängen. Nur der junge König Fianamail, bereits im Sattel sitzend, ließ Ungeduld erkennen.

Von den Bäumen vor dem Tor zog einer sofort die Aufmerksamkeit auf sich. Es war eine verkrümmte schwarze Eiche, anscheinend so alt wie die Ewigkeit. An einem niedrigen Ast hatte der stämmige Bruder Cett einen Hanfstrick befestigt und geschickt zu einer Schlinge geknotet. Darunter hatte er einen dreibeini-gen Schemel aufgestellt, den er sich vom Kloster geborgt hatte. Nun sah er Fianamail fragend an und gab ihm zu verstehen, daß er bereit sei.

Fianamail blickte zu dem klaren Himmel auf und lächelte. Es war ein dünnes Lächeln der Befriedigung.

»Weitermachen«, rief er mit rauher Stimme.

Drei seiner Krieger kamen aus dem Kloster heraus und schoben Eadulf vor sich her.

Eadulf empfand keine Angst mehr vor dem Tod. Er hätte zugegeben, daß er den Schmerz fürchtete, aber nicht den Tod selbst. Seine Schritte waren fest. Er bedauerte die ungerechte Art seines Todes, die ihm keinen Sinn zu haben schien. Doch er hatte sich damit abgefunden, und je schneller alles vorüber war, desto eher war er die Furcht vor dem Schmerz los. Sogar auf den Schemel stieg er ungefragt. Seine Gedanken waren von Bildern Fidelmas erfüllt. Er versuchte, sich an ihr Gesicht zu erinnern, während Bruder Cett ihm die Schlinge um den Hals legte.

»Na, Angelsachse, willst du deine Sünden bekennen?« rief Fianamail. Eadulf würdigte ihn keiner Antwort, und der junge König wandte sich ungeduldig an Abt Noe. »Du bist sein religiöser Vorgesetzter, Noe. Du hast die Aufgabe, ihm die Beichte abzunehmen.«

Abt Noe lächelte verkniffen. »Vielleicht glaubt er nicht an die römische Form der öffentlichen Beichte und würde seine Sünden lieber nach Art unserer Kirche einem Seelenfreund ins Ohr flüstern?«

»Meine Beichte wird dich nicht interessieren, denn ich bin unschuldig an den Verbrechen, die man mir zur Last legt«, entgegnete Eadulf, gereizt durch ihr Zögern. »Bringt euren Mord nur zu Ende.«

Doch Fianamail meinte anscheinend, daß dem Gesetz durch eine Beichte Genüge getan werden sollte.

»Weigerst du dich auch jetzt noch, deine Schuld einzugestehen? Du bist im Begriff, vor das Angesicht des allmächtigen Gottes zu treten und für diese Schuld zu büßen.«

Trotz der unmittelbaren Todesgefahr mußte Eadulf lächeln. Es war eine unbewußte Reaktion.

»Dann weiß Er auch, daß ich nicht schuldig bin. Denke daran, Fianamail, König von Laigin, daß Mo-rann, ein Brehon und Weiser eures Landes, einmal gesagt hat, der Tod lösche alles aus - außer der Wahrheit.«

Er hörte Fianamails erbittertes Schnaufen, dann fühlte er, wie die Schlinge sich zuzog, als der Schemel unter ihm weggestoßen wurde.

Bischof Forbassach und seine Gefangenen waren in Fearna angekommen. Sie wurden direkt in den Hof der Abtei geleitet, zum Absitzen aufgefordert und unter Bewachung in die Kapelle geführt. Schwester Etromma hatte das Erscheinen Fials mit einigem Erstaunen wahrgenommen. Die Äbtissin wollte sich selbst um das Mädchen kümmern und nahm es mit sich fort.

Fidelma, Coba, Dego und Enda sahen sich Bischof Forbassach gegenüber, der sie grimmig musterte.

»Nun, Forbassach?« fragte ihn Fidelma. »Hörst du mich jetzt an? Erlaubst du mir, die Beweisführung fortzusetzen, die ich in Cobas Halle begonnen habe?«

Befriedigung spiegelte sich in seiner Miene.

»Du bist so gerissen wie ein Fuchs, Fidelma von Cashel«, sagte er. »Nein. Ich werde nicht zulassen, daß du deine Lügen noch weiter verbreitest. Äbtissin Fainder hat mir unterwegs erklärt, was du vorhast. Du versuchst, diese Abtei, die Äbtissin, die Mönche und Nonnen und das Gesetz von Laigin in den Schmutz zu ziehen. Das wird dir nicht gelingen.«

»Du bist entweder töricht oder an diesen Verbrechen beteiligt, Forbassach«, erwiderte Fidelma gelassen. »Entweder willst du sie im nachhinein decken, oder du bist selbst darin verwickelt. Anders läßt sich deine Dummheit nicht erklären.«

Die Augen des Bischofs verengten sich kampflustig.

»Am liebsten würde ich Anklage gegen dich und deine Gefährten erheben, Fidelma. Ich weiß wohl, daß du die Schwester des Königs von Cashel bist, aber selbst vor der Drohung mit seinem Unwillen werde ich diesmal nicht zurückweichen. Du bist zu weit gegangen. Der Einfluß deines Bruders schützt dich nicht mehr. Ich werde die Angelegenheit mit Fianamail besprechen, bevor ich eine Entscheidung treffe, und in der Zwischenzeit wirst du mit deinen Begleitern hier in der Abtei in Haft bleiben.«

Dego trat vor.

»Das wirst du bereuen, Bischof«, sagte er ruhig. »Wenn du Hand an Fidelma legst, hast du das Heer von Muman an eurer Grenze. Mit dieser Drohung gegen meine Herrin hast du dich zweifach schuldig gemacht. Du bist schuldig, eine ddlaigh bei Gericht bedroht zu haben, und du bist schuldig, weil du es wagst, die Schwester unseres Königs zu bedrohen.«

Die Worte des jungen Kriegers schienen an Forbas-sach abzuprallen.

»Deines Königs, nicht meines Königs, junger Mann. Und deine Drohung mir gegenüber habe ich auch zur Kenntnis genommen. Du wirst genug Zeit haben, über diese Drohung nachzudenken und darüber, wie sie in diesem Land bestraft wird.«

Dego wollte eine Bewegung machen, doch Fidelma legte ihm die Hand auf den Arm. Sie hatte gesehen, daß Forbassachs Krieger ihre Schwerter gezogen hatten.

»Aequam memento rebus in arduis servare men-tem«, murmelte sie ein Zitat aus den Oden des Horaz, um Dego daran zu erinnern, bei schwierigen Aufgaben einen klaren Kopf zu bewahren.

»Ein kluger Rat, wenn du am Leben bleiben willst.« Der Bischof grinste höhnisch. Dann befahl er seinen Kriegern: »Schafft sie fort!«

»Einen Moment«, widersprach Fidelma, und ihr gebieterischer Ton ließ sie innehalten. »Was hast du mit Coba vor?«

Bischof Forbassach sah den bo-aire von Cam Eo-laing an. Dann lachte er boshaft.

»Was würde dein Bruder mit einem Verräter machen, der sich gegen das Gesetz gestellt und gegen seine Autorität rebelliert hat? Er wird sterben.«

Bruder Eadulf hörte einen Ruf und schloß die Augen. Dann spürte er, wie er fiel und sein Körper schwer auf dem Boden aufschlug. Einen Moment lag er da, nach Luft ringend und verblüfft, bis ihm klar wurde, daß er tatsächlich auf dem Erdboden gelandet war. Der Strick mußte gerissen sein, als der Schemel unter ihm weggestoßen wurde. Sein erster Gedanke galt der Angst, daß er nun das Ganze noch einmal durchmachen müßte. Er öffnete die Augen und spähte nach oben.

Sein Blick fiel zuerst auf Bruder Cett, der mit erstaunter Miene und mit wie zur Ergebung ausgebreiteten Armen dastand. Dann hörte er neue Rufe. Jemand beugte sich über ihn und stellte ihn auf die Füße. Er schaute in ein junges, irgendwie bekanntes Gesicht, das ihn anlachte.

»Bruder Eadulf! Lebst du noch?«

Verständnislos sah er den jungen Mann an und versuchte sich an ihn zu erinnern.

»Ich bin’s, Aidan, aus der Leibgarde des Königs Colgü von Cashel.«

Verwirrt schaute Eadulf zu, wie der Krieger ihm die Fesseln durchschnitt. Er konnte nicht sprechen, sein Hals war so wund.

Nun erblickte er mehrere berittene Krieger, reichgekleidet und bewaffnet. Einer von ihnen trug ein großes blaues Seidenbanner. Bei ihrem Erscheinen waren Fianamail und seine Begleiter vor Schreck und Überraschung erstarrt.

Unter den gerade eingetroffenen Reitern befand sich ein Mann unbestimmbaren Alters, der auf einer mächtigen Rotschimmelstute saß und dessen Kleidung einen hohen Rang oder ein hohes Amt verriet. Er hatte eine vorspringende Nase und helle, klar blickende Augen, und seine Miene war streng und verschlossen.

Fianamail zitterte vor Wut. Sein Gesicht lief hochrot an.

»Eine Unverschämtheit!« Seine Stimme überschlug sich fast. »Das ist eine Unverschämtheit! Dafür werdet ihr büßen! Wißt ihr denn nicht, wer ich bin? Ich bin der König. Für diese Frechheit müßt ihr sterben!«

»Fianamail!« rief die spröde Stimme des Reiters, der sich nach vorn schob, wo der König hielt. »Sieh mich an!« Sein Ton war nicht laut, aber er verschaffte sich Gehör.

Der König blickte ihn verdutzt an und versuchte seinen Zorn zu beherrschen.

»Schau mich an und erkenne mich. Ich bin Barran, der Oberrichter aller fünf Königreiche von fiireann. Dies sind die Fianna des Großkönigs. Und hier ist meine Vollmacht, der du nun zu gehorchen hast.«

Er hielt ihm seinen kunstvollen Amtsstab hin, der mit Edelsteinen besetzt und mit Gold- und Silberstreifen verziert war.

Fianamails Gesichtsfarbe wandelte sich von rot zu weiß. Nach kurzem Zögern stammelte er in etwas ruhigerem Ton. »Was hat das zu bedeuten, Barran? Ihr habt eine rechtmäßige Hinrichtung unterbrochen. Dieser Mann ist ein Angelsachse, der der Vergewaltigung und Ermordung einer jungen Novizin schuldig gesprochen wurde. Er ist ein gefährlicher Mensch. Er hat ein faires Verfahren bekommen, und eine faire Berufung wurde von meinem Brehon, Bischof Forbas-sach, und mir angehört. Die Vollstreckung des Urteils ist legal und ...«

Barran hob die Hand, und Fianamail verstummte.

»Wenn es so ist, wie du sagst, dann wirst du eine Entschuldigung von niemand Geringerem als dem Oberrichter erhalten. Aber es gibt viele Dinge, die mich beunruhigen, so wie sie auch den Großkönig beunruhigen. Es ist besser, die Dinge nachzuprüfen und Fehler zu berichtigen, solange der Mann lebt, als sie richtigstellen zu wollen, wenn er schon tot ist.«

»Es gibt keinen Fehler.«

»Das werden wir weiter besprechen, wenn wir deine Burg erreichen, Fianamail.« Barran sprach ruhig, doch sein Ton erzwang Gehorsam selbst von Königen, und Fianamail war noch jung und unreif. »Der Großkönig findet es zudem sehr besorgniserregend, daß man an seinem Hof in Tara hört, in diesem Königreich werde unser angestammtes Rechtssystem nicht länger geachtet. Es heißt, daß du die Bußgesetze als geltendes Recht verkündet hast und über den Gesetzen der Fenechus stehend, die die Brehons vertreten. Kann das wahr sein?«

Er blickte hinüber zu Abt Noe.

»Stimmt es auch, daß du diesen jungen König so beraten hast, Noe?«

Barran war mit dem Abt bereits in Ros Alithir zusammengestoßen. Sie waren keine Freunde.

»Es gibt gute Gründe für die Übernahme der Bußgesetze, Barran«, antwortete Abt Noe steif.

»Dann werden wir sie zweifellos zu hören bekommen«, erwiderte Barran trocken. »Es ist freilich seltsam, daß der Brehon von Laigin, der geistliche Berater des Königs oder gar der König selbst nicht daran gedacht haben, nach Tara zu kommen und die Sache mit den anderen Brehons und Bischöfen der fünf Königreiche zu besprechen. Derzeit ist es das Gesetz der Fenechus, das im ganzen Lande gilt, und das ist das einzige Gesetz, an das die Menschen sich zu halten haben. Ein anderes Gesetz kenne ich nicht. Es würde den Großkönig und seinen Hof unangenehm berühren, wenn ohne unser Wissen noch weitere Verstöße gegen unser Gesetz vorgekommen sind.«

Eadulf stand immer noch da und massierte sich verwirrt die Handgelenke; der Hals schmerzte ihn von der Reibung des Stricks.

»Was geht hier vor?« flüsterte er Aidan zu.

»Lady Fidelma schickte mich nach Tara, um den Oberrichter so schnell wie möglich herzuholen. Ich dachte schon, wir kämen zu spät. Beinahe wäre es auch so gewesen.«

»Aber woher wußtet ihr, wo ich bin? Sie weiß es nicht.«

»Wir wußten es auch nicht. Wir haben Schwester Fidelma noch nicht getroffen. Wir ritten die Nacht hindurch, und vor einer Stunde kamen wir auf den Bergpfad weiter unten, der eine Abkürzung nach Fearna bildet. Er führt an Fianamails Jagdhütte vorbei, und dort bemerkten wir Bewegung. Barran ließ einen seiner Leute nachfragen, ob Fianamail anwesend sei. Wir erfuhren, er und Abt Noe seien hierhergeritten, um einen angelsächsischen Geächteten zu hängen. Ich meinte, das könntest nur du sein. Deshalb kamen wir in aller Eile her.«

Eadulf wurden die Knie weich, als er langsam begriff.

»Du meinst, es war ein purer glücklicher Zufall, daß ich nicht ...« Er erschauerte heftig bei der Vorstellung.

»Wir kamen gerade in dem Moment, als der große Kerl da drüben«, er zeigte auf Bruder Cett, »den Schemel unter dir wegstieß. Es war schon gut, daß mein Schwert scharf ist.«

»Du schlugst den Strick durch, als ich fiel?« fragte Eadulf ungläubig.

»Ich schlug den Strick durch, und zwar nicht den Bruchteil einer Sekunde zu spät, Gott sei Dank.«

Der Oberrichter hatte sein Pferd gewendet und näherte sich der Stelle, an der Eadulf stand.

»Bist du der Mann, der Bruder Eadulf von Seax-mund’s Ham genannt wird?«

Eadulf blickte auf in die hellen Augen Barrans. Er spürte die Persönlichkeit und die innere Stärke dieses Mannes, der vielleicht noch mehr Macht besaß als der Großkönig, denn er stand an der Spitze des Rechtssystems in allen fünf Königreichen von Eireann.

»Der bin ich«, antwortete er ruhig.

»Ich habe von dir gehört, Angelsachse.« Barrans Lächeln war freundlich. »Ich habe von dir gehört als von einem Freund Fidelmas von Cashel. Sie hat mich holen lassen, damit ich dein Richter sei.«

»Dafür bin ich dankbar, Mylord. Ich stehe vor dir ohne Schuld an alldem, was man mir zur Last legt.«

»Das werden wir zu gegebener Zeit feststellen.

Fühlst du dich so gesund, daß du direkt nach Fearna mitkommen kannst?«

»Ja.«

Hier schaltete sich Aidan ein.

»Es wäre besser, Bruder Eadulf einen Augenblick Ruhe zu gönnen, damit wir die Abschürfungen an seinem Hals behandeln können. Er ist nur knapp davongekommen.«

Barran besah sich die Wunden an Eadulfs Hals und nickte schweigend.

Bruder Martan eilte mit einem Krug Met herbei.

»Ich kenne mich damit aus, Lord Brehon. Met für den Magen und Salbe für die Wunden.«

Der Schemel, der kurz zuvor zu seinem Tode dienen sollte, wurde nun aufrecht hingestellt, damit sich Eadulf daraufsetzen konnte. Bruder Martan beugte sich über ihn und murmelte mitfühlende Worte. Er nahm einen kleinen Salbenkrug aus der Ledertasche an seinem Gürtel und rieb sanft etwas Salbe auf die wunden Stellen, die der grobe Strick hinterlassen hatte. Anfangs brannte es so sehr, daß Eadulf zusammenzuckte.

»Es ist eine Salbe aus Salbei und Beinwurz, Bruder«, erklärte ihm der alte Mönch. »Zuerst brennt es, aber später wirst du Linderung spüren.«

»Vielen Dank, Bruder.« Eadulf versuchte trotz der Schmerzen zu lächeln. »Es tut mir leid, daß ich deinem friedlichen kleinen Kloster so viele Probleme bereitet habe.«

Bruder Martans Miene war eher belustigt.

»Die Kirche ist der richtige Ort für Probleme. Dort sollte der Austausch stattfinden - Probleme gegen Frieden.«

Zum erstenmal seit Tagen hob sich Eadulfs Stimmung.

»Mir wäre es lieb, wenn ich meine Probleme gegen einen Apfel tauschen könnte. Das Hängen hat mich hungrig gemacht, und dein Met ist zwar gut, aber er stillt nicht meinen Hunger.«

Bruder Martan wandte sich um und gab den Wunsch an einen seiner Brüder weiter.

Fianamail kochte noch immer vor unterdrückter Wut, und sie brach aus, als er sah, daß Eadulf Met und ein Apfel gereicht wurden.

»Soll dieser Mörder verwöhnt werden, während wir hier in der Kälte herumstehen und auf ihn warten?« wandte er sich an Barran. »Was hat es für einen Sinn, ihm Salbe auf die Wunden zu schmieren, wenn ich ihn später doch hänge?«

»Ich esse meinen Apfel unterwegs«, erklärte Eadulf und stand auf. »Ich habe nichts gegen Eile, wenn die Eile dazu führt, mich zu entlasten und uns der Wahrheit in dieser Sache näher zu bringen. Ich fürchte allerdings, Fianamail hat es nur so eilig, um meinen Tod zu beschleunigen.«

Aidan half Eadulf, hinter ihm auf das Pferd zu klettern. Zwei der Krieger nahmen die beiden jungen Mädchen hinter sich. Muirecht und Conna hatten die dramatischen Ereignisse stumm und angstvoll verfolgt. Dann setzte sich die Reiterkolonne mit Barran, Fianamail und Abt Noé an der Spitze in Bewegung, den Hang des Gelben Berges hinunter, wo der weiße Reif jetzt sichtlich unter der steigenden Wärme der Sonne verschwand.

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