Kapitel 2

Mit langsamen Schritten traten die Mönche aus der bronzebeschlagenen Eichentür der Kapelle heraus in das kalte graue Licht des Mittelhofs der Abtei. Es war ein großer Hof, mit dunklen Granitplatten ausgelegt, auf allen vier Seiten erhoben sich die hohen, freudlosen Steinmauern der Abteigebäude und ließen den Innenraum kleiner erscheinen, als er in Wirklichkeit war.

Die Reihe der kapuzentragenden Mönche, an der Spitze ein Bruder mit einem reichverzierten Metallkreuz, bewegte sich in gemessenem Schritt und mit gesenkten Köpfen. Sie hatten die Hände in den Falten der Kutten verborgen und sangen einen lateinischen Psalm. In kurzem Abstand hinter ihnen kam eine ähnliche Zahl von kapuzentragenden Nonnen, die ebenfalls die Köpfe gesenkt hielten und die Oberstimme des Psalms sangen. Das Echo in dem engen Raum erzeugte einen grausigen Effekt.

Sie stellten sich an zwei Seiten des Hofes auf, mit dem Gesicht zu einer hölzernen Plattform, auf der eine seltsame dreieckige Konstruktion aus aufrechten Pfählen errichtet war, die ein Dreieck von Balken trugen. An einem Balken hing ein Seil mit einer Schlaufe. Dicht unter die Schlaufe hatte man einen dreibeinigen Schemel gestellt. Neben dieser düsteren Vorrichtung stand breitbeinig ein hochgewachsener Mann. Er war bis zum Gürtel nackt und hielt die starken, muskulösen Arme über der breiten, behaarten Brust gekreuzt. Regungslos starrte er auf die Prozession von Mönchen und Nonnen, ungerührt und ohne Scheu vor der Arbeit, die er auf dieser makabren Plattform verrichten sollte.

Aus der Tür der Kapelle traten noch ein Mönch und eine Nonne und gingen mit raschen Schritten auf die Plattform zu. Die hagere Gestalt der Nonne vermittelte einen Eindruck von Größe, der sich aus der Nähe als Täuschung erwies, denn sie war nur mittelgroß, wenngleich ihre finstere, etwas hochmütige Miene ihr ein imponierendes Aussehen verlieh. Ihre Kleidung und das kunstvolle Kruzifix, das an einer Kette um ihren Hals hing, verrieten ihren höheren Rang. Neben ihr ging ein kleiner Mann mit düsterem grauem Gesicht. Auch seine Kleidung ließ einen höheren geistlichen Rang erkennen.

Sie hielten direkt vor der Plattform an. Auf eine kaum merkliche Handbewegung der Frau hin verstummte der Gesang.

Eine der Nonnen eilte herbei und blieb vor ihr stehen, den Kopf respektvoll gesenkt.

»Können wir fortfahren, Schwester?« fragte die reichgekleidete Nonne.

»Alles ist bereit, Mutter Äbtissin.«

»Dann wollen wir es mit Gottes Gnade weiterführen.«

Die Schwester blickte zu einer offenen Tür an der anderen Seite des Hofes hinüber und hob die Hand.

Sogleich kamen zwei stämmige Männer, Mönche nach ihren Kutten zu urteilen, daraus hervor und schleppten zwischen sich einen jungen Mann mit. Er trug ebenfalls eine Kutte, doch sie war zerrissen und schmutzig. Sein Gesicht war bleich, und seine Lippen zitterten vor Furcht. Schluchzen schüttelte seinen Körper, während er über die Platten des Hofes zu der wartenden Gruppe gezerrt wurde. Die drei Männer blieben vor der Äbtissin und ihrem Begleiter stehen.

Einen Moment herrschte Schweigen, das nur von dem angstvollen Schluchzen des jungen Mannes durchbrochen wurde.

»Nun, Bruder Ibar«, fragte die Frau in hartem, unversöhnlichem Ton, »willst du jetzt deine Schuld bekennen, da du an der Schwelle deiner Reise in die andere Welt stehst?«

Die Laute, die der junge Mann hervorbrachte, ergaben keinen Sinn. Er war zu verstört, um zusammenhängend sprechen zu können.

Der Begleiter der Äbtissin beugte sich vor.

»Bekenne, Bruder Ibar.« Seine Stimme zischte eindringlich. »Bekenne, und du brauchst nicht die Qualen des Fegefeuers zu erleiden. Gehe zu deinem Gott ein mit deiner Seele frei von Schuld, und Er wird dich mit Freuden aufnehmen.«

Endlich drangen verständliche Worte aus der Kehle des jungen Mannes.

»Pater Abt ... Mutter Äbtissin ... Ich bin unschuldig. Gott ist mein Zeuge, ich bin unschuldig.«

Die Miene der Frau verfinsterte sich mißbilligend.

»Kennst du die Worte im fünften Buch Mose? Hör zu, Bruder Ibar: >... und die Richter sollen wohl forschen. Und wenn der falsche Zeuge hat ein falsches Zeugnis . gegeben . dann sollt ihr ihn nicht schonen: Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß.< So lautet das Gesetz des Glaubens. Schwöre noch jetzt deinen Sünden ab, Bruder. Geh zu Gott ein, gereinigt von deinen Sünden.«

»Ich habe nicht gesündigt, Mutter Äbtissin«, rief der junge Mann verzweifelt. »Ich kann nicht widerrufen, was ich nicht getan habe.«

»Dann wisse, wohin dich deine Torheit unweigerlich führen wird, denn es steht geschrieben: >Und ich sah die Toten, beide, groß und klein, stehen vor Gott, und Bücher wurden aufgetan. Und ein anderes Buch ward aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach der Schrift in den Büchern, nach ihren Werken. Und das Meer gab die Toten, die darin waren, und der Tod und die Hölle gaben die Toten, die darin waren; und sie wurden gerichtet, ein jeglicher nach seinen Werken. Und der Tod und die Hölle wurden geworfen in den feurigen Pfuhl. Das ist der andere Tod. Und so jemand nicht ward gefunden geschrieben in dem Buch des Lebens, der ward geworfen in den feurigen Pfuhl.<«

Sie schöpfte Atem und sah ihren Begleiter wie beifallheischend an. Der Mann neigte den Kopf und verzog keine Miene.

»Dann geschehe also Gottes Wille«, sagte er ohne Bewegung.

Die Frau nickte den beiden stämmigen Mönchen zu, die den jungen Mann festhielten.

»So sei es«, verkündete sie.

Sie drehten den Gefangenen herum, mit dem Gesicht zur Plattform, und schoben ihn trotz seines Sträubens vorwärts. Er wäre vornüber gefallen, wenn sie ihn nicht gehalten hätten. Bevor er das Gleichgewicht wiedererlangte, hatten sie ihm schon die Arme auf den Rücken gedreht, und einer von ihnen band sie mit einem kurzen Strick geschickt zusammen.

»Ich bin nicht schuldig! Nicht schuldig!« rief der junge Mann und wehrte sich vergeblich gegen sie. »Fragt nach den Handschellen! Nach den Handschellen! Fragt danach!«

Der kräftige Mann, der auf der Plattform wartete, trat nun vor und hob den Gefangenen so leicht hoch wie ein Kind. Er stellte ihn auf den Schemel, legte ihm die Schlinge um den Hals und erstickte seine Rufe, während einer der beiden Mönche ihm die Füße fesselte.

Dann stiegen die beiden Mönche von der Plattform herunter, während der Henker neben dem jungen Mann stehenblieb, der nun mit dem Hals in der Schlinge unsicher auf dem Schemel balancierte.

Die Mönche und Nonnen setzten wieder mit dem lateinischen Gesang ein, diesmal in schnellerem, härterem Ton. Die Äbtissin suchte den grimmigen Blick des Henkers und nickte kurz.

Der muskulöse Mann stieß einfach mit dem Fuß den Schemel unter dem jungen Mann fort, und der gab einen letzten erstickten Schrei von sich, ehe die Schlinge sich endgültig zuzog. Dann pendelte er mit zuckenden Beinen hin und her, bis der Strick ihn langsam erdrosselte.

Aus einem kleinen vergitterten Fenster über dem Hof starrte Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham auf das Geschehen hinunter. Nun erschauerte er, bekreuzigte sich und murmelte ein rasches Gebet für die Seele des Toten. Dann wandte er sich vom Fenster ab der düsteren Zelle zu.

Auf dem einzigen Schemel in der Zelle saß ein scharfgesichtiger, totenbleicher Mann und beobachtete ihn aus dunklen Augen, die in erschreckender Vorfreude funkelten. Er trug ein Mönchsgewand und am Hals ein kostbares goldenes Kruzifix.

»Also nun, Angelsachse«, sagte er mit spröder, einschüchternder Stimme, »wirst du vielleicht etwas über deine eigene Zukunft nachdenken.«

Trotz des Vorgangs, dessen Zeuge er soeben geworden war, leistete sich Bruder Eadulf ein grimmiges Lächeln.

»Ich glaube nicht, daß ich über meine Zukunft viel nachdenken muß. Ich meine eher, sie steht kurz vor ihrem Ende, was diese Welt anbetrifft.«

Die Lippen des Sitzenden verzogen sich höhnisch bei diesem Versuch des anderen, seinen Humor zu bewahren.

»Um so mehr Grund hast du, dich damit zu befassen, Angelsachse. Wie wir unsere letzten Stunden in dieser Welt verbringen, ist von Bedeutung für unser ewiges Leben in der anderen Welt.«

Eadulf setzte sich auf die hölzerne Pritsche. »Ich will mich mit dir nicht über Rechtskunde streiten, Bischof Forbassach, doch eins ist mir ein Rätsel«, sagte er leichthin. »Ich habe mehrere Jahre in diesem Lande studiert, aber eine Hinrichtung habe ich noch nie erlebt. Schließlich legt doch euer Gesetz, das Senchus Mor, fest, daß niemand in den fünf Königreichen für irgendein Verbrechen hingerichtet werden kann, wenn die eric-Strafe oder die Entschädigung gezahlt werden. Aus welchem Grunde wurde der junge Mann da unten umgebracht?«

Bischof Forbassach, Oberrichter des Königs Fia-namail von Laigin und damit sowohl ein Brehon als auch ein Bischof des Königreichs, verzog die Lippen zu einem zynischen Lächeln.

»Die Zeiten ändern sich, Angelsachse. Die Zeiten ändern sich. Unser junger König hat verfügt, daß die christlichen Gesetze und Strafen - die wir die Bußgesetze nennen - an die Stelle der alten Bräuche dieses Landes treten. Was in allen anderen Ländern, die Christi Gesetze gebrauchen, für den Glauben gut ist, muß auch uns genügen.«

»Aber du bist doch ein Brehon, ein Richter, und hast geschworen, die Gesetze der fünf Königreiche zu bewahren. Wie kannst du Fianamail die legale Vollmacht zuerkennen, eure alten Gesetze zu ändern? Das kann nur alle drei Jahre beim großen Fest von Tara geschehen, wenn sich alle Könige, Brehons, Rechtsgelehrten und Laien darauf einigen.«

»Für einen Fremden in unserem Land scheinst du eine Menge zu wissen, Angelsachse. Ich will es dir erklären. In erster Linie gehören wir dem Glauben an. Ich habe nicht nur geschworen, die Gesetze zu bewahren, sondern auch, den Glauben zu bewahren. Wir alle sollten die göttlichen Gesetze der Kirche annehmen und unsere dunklen heidnischen Bräuche ablegen. Aber darum geht es hier nicht. Ich bin nicht hergekommen, um mich über Gesetze mit dir zu streiten, Angelsachse. Du bist für schuldig befunden und verurteilt worden. Von dir wird nichts weiter verlangt, als daß du deine Schuld eingestehst, damit du deinen Frieden mit Gott machen kannst.«

Eadulf verschränkte kopfschüttelnd die Arme.

»Deshalb mußte ich mir also die Hinrichtung dieses armen jungen Mannes ansehen? Nun, Bischof Forbas-sach, ich habe bereits meinen Frieden mit Gott gemacht. Du verlangst das Schuldgeständnis von mir nur, weil du dich selbst von deiner Schuld eines falschen Urteilsspruchs reinigen willst. Ich bin unschuldig und werde das ebenso erklären, wie der arme junge Mann das getan hat. Möge Gott den jungen Bruder Ibar in der anderen Welt freundlich aufnehmen.«

Bischof Forbassach erhob sich. Das Lächeln stand nach wie vor auf seinem spitzen Gesicht, aber es war noch gezwungener und falscher geworden. Eadulf spürte die kochende Wut der Enttäuschung in dem Mann.

»Es war töricht von Bruder Ibar, an seiner angeblichen Unschuld festzuhalten, und ebenso töricht ist es von dir.« Er trat ans Fenster der Zelle und starrte einen Moment in den Hof hinunter. Der Leichnam des jungen Mannes pendelte noch am Galgen und zuckte ab und zu als grausiges Zeichen, daß der Tod sich Zeit ließ mit seinem unglücklichen Opfer. Mit Ausnahme des geduldigen Henkers waren alle verschwunden.

»Interessant ... was er zuletzt gerufen hat«, überlegte Eadulf laut. »Hat denn jemand nach den Handschellen gefragt?«

Bischof Forbassach gab keine Antwort. Er ging zur Tür. Mit der Hand am Griff zögerte er noch einen Moment, wandte sich um und schaute Eadulf mit kaltem, zornigem Blick an.

»Du hast Zeit bis morgen mittag, Angelsachse, um dich zu entscheiden, ob du mit einer Lüge auf den Lippen sterben oder deine Seele von der Schuld an diesem üblen Verbrechen reinigen willst.«

»Anscheinend«, erwiderte Bruder Eadulf leise, während Forbassach an die Tür klopfte, um den Wächter herbeizurufen, »liegt dir sehr viel daran, daß ich etwas gestehe, woran ich unschuldig bin. Ich frage mich, weshalb?«

Einen Augenblick ließ Bischof Forbassach die Maske fallen, und wenn Blicke töten könnten, dachte Eadulf, wäre er in diesem Moment gestorben.

»Nach morgen mittag, Angelsachse, genießt du nicht mehr den Luxus, dich das fragen zu können.« Die Zellentür öffnete sich, und Bischof Forbassach ging hinaus. Eadulf erhob sich, schritt rasch zu der Tür, als sie sich hinter ihm schloß, und rief ihm durch die kleine vergitterte Öffnung nach: »Dann kann ich noch bis morgen mittag über deine Motive nachdenken. Vielleicht bekomme ich bis dahin heraus, was für üble Dinge hier vorgehen, Forbassach! Was ist mit den Handschellen?«

Er erhielt keine Antwort. Eadulf lauschte einen Moment den sich entfernenden Schritten im Gang nach und hörte dann, wie eine ferne Tür zuschlug und eiserne Riegel vorgeschoben wurden.

Eadulf trat zurück. Wieder allein, spürte er, wie sich tiefe Verzweiflung über ihn senkte. Bei allem Bemühen, seine Gefühle vor Forbassach zu verbergen, konnte er sie doch nicht vor sich selbst verleugnen. Er ging zum Fenster und starrte auf den Galgen hinunter. Der Leichnam Bruder Ibars hing nun still, und seine Glieder zuckten nicht mehr. Das Leben war aus ihm gewichen. Eadulf versuchte sich ein Gebet abzuringen, doch es wollten keine Worte kommen. Der Mund war trocken, die Zunge geschwollen. Morgen mittag würde er dort unten an dem Galgen pendeln. Nichts konnte das mehr verhindern.

Fearna, der große Ort der Erlen, war die Hauptsiedlung der Ui Cheinnselaigh, der Herrscherdynastie des Königreichs Laigin. Die Stadt lag an der Seite eines Berges an einer Stelle, wo zwei von breiten Flüssen durchzogene Täler wie die Arme eines großen Y zusammenkamen und ein einziges weites Tal bildeten, in dem die Flüsse, nun vereinigt, erst südwärts und dann ostwärts dem Meer zustrebten.

Fidelma und ihre Gefährten hatten die Nacht in Morcas Gasthaus verbracht, dann die Furt durch den breiten Slaney benutzt und waren nun auf dem Weg zwischen dem Slaney und dem Fluß Bann, an dessen Ufern die Hauptstadt der Könige von Laigin lag. Ihre Ankunft zwischen den ausgedehnten Gebäuden aus Holz und Stein erregte keine Aufmerksamkeit, denn viele Reisende, Kaufleute, Händler und Gesandte aus anderen Königreichen, kamen und gingen regelmäßig. Fremde waren in der Stadt so häufig, daß sie nicht auffielen.

Fearna wurde überragt von zwei Gebäudekomplexen. Auf einem kleinen Vorsprung des Berges am Fluß erhob sich die Festung der Könige von Laigin. Sie war groß, unterschied sich aber nicht von anderen runden Zitadellen, denen man in den fünf Königreichen von Eireann häufig begegnete. Eigenartigerweise war es die Abtei Maedoc, die die Landschaft beherrschte, eine große graue Ansammlung von Gebäuden dicht am Ufer des Flusses Bann. Sie hatte einen eigenen kleinen Kai, an dem Schiffe aus den Ansiedlungen anlegten, um Handel zu treiben. Durch diesen Flußhandel war Fearna groß geworden.

Wer zum erstenmal nach Fearna kam, konnte leicht die Abtei für den Sitz der Könige von Laigin halten.

Sie war zwar erst fünfzig Jahre alt, sah aber aus, als stünde sie schon seit Jahrhunderten dort, denn es umgab sie eine seltsame Aura von Düsternis und Verfall. Sie ähnelte mehr einer Festung denn einer Abtei. Sie vermittelte den Eindruck finsterer Vorahnungen.

Als König Brandubh beschloß, für seinen christlichen Berater und dessen Anhänger eine Abtei zu bauen, verfügte der alte Herrscher, es solle das imposanteste Bauwerk in seinem Königreich werden. Doch statt ein Ort der Gottesverehrung und der Freude zu werden, wie es ihre Bestimmung hätte sein sollen, wuchs die Abtei zu überwältigender und bedrohlicher Größe auf, bis sie wie eine bösartige Geschwulst der Landschaft wirkte.

Es war kaum fünfzig Jahre her, daß die Könige von Laigin zum christlichen Glauben bekehrt worden waren. Damals hatte sich Brandubh vom heiligen Aidan taufen lassen, einem Mann aus Breifne, der sich in Fearna angesiedelt hatte. Das Volk von Laigin hatte Aidan den Namen Maedoc gegeben, eine Koseform seines Namens, die »kleines Feuer« bedeutete. Der heilige Maedoc war vor vierzig Jahren gestorben, und man wußte, daß die Brüder in der Abtei seine Reliquien eifersüchtig hüteten.

Mit kritischem Blick betrachtete Fidelma die Abtei, als sie in die Stadt einritten, sie war so ganz anders als die Wohnstätten der religiösen Gemeinschaften, die sie kannte. Ein wenig schämte sie sich dieses Gedankens, denn sie wußte, daß der heilige Maedoc im Lande beliebt und geachtet gewesen war. Doch sie blieb fest bei ihrer Überzeugung, daß die Religion eine Sache der Freude und nicht der Bedrückung sein sollte.

Dego wies ihnen den Weg zu Fianamails Burg, denn er war schon früher in Fearna gewesen. Der junge Krieger führte sie sicher den Berg hinauf, hielt vor dem Tor der Burg und forderte den verwunderten Posten auf, seinen Befehlshaber zu rufen. Fast sofort kam ein Krieger herbei und zog ein finsteres Gesicht, als er sah, daß Dego und seine Kameraden Männer im Dienste des Königs von Cashel waren. Während er noch unentschlossen zögerte, trieb Fidelma ihr Pferd nach vorn.

»Laß euren Verwalter holen«, forderte sie ihn auf. »Sag dem rechtaire, es ist Fidelma von Cashel, und sie ersucht um ein Gespräch mit Fianamail.«

Der Befehlshaber der Wache erkannte den Rang der jungen Nonne, die da Einlaß begehrte, und war überrascht. Nach einer steifen kleinen Verbeugung wandte er sich ab und schickte einen seiner Männer auf die Suche nach dem rechtaire, dem Verwalter der königlichen Hofhaltung. Er erkundigte sich höflich, ob Fidelma und ihre Begleiter absteigen und sich in den Schutz des Wachraums begeben möchten. Auf ein Fingerschnipsen eilten Stalljungen herbei, die sich um die Pferde kümmerten, während Fidelma und ihre Gefährten einen Raum mit einem prasselnden Feuer betraten. Ihr Empfang war nicht gerade überschwenglich gewesen, doch war das Mindestmaß an Höflichkeit gewahrt worden, das das Gesetz der Gastfreundschaft erforderte.

Schon nach wenigen Augenblicken kam der Verwalter der königlichen Hofhaltung herbeigeeilt.

»Fidelma von Cashel?« Er war ein älterer Mann mit sorgfältig gekämmtem Silberhaar, und sein Aussehen und seine Kleidung deuteten darauf hin, daß er ebenso penibel mit seinem Äußeren wie in der Einhaltung des Hofprotokolls war. Er trug eine silberne Amtskette. »Wie ich höre, ersuchst du um ein Gespräch mit dem König?«

»Das ist richtig«, erwiderte Fidelma. »Es handelt sich um eine sehr dringliche Angelegenheit.«

Sein Gesicht blieb ernst. »Ich bin sicher, daß sich das einrichten läßt. Vielleicht möchten du und ...« -sein Blick streifte Dego, Aidan und Enda -, »und deine Begleiter ... vielleicht möchtet ihr euch frisch machen und ausruhen, und ich treffe inzwischen die Verabredung?«

»Ich würde es vorziehen, wenn das Gespräch sofort stattfinden könnte«, antwortete Fidelma, worauf der Verwalter heftig blinzelte, was seine Überraschung verriet. »Wir haben uns unterwegs ausgeruht, und die Reise hat einen schwerwiegenden Grund, es geht um Leben und Tod. Ich verwende diese Worte mit Bedacht.«

Der Mann zögerte. »Es ist ungewöhnlich . «, begann er.

»Die Angelegenheit ist ungewöhnlich«, unterbrach ihn Fidelma entschlossen.

»Du bist die Schwester des Königs von Muman, Lady. Außerdem bist du Nonne, und dein Ruf als dalaigh ist auch in Fearna nicht unbekannt. Darf ich fragen, in welcher Eigenschaft du kommst? Der König ist stets bereit, Besucher aus den Nachbarländern zu empfangen, besonders die Schwester Colgüs von Cashel ...«

Fidelma unterbrach ihn mit einer raschen Handbewegung. Sie hatte keinen Sinn für die Schmeichelei, mit der er seine Fragen umkleidete.

»Ich bin nicht als Schwester des Königs von Mu-man hier, sondern als dalaigh bei Gericht mit dem Grad eines anruth.« Fidelmas Ton war kühl und bestimmt.

Der Verwalter hob den Arm mit einer seltsamen Geste, die Einverständnis andeuten sollte.

»Wenn du dann so gut sein willst, hier zu warten, werde ich den Willen des Königs erfragen.«

Man ließ Fidelma zwanzig Minuten warten, bis der Verwalter zurückkehrte. Der Befehlshaber der Wache, der bei ihnen geblieben war, wurde immer verlegener und trat von einem Fuß auf den anderen. Fidelma war zwar verärgert, doch er tat ihr leid. Als er sich schließlich räusperte und nach Entschuldigungen suchte, erklärte sie ihm lächelnd, es sei schließlich nicht seine Schuld.

Endlich erschien der Verwalter wieder, mit etwas betretener Miene wegen der Zeit, die es gedauert hatte, ihren Wunsch dem König vorzutragen und seine Antwort zu überbringen.

»Fianamail erklärt sich bereit, dich zu empfangen«, sagte der Alte und schlug die Augen nieder vor ihrem zornigen Blick. »Willst du mir bitte folgen?« Er zögerte und sah Dego an. »Deine Begleiter müssen natürlich hier warten.«

»Natürlich«, fauchte Fidelma. Sie fing Degos Blick auf und brauchte nichts weiter zu sagen. Der junge Krieger bestätigte ihren unausgesprochenen Befehl mit einem Nicken.

»Wir erwarten hier deine sichere Rückkehr, Lady«, sagte er leise mit kaum merklicher Betonung auf dem Wort »sicher«.

Fidelma folgte dem Verwalter über den mit Steinplatten belegten Hof in das Hauptgebäude der Burg. Der Palast erschien ihr merkwürdig leer im Vergleich mit den Menschenmengen, die gewöhnlich das Schloß ihres Bruders bevölkerten. Hier und da stand ein Wachposten. Ein paar Männer und Frauen, offensichtlich Bedienstete, eilten hin und her, aber es gab keine Gespräche, kein Lachen und keine spielenden Kinder. Zwar war Fianamail jung und noch nicht verheiratet, doch es war seltsam, daß einem solchen Palast die Vitalität und die Wärme des Familienlebens und seiner Betriebsamkeit fehlten.

Fianamail erwartete sie in einem kleinen Empfangszimmer vor einem lodernden Kamin. Er war noch keine zwanzig Jahre alt, hatte fuchsrotes Haar und eine dazu passende Haltung. Seine Augen standen dicht zusammen, was ihm einen schlauen, fast verschlagenen Ausdruck verlieh. Er war seinem Vetter Faelan als König von Laigin gefolgt, als dieser vor etwas über einem Jahr an der Gelben Pest gestorben war. Er war hitzköpfig, ehrgeizig und ließ sich, wie Fidelma bei ihrer einzigen bisherigen Begegnung vor einem Jahr festgestellt hatte, aus Arroganz leicht von seinen Beratern verleiten. Fianamail hatte törichterweise ein Komplott geduldet, durch das das Unterkönigreich Osraige der Herrschaft von Cashel entrissen und Laigin angegliedert werden sollte. Fidelma hatte dieses Komplott in einer Gerichtsverhandlung vor dem Großkönig selbst in der Abtei Ros Ailithir aufgedeckt, und danach hatte der Oberrichter des Großkönigs, Barran, entschieden, daß dieses Unterkönigreich im Grenzland zwischen Muman und Laigin für immer unter der Herrschaft von Cashel zu bleiben habe. Über dieses Urteil hatte sich Fianamail damals empört. Jetzt ließ er Scharen von Kriegern aus Laigin im Grenzland Überfälle verüben und plündern und stritt die Verantwortung dafür und das Wissen darum ab. Fianamail war jung und ehrgeizig und wollte sich einen Namen machen.

Als Fidelma eintrat, erhob er sich nicht, wie es die Höflichkeit erfordert hätte, sondern deutete nur flüchtig auf einen Stuhl an der anderen Seite des großen Kamins.

»Ich erinnere mich gut an dich, Fidelma von Cashel«, begrüßte er sie. Kein Lächeln und keine Wärme zeigte sich in seinen scharfen, berechnenden Zügen.

»Ich mich auch an dich«, erwiderte Fidelma mit gleicher Kälte.

»Kann ich dir eine Erfrischung anbieten?« Der junge Mann wies mit lässiger Geste auf einen nahen Tisch, auf dem Wein und Met standen.

Fidelma schüttelte rasch den Kopf. »Die Angelegenheit, über die ich mit dir sprechen möchte, ist dringend.«

»Dringend?« Fianamail hob fragend die Augenbrauen. »Was könnte das für eine Angelegenheit sein?«

»Die Angelegenheit Bruder Eadulfs von Seaxmund’s Ham. Hast du nicht die Botschaften von meinem Bruder erhalten, in denen er die Besorgnis von Cashel ausdrückte und bat .«

Fianamail richtete sich plötzlich auf und zog die Brauen zusammen.

»Eadulf? Der Angelsachse? Ich bekam eine Botschaft, aber ich verstand sie nicht. Warum ist Cashel an dem Angelsachsen interessiert?«

»Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham ist ein Gesandter zwischen meinem Bruder und Theodor von Canterbury«, erklärte sie ihm. »Ich bin hergekommen, um ihn gegen das zu verteidigen, dessen er angeklagt wird.«

Fianamails Lippen öffneten sich leicht, wie aus Freude.

»Ich habe das Verfahren so lange hinausgezögert, wie ich konnte, aus Rücksicht auf deinen Bruder, den König. Leider vergeht die Zeit.«

Fidelma erschauerte. »Wir hörten auf dem Weg ein Gerücht, daß schon gegen ihn verhandelt worden sei. Nach dem Einspruch meines Bruders hätte man doch sicher mit dem Verfahren bis zu meiner Ankunft warten können?«

»Selbst ein König kann ein Gerichtsverfahren nicht unbegrenzt verschieben. Das Gerücht, das du gehört hast, stimmt: Er ist bereits schuldig gesprochen und verurteilt. Es ist alles vorbei. Nun braucht er deine Verteidigung nicht mehr.«

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