Kapitel 14

Es war Mittag, und Eadulf spürte den nagenden Hunger. Es war noch sehr kalt, doch der Reif war verschwunden, und die Morgensonne verbreitete dort eine angenehme Wärme, wo es keinen Schatten gab. Doch das täuschte, denn sobald sich eine Wolke vor die Sonne schob oder ein hoher Baum sie verdeckte, machte sich die Kälte deutlich bemerkbar. Eadulf zog den Mantel um die Schultern zusammen und dankte Gott, daß er daran gedacht hatte, ihn seinem Angreifer abzunehmen.

Er war dem Verlauf des breiten Flusses ungefähr einen Kilometer weit durch ein Tal nach Norden gefolgt, weg von Cam Eolaing, bis der Fluß schmaler wurde. An allen Seiten erhoben sich Berge, schwarze und trotz der fahlen Sonne düstere Gipfel. Ein Stück weiter kam er an eine merkwürdige Wasserkreuzung. Von beiden Seiten, wenn auch nicht genau an derselben Stelle, mündeten zwei schäumende kleine Bächlein in den Fluß. Der eine kam von Südosten, der andere von Westen durch kleine Täler aus den umgebenden Bergen herab.

Eadulf sah sich vorsichtig um, bevor er sich entschloß, eine Weile zu rasten. Er setzte sich auf einen umgestürzten Baum, dessen Stamm im hellen Sonnenlicht lag.

»Jetzt ist es Zeit, sich zu entscheiden«, murmelte er vor sich hin. »In welche Richtung soll ich gehen?«

Wenn er den Fluß überquerte und durch das östliche Tal wanderte, würde er vermutlich irgendwann das Meer erreichen. Es konnte nicht mehr als zehn Kilometer entfernt sein. An der Küste könnte er auf einem Schiff, das in seine Heimat fuhr, in Sicherheit gelangen. Es war sehr verlockend, diesen Weg einzuschlagen, ein Schiff zu finden und Laigin zu verlassen - aber zuallererst dachte er an Fidelma.

Fidelma war in aller Eile von ihrer Pilgerfahrt zum Grab des heiligen Jakobus zurückgekehrt, sobald sie von seinen Schwierigkeiten gehört hatte, und sie war hergekommen, um ihn zu verteidigen. Er konnte sie jetzt nicht verlassen, sie ohne Abschied verlassen, sie in dem Glauben lassen, daß er nicht ... Er stutzte. Im Glauben lassen, daß er was nicht? Die Vielfalt seiner eigenen Gedanken verwirrte ihn. Dann kam er zu einem Entschluß. Fidelma war noch in Fearna. Er hatte keine Wahl, er mußte zurück und sie suchen.

»Ut fata trahunt!« murmelte er und stand auf. Der lateinische Satz bedeutete wörtlich »wie einen das Schicksal zieht« und war das Eingeständnis, daß der Mensch sein eigenes Geschick nur sehr begrenzt bestimmt. Nur so konnte er die Entscheidung erklären, die anscheinend für ihn getroffen worden war.

Er wandte sich um und ging an dem Bach entlang, seinem brausenden Lauf entgegen auf die Berge zu. In ein paar Kilometern Entfernung wurden die Gipfel steiler und schienen eine Barriere zu bilden. Er hatte keinen Plan, er wußte nicht, wie er mit Fidelma in Verbindung treten sollte, wenn er wieder in Fearna war. Ja, nachdem Fidelma von seinem Entweichen aus der Abtei gehört hatte, könnte sie Fearna schon verlassen haben. Dieser Gedanke nagte an ihm. Doch er konnte nicht fort, ohne den Versuch unternommen zu haben, sie zu erreichen. Er überließ es der Gnade des Schicksals.

Dego und Enda wechselten einen besorgten Blick.

Nach dem Frühstück war Fidelma in schweigendes Grübeln verfallen. Die beiden jungen Krieger wurden ungeduldig.

»Was jetzt, Lady?« fragte Dego schließlich laut. »Was sollten wir tun?«

Nach einem Moment bewegte sich Fidelma. Sie schaute Dego mit leerem Blick an, bis sie den letzten Teil seiner Frage erfaßte. Dann lächelte sie ihre Gefährten verlegen an.

»Es tut mir leid«, sagte sie reuig. »Ich bin alles im Geiste durchgegangen, kann aber den Faden nicht finden, der die Ereignisse miteinander verbindet, geschweige denn ein Motiv für die Tötung aller dieser Menschen.«

»Ist es so wichtig, das Motiv zu kennen?« fragte Dego.

»Wenn du das Motiv kennst, findest du im allgemeinen auch den Schuldigen«, bestätigte Fidelma.

»Sind wir nicht gestern abend zu dem Schluß gekommen, daß Gabran anscheinend den Faden bildet?« erinnerte sie Enda.

»Gerade seine Rolle in diesem Geheimnis habe ich versucht zu ergründen.«

»Warum fragen wir Gabran nicht selbst?« entgeg-nete Enda.

Fidelma lachte leise über seine direkte Art.

»Während ich hier meine Zeit damit vergeude, eine gewisse Ordnung in die Vorgänge zu bringen, kommst du geradewegs zur Sache. Du hast mich daran erinnert, daß ich meine eigene Regel außer acht lasse: keine Vermutungen aufzustellen, bevor ich die Tatsachen gesammelt habe.«

Dego und Enda standen rasch gemeinsam auf.

»Dann suchen wir doch den Schiffer, denn je eher wir ihn finden, Lady, desto eher hast du die Tatsachen«, meinte Dego.

Rauch stieg aus einem kleinen Wäldchen ein Stück vor Eadulf auf. Dort mußte jemand ein Feuer unterhalten. Hunger, Kälte und Müdigkeit ließen Eadulf einen Entschluß fassen. Er durchquerte den kleinen Wald und kam dahinter an eine große Lichtung, auf der eine Hütte an einem kleinen Wasserlauf stand. Sie war fest aus Steinen erbaut und hatte ein niedriges Strohdach. Er blieb stehen, denn ihm fiel auf, daß die Lichtung etwas Merkwürdiges an sich hatte. Sie war eben, und man hatte anscheinend alle Hindernisse weggeharkt bis auf schwere Pfähle, die an verschiedenen Punkten um die Hütte herum in ungleichen Abständen von ihr in den Boden getrieben waren. Sie schienen ein Muster zu bilden. An ihren oberen Enden trugen sie Kerben.

Eadulf hatte lange genug in den fünf Königreichen von Eireann gelebt, um zu erkennen, daß die Einkerbungen Zeichen in Ogham waren, der früheren Schrift, die nach Ogma, dem alten Gott der Schreibkunst und Gelehrsamkeit, benannt war. Fidelma konnte diese Schrift leicht lesen, aber er hatte sie nie beherrschen gelernt, denn sie benutzte Wörter, die veraltet und nicht mehr geläufig waren. Er fragte sich, was diese Pfähle bedeuteten. Zuerst hatte er angenommen, er wäre zu einer Holzfällerhütte gekommen, doch hatte er nie eine mit einer solchen seltsamen Anordnung von Pfählen drumherum gesehen.

Er trat ein paar Schritte vor und bemerkte die toten und welken Herbstblätter, die in einiger Entfernung von der Hütte in großer Menge lagen, während eigenartigerweise bis zu diesem Ring alles von Blättern frei gefegt war. Vorsichtig ging Eadulf noch einen Schritt weiter, wobei die Blätter unter seinem Fuß raschelten.

»Wer ist da?« rief eine kräftige Männerstimme, und ihr Besitzer erschien in der Tür der Hütte.

Eadulf sah, daß er mittelgroß war und langes strohblondes Haar hatte. Das Gesicht lag im Schatten der Tür, doch erkannte Eadulf seine muskulöse Kriegergestalt, und die kampfbereite Haltung seines Körpers verstärkte den Eindruck noch.

»Ein frierender und hungriger Mensch«, antwortete Eadulf leichthin und trat einen weiteren Schritt vor.

»Steh still!« fuhr ihn der Mann in der Tür an. »Bleib auf den Blättern.«

Dieser Befehl verblüffte Eadulf. »Ich bin keine Bedrohung für dich«, versicherte er und fragte sich, ob der Mann irgendwie gestört sei.

»Du bist Ausländer - Angelsachse nach deinem Akzent. Bist du allein?«

»Wie du siehst«, antwortete Eadulf mit wachsender Verwunderung.

»Bist du wirklich allein?« beharrte der Mann.

Eadulf wurde ärgerlich. »Traust du denn deinen eigenen Augen nicht?« fragte er spöttisch. »Natürlich bin ich allein.«

Der Mann in der Tür senkte den Kopf ein wenig, und damit schwand der Schatten von seinem Gesicht. Es war ein hübsches Gesicht gewesen, aber eine alte Brandnarbe zog sich über Augen und Brauen.

»Ach so, du bist blind!« rief Eadulf überrascht aus.

Der Mann fuhr zurück.

Eadulf hob eine Hand offen zum Friedenszeichen, erkannte die Sinnlosigkeit der Geste und ließ sie wieder fallen.

»Hab keine Angst. Ich bin allein. Ich bin Bruder ...« Er zögerte. Vielleicht hatte sich sein Name im Lande verbreitet und selbst die Blinden erreicht. »Ich bin ein angelsächsischer Bruder im Glauben.«

Der Mann legte den Kopf schief.

»Du willst mir anscheinend nicht deinen Namen nennen. Warum das?« fragte er scharf.

Eadulf sah sich um. Der Ort schien einsam genug, und dieser Blinde konnte ihm sicherlich keinen Schaden zufügen.

»Ich heiße Bruder Eadulf«, sagte er.

»Und du bist allein?«

»Ja.«

»Was tust du hier allein in dieser Gegend? Sie ist öde und abgelegen. Warum wandert ein angelsächsischer Bruder durch diese Berge?«

»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Eadulf.

»Ich habe viel Zeit«, antwortete der andere grimmig.

»Aber ich bin müde und obendrein hungrig, und ich friere.«

Der Mann zögerte, als fasse er einen Entschluß.

»Ich heiße Dalbach. Dies ist meine Hütte. Du kannst eine Schüssel Suppe haben. Sie ist frisch gekocht, von Dachsfleisch, und ich kann dir Brot und Met dazu reichen.«

»Dachsfleisch? Na, das ist wirklich ein gutes Essen«, meinte Eadulf, der wußte, daß viele Leute in Ei-reann es als Leckerbissen betrachteten. Hatte nicht der alten Sage nach Molling der Schnelle zum Zeichen seiner Hochachtung dem großen Krieger Fionn Mac Cumhail versprochen, ihm ein Gericht Dachsfleisch zu besorgen?

»Beim Essen kannst du mir etwas von deiner Geschichte erzählen, Bruder Eadulf. Geh jetzt weiter, komm gerade auf mich zu.«

Eadulf schritt zu ihm hin, und Dalbach streckte ihm die Hand zum Gruß entgegen. Eadulf nahm sie. Es war ein kräftiger Griff. Der Blinde hielt die Hand fest, hob die andere Hand und strich damit leicht über Ea-dulfs ganzes Gesicht. Das erschreckte Eadulf nicht, denn er erinnerte sich an Moen, den blinden Taubstummen von Araglin, der auch durch Abtasten »sehen« konnte. Er blieb geduldig stehen, bis die Untersuchung beendet war.

»Du bist an die Wißbegierde der Blinden gewöhnt, Bruder Angelsachse«, sagte Dalbach schließlich und ließ die Hand sinken.

»Ich weiß, daß du nur mein Gesicht >sehen< willst«, antwortete Eadulf.

Der Mann lächelte. Es war das erste Mal.

»Dem Gesicht eines Menschen kann man viel entnehmen. Ich traue dir, Bruder Angelsachse. Du hast angenehme Züge.«

»Das ist eine nette Art, den Mangel an Schönheit zu umschreiben«, lachte Eadulf.

»Stört dich das, nicht mit gutem Aussehen gesegnet zu sein?«

Eadulf wurde klar, daß er es mit einem scharfsinnigen Mann zu tun hatte, dem nichts entging.

»Wir sind alle etwas eitel, selbst die Häßlichsten unter uns.«

»Vanitas vanitatum, omnis vanitas«, lachte der Mann.

»Der Prediger Salomo«, bestätigte Eadulf. »Es ist alles ganz eitel.«

»Dies ist mein Haus. Komm herein.«

Damit drehte sich der Mann um und ging in die Hütte. Eadulf war von ihrer Reinlichkeit beeindruckt. Dalbach bewegte sich mit unfehlbarer Sicherheit zwischen allen Hindernissen. Eadulf begriff, daß alle Gegenstände so angeordnet waren, daß er sich ihren Ort merken konnte.

»Leg deinen Mantel auf die Stuhllehne, und setz dich dort an den Tisch«, wies ihn Dalbach an, während er selbst geradewegs zu einem Kessel ging, der über dem Herdfeuer hing. Eadulf zog seinen Schaffellmantel aus. Er sah zu, wie Dalbach geschickt eine Schüssel aus einem Regal nahm und die Suppe einfüllte. Er kam direkt zum Tisch zurück und stellte die Schüssel fast genau vor Eadulf hin.

»Verzeih die Ungenauigkeit«, lächelte er. »Zieh dir die Schüssel heran, und nimm den Löffel, der auf dem Tisch liegen müßte. Da ist auch Brot.«

Das Brot war wirklich da, und Eadulf nahm sich nicht einmal Zeit, ein gratias zu murmeln, sondern langte zu.

»Du hast also nicht gelogen, Angelsachse«, bemerkte Dalbach, als er mit seiner eigenen Schüssel an den Tisch kam. Er hielt den Kopf lauschend geneigt.

»Gelogen?« murmelte Eadulf zwischen zwei Löffeln voll Suppe.

»Du bist wirklich sehr hungrig.«

»Dank deiner Gastfreundschaft, lieber Dalbach, nimmt der Hunger ab, und ich friere auch nicht mehr. Es ist sehr kalt draußen. Gott der Herr muß meine Füße zu deiner Hütte gelenkt haben. Dabei ist dies doch ein sehr abgelegener Ort für ... für einen ...«

»Für einen Blinden, Bruder Eadulf? Scheu dich nicht vor der Bezeichnung.«

»Weshalb hast du dir diesen einsamen Ort zum Wohnen ausgesucht?«

Dalbachs Mund verzog sich zynisch. Der Gesichtsausdruck paßte nicht zu ihm.

»Der Ort hat mehr mich ausgesucht als ich ihn.«

»Das verstehe ich nicht. Ich hätte gedacht, das Leben in einer Stadt oder einem Dorf wäre leichter für dich; da hättest du andere Leute in der Nähe, falls du Hilfe brauchst.«

»Es ist mir verboten, dort zu wohnen.«

»Verboten?«

Eadulf sah seinen Gastgeber beunruhigt an. Er wußte, daß bei seinem eigenen Volk es häufig Leprakranken untersagt war, in Städten und Dörfern zu wohnen. Doch Dalbach litt offensichtlich nicht an der Lepra.

»Ich bin ein Verbannter«, erklärte Dalbach. »Geblendet, aus meinem Volk ausgestoßen und mir selbst überlassen.«

»Geblendet?«

Dalbach hob die Hand zu der Narbe quer über seinen Augen und lächelte bitter.

»Du glaubst doch nicht, daß ich so geboren wurde, Bruder Eadulf?«

»Wie wurdest du geblendet und warum?«

»Ich bin der Sohn Crimthanns, der vor dreißig Jahren in diesem Königreich herrschte. Als er starb, beanspruchte sein Vetter Faelan die Krone ...«

»Der König von Laigin, der im vorigen Jahr starb und nach dem der junge Fianamail auf den Thron kam?«

Dalbach neigte den Kopf.

»Ich weiß, daß die Thronfolge bei euch Angelsachsen ganz anders geregelt ist. Kennst du unser Brehon-Gesetz über die Thronfolge?«

»Ja. Der am besten geeignete Mann aus der Königsfamilie wird von seinen derbhfine zum König gewählt.«

»Genau. Die derbhfine bilden das Wahlkollegium der Familie, drei Generationen von einem gemeinsamen Urgroßvater. Ich war damals noch ein junger Mann, ein Krieger, und hatte erst kurz zuvor das Alter der Wahl erreicht. Faelan fühlte sich sicher, nachdem er gewählt war, doch im Laufe der Jahre wurde er von der Vorstellung besessen, seine Herrschaft könnte ange-fochten werden, und er meinte, der einzige, der dazu in Lage wäre, das wäre ich. So ließ er mich eines Nachts gefangennehmen und mir ein glühendes Schüreisen auf die Augen legen, um mir einen Makel zuzufügen, der die derbhfine davon abhalten würde, mich ernsthaft für ein Amt im Königreich in Erwägung zu ziehen. Dann wurde ich hinausgejagt und mir selbst überlassen, und es wurde mir untersagt, in irgendeiner Stadt oder einem Dorf im Königreich Laigin zu wohnen.«

Bruder Eadulf war von Dalbachs Geschichte nicht überrascht. Er wußte, daß so etwas vorkam. In den angelsächsischen Königreichen, in denen nach dem Gesetz der älteste männliche Nachkomme auf den Thron folgte, wurde der Kampf um Thron und Macht mit der gleichen Brutalität geführt. Brüder erschlugen einander, Mütter vergifteten Söhne, Söhne ermordeten Väter, und Väter töteten Söhne oder kerkerten sie ein. In den fünf Königreichen von Eireann genügte ein körperlicher Makel, um jemanden vom Königtum auszuschließen, folglich war hier die Brutalität nicht so schlimm wie bei den Angelsachsen, wo ein Kandidat gleich umgebracht werden mußte.

»Es muß schwer gewesen sein, sich auf dieses Leben einzustellen, Dalbach«, meinte Eadulf mitfühlend.

Der Blinde schüttelte den Kopf.

»Ich habe Freunde, die mir helfen, und sogar Verwandte. Einer meiner Vettern ist Mönch in Fearna, und er bringt mir häufig Essen und Geschenke, wenn er auch nicht viel spricht. Meine Freunde und Verwandten haben mir geholfen, mit allem fertig zu werden. Faelan ist jetzt tot, und es besteht keine Gefahr mehr. Außerdem führe ich ein interessantes Leben.«

»Interessant?«

»Ich habe das Schwert beiseite gelegt und verfasse Gedichte, und ich spiele auch die cruit, die kleine Harfe. Ich bin mit meinem Leben ganz zufrieden.«

Zweifelnd betrachtete Eadulf den Körperbau des Mannes.

»Solche Muskeln bekommt man aber nicht vom Harfespielen, Dalbach.«

Dalbach schlug sich aufs Knie und lachte.

»Du hast einen scharfen Blick, Bruder. Es stimmt, ich mache noch meine Übungen, denn in dieser Lage muß der Körper stark bleiben.«

»Das ist wahr ... ach so!«

Bei diesem plötzlichen Ausruf Eadulfs hob der Blinde fragend den Kopf.

»Was ist?«

Eadulf lächelte verlegen.

»Mir ist gerade aufgegangen, was die Ogham-Pfähle um deine Hütte herum bedeuten. Sie leiten dich, nicht wahr?«

»Du beobachtest wirklich gut, Bruder Eadulf«, bestätigte der andere anerkennend. »Wenn ich auf der Lichtung umhergehe, kann ich an den Pfählen erkennen, in welcher Himmelsrichtung ich mich bewege, und sie leiten mich zurück zur Hütte.«

»Das ist eine sinnreiche Erfindung.«

»Man wird erfinderisch in solcher Lage.«

»Und bist du nicht verbittert? Ich meine gegen Fae-lan, der dir dies Schreckliche angetan hat?«

Dalbach überlegte, dann zuckte er die Achseln.

»Ich glaube, die Bitterkeit ist verflogen. War es nicht Petrarca, der schrieb, daß nichts Sterbliches ewig währt ...?«

». und daß es nichts Süßes gibt, das nicht einmal in Bitterkeit endet«, ergänzte Eadulf.

Dalbach lachte erfreut.

»Na ja, ich gebe zu, ein paar Jahre lang dachte ich mit Erbitterung an Faelan. Aber wenn ein Mensch stirbt, was hat es dann für einen Sinn, ihn weiter zu hassen? Jetzt regiert der Enkel meines Onkels Ronan Crach das Land. So geht es eben.«

»Du meinst Fianamail? Ist er dein Vetter?«

»Die Ui Cheinnselaigh sind alle Vettern.«

»Und stehst du deinem Vetter Fianamail nahe?« erkundigte sich Eadulf vorsichtig.

Dalbach hatte Eadulfs Vorsicht sofort bemerkt.

»Er kümmert sich nicht um mich, und ich kümmere mich nicht um ihn. Er hat nichts getan, um mich für mein Leid zu entschädigen. Warum scheust du dich vor ihm, Bruder Eadulf?«

Eadulf war überrascht von der Frage. Wieder wurde ihm klar, daß ihm jemand gegenübersaß, der jede kleine Nuance erfaßte und zu deuten wußte. Trotzdem vertraute er diesem Blinden.

»Er wollte mich hinrichten lassen«, sagte Eadulf, der es für das beste hielt, die Wahrheit nicht zu verschweigen.

Dalbachs Miene schien sich nicht zu verändern. Er saß einen Moment schweigend da, dann seufzte er leise.

»Ich habe von dir gehört. Du bist der Angelsachse, der wegen Vergewaltigung und Tötung eines jungen Mädchens gehängt werden sollte. Dein Name kam mir bekannt vor, und wohl deshalb wolltest du ihn erst nicht nennen.«

»Ich habe es nicht getan«, erwiderte Eadulf rasch. Dann merkte er, daß es ihn eigentlich überraschen sollte, daß Dalbach von ihm wußte. »Ich schwöre, daß die Beschuldigung unwahr ist.«

Der Blinde schien zu ahnen, was er dachte.

»Ich wohne an einem einsamen Ort, aber das heißt nicht, daß ich allein bin. Ich sagte dir schon, daß ich Freunde und Verwandte habe, die mir Nachrichten bringen. Wenn du nicht schuldig bist, warum wurdest du dann verurteilt?«

»Vielleicht aus demselben Grunde, aus dem du zur Blindheit verurteilt wurdest. Furcht ist ein starkes Motiv für ungerechte Taten. Ich kann nur sagen, daß ich es nicht getan habe. Ich gäbe alles darum, zu erfahren, welche Gründe zu der falschen Anklage geführt haben.«

Dalbach lehnte sich nachdenklich zurück.

»Es ist seltsam, wie der Verlust eines Sinnes die anderen schärft. Es liegt etwas im Klang deiner Stimme, Bruder Eadulf, das von Aufrichtigkeit zeugt. Vielleicht schmeichle ich mir, aber ich glaube zu wissen, daß du nicht lügst.«

»Dafür danke ich dir, Dalbach.«

»Also bist du deinen Feinden entkommen? Zweifellos suchen sie nach dir. Willst du zur Küste und in dein eigenes Land fliehen?«

Eadulf zögerte, und Dalbach setzte rasch hinzu: »Ach, du kannst mir vertrauen. Ich werde deine Pläne nicht verraten.«

»Das ist es nicht«, erwiderte Eadulf. »Ich hatte daran gedacht, mich zur Küste zu wenden. Aber der beste Weg für mich ist es, hierzubleiben und zu versuchen, die Wahrheit herauszubekommen. Das habe ich auch vor.«

Dalbach schwieg einen Moment.

»Das ist ein mutiger Entschluß. Du hast meinen ersten Eindruck von deiner Unschuld bestätigt. Hättest du mich gebeten, dir zum Erreichen der Küste zu verhelfen, wäre ich sofort mißtrauisch geworden. Doch wie kann ich dir helfen, im Lande zu bleiben und nach der Wahrheit zu forschen?«

»Ich muß nach Fearna zurück. Es gibt . dort gibt es jemanden, der mir helfen wird.«

»Und das ist Schwester Fidelma von Cashel?«

Eadulf war total verblüfft. »Woher weißt du das?«

»Von dem Vetter, den ich schon erwähnte. Ich habe viel von Fidelma von Cashel gehört. Es war ihr Vater, Failbe Fland, der König von Muman, der in der Schlacht von Ath Goan am Iarthar Life meinen Vater erschlug, als er mit Faelan verbündet war.«

Er sagte es ohne Groll, doch Eadulfs Erstaunen wuchs.

»Fidelmas Vater? Aber er starb, als sie noch ein Kleinkind war.«

»Allerdings. Die Schlacht von Ath Goan fand vor mehr als dreißig Jahren statt. Mach dir keine Sorgen, Bruder Eadulf. Mit Schlachten zwischen meinem Vater und seinen Feinden habe ich nichts mehr zu tun. Es gibt keine Feindschaft zwischen mir und den Nachkommen von Failbe Fland.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Eadulf erleichtert.

»Also müssen wir einen Weg finden, mit dieser Fidelma von Cashel in Verbindung zu treten«, meinte Dalbach. »Hast du einen Plan?«

Eadulf zuckte die Achseln und merkte dann, daß die Geste zwecklos war.

»Ich habe keinen, außer daß ich nach Fearna zurück will und sehen, ob sie noch dort ist. Das Problem ist, daß ich sehr bald auffallen würde. Selbst in diesem Mantel würde ich kaum lange unerkannt bleiben mit meiner Kutte und meiner Petrus-Tonsur und meinem angelsächsischen Akzent.«

Plötzlich erscholl in der Nähe ein Jagdhorn. Der unerwartete Ton ließ Eadulf zusammenfahren.

»Erschrick nicht, Bruder Eadulf«, beruhigte ihn Dalbach und stand auf. »Es ist wahrscheinlich mein Vetter. Ich erhielt die Nachricht, daß er vermutlich heute oder morgen vorbeikommen und mir Geschenke bringen wolle.«

Eine Gestalt erschien unter den Bäumen und blieb am Rande der Lichtung vor der Hütte stehen.

Eadulf warf einen Blick aus dem Fenster und schoß in die Höhe, so daß sein Stuhl nach hinten flog. Er hatte ohne Mühe den kleinen, drahtigen Mann mit dem spitzen Gesicht erkannt, der ihn am frühen Morgen in der Burg Cam Eolaing aus dem Bett geholt hatte. Es war genau der Mann, der ihn angeblich freilassen wollte und dann versuchte, ihn niederzuschießen, ihn zu töten.

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