Kapitel 9

Da ich unverhofft zu einem Fahrer gekommen war, konnte ich mir auf dem Weg nach Huntingdon Notizen für die anstehenden Proben machen und über meine zweite Unterhaltung mit Howard nachdenken. Er war in seinem Zimmer gewesen, als ich mit O’Hara zurückkam, und hatte einem Gespräch in meiner Suite widerwillig zugestimmt.

»Howard«, begann ich, »Ihr Name ist mit dem Film ein für allemal verbunden. Sie können glänzend schreiben. Ob Sie mit der Handlung einverstanden sind oder nicht, die Worte im Film sind weitgehend Ihre, und danach wird man Sie beurteilen.«

»Einige Dialoge sind von Ihnen«, wandte er ein.

»Ihre sind mir lieber. Ich schreibe nur, was Sie nicht schreiben wollen.«

Er konnte mich zwar böse anstarren, aber nichts dagegen sagen.

»Also«, fuhr ich sachlich fort, »schreiben Sie jetzt bitte eine Szene, die darauf hindeutet, daß die Tote als Hexe aufgehängt worden sein könnte.«

Er war empört. »Sie war doch keine Hexe.«

»Woher wissen Sie das?«

»Sie war Audrey Visboroughs Schwester!«

Und deshalb, seinem Tonfall nach, über jeden Zweifel erhaben.

»Denken Sie drüber nach, Howard. Legen Sie den Gedanken jemanden in den Mund. In den Kopf. Vielleicht braucht nur ein Zeitschriftenartikel ins Bild zu kommen. Schlagzeile >Gibt es noch Hexerei?<. Irgend so etwas. Es darf aber keine Szene im Untersuchungsraum des Jockey Clubs sein. Der ist schon abgerissen.«

Howard wirkte nicht abgeneigt - er sah sogar interessiert aus.

»In Wirklichkeit hieß sie Sonia«, sagte ich.

»Ja, ich weiß.«

»Haben die Visboroughs Ihnen das gesagt?«

»Ja, sicher!« hatte er sie aufbrausend in Schutz genommen. »Sie waren alle sehr hilfsbereit.«

Ich unterließ es, darauf hinzuweisen, daß der Drumbeat alles andere als hilfreich gewesen war, und wir trennten uns in Frieden.

Mein Regieassistent Ed, der normalerweise selbst einen Assistenten hatte, arbeitete jetzt wie bei Massenszenen üblich mit mehreren Unterassistenten. Die in erfreulich großer Zahl zur Rennbahn geströmten Einwohner Hun-tingdons wurden von Ed aufgeteilt, stationiert und bei Laune gehalten, denn wie er wußte und seinen Helfern gleich mitgeteilt hatte, lautete mein ausdrücklicher Wunsch, daß die Leute zufrieden sein sollten, damit sie am nächsten und am übernächsten Tag gern wiederkamen. Vergnügen hieß die Devise. Amüsieren sollten sie sich. Nash - ja, Nash persönlich - würde dann und wann Autogramme geben. Der Rennverein in Huntingdon hatte sich freundlich und entgegenkommend gezeigt. Verträge, Bezahlung, Versicherung, Sicherheitsvorkehrungen, Polizei, all das war geregelt. Vorausgesetzt, daß wir bis Freitag fertig wurden und die Rennbahn wieder räumten, würden sie uns freie Hand lassen. Anfallende Platzarbeiten konnten dann erledigt werden, bevor sie die Tore zur nächsten regulären Austragung am Montag öffneten.

Unsere Pferde, unsere Jockeys, unser Publikum, unser Drama mußten praktisch bis zum späten Donnerstagnachmittag im Kasten sein. Knapp, aber möglich.

Ich betete, daß es keinen Regen gab.

Ed wählte Leute aus, die als Besitzer-und-Trainer-Gruppen im Führring beieinanderstehen sollten. Andere wurden als Schaulustige ringsherum gestellt. Echte Hindernisjockeys erschienen in Rennfarben im Führring und verteilten sich auf die Gruppen. Es waren keine absoluten Topjockeys, aber gewiefte, erfahrene Profis, und sie wurden gut bezahlt. Unsere Pfleger führten die mit Sattel, Decke und Nummerndecke ausstaffierten Pferde herum. Allmählich sah es schon aus wie ein Renntag.

Die echte Version würden wir allerdings gesondert am kommenden Montag filmen; da sollte Ed vollbesetzte Tribünen, hin und her drängende Zuschauermassen und quotenausrufende Buchmacher in der Totale aufnehmen. Mit unseren eigenen Szenen gemischt, würden die Nahtstellen zwischen dem Echten und dem Gestellten nicht sichtbar sein - wenn es nicht regnete.

Cibber stand mit seiner Frau (Silva) im Führring, und ich postierte Nashs Double in leicht von bösen Blicken zu überwindender Entfernung. Moncrieff rollte seine Kamera auf einem Dolly umher, um einen architektonisch interessanten Hintergrund zu bekommen. Das alles brauchte wie immer seine Zeit, aber ich schickte die Einheimischen so bald wie möglich nach Hause. Langeweile hieß mein Feind; wer sich langweilte, kam nicht wieder. Alle Kinder erhielten zum Abschied einen Gasballon (UNSICHERE

ZEITEN in blauer Schrift auf Silber), und wir dankten ihnen fröhlich.

Die Jockeys waren aufgefordert worden, zur Instruktion im Führring zu bleiben. Jetzt standen sie dort steif vor mir und wirkten mürrisch und mißtrauisch.

Darüber verwundert sagte ich: »Tun Sie einfach so, als wäre morgen ein normales Rennen. Machen Sie alles genauso wie sonst auch auf dem Weg zum Start.«

Einer von ihnen unterbrach mich fast aggressiv: »Stimmt es, daß Sie mal als Amateur geritten sind?«

»Ja, drei Jahre.«

»Warum haben Sie aufgehört?«

Ich runzelte die Stirn. Es stand ihnen nicht zu, solche Fragen zu stellen, schon gar nicht wie im Verhör, aber da ich auf ihre Mitarbeit angewiesen war, sagte ich gelassen: »Ich bin nach Hollywood gegangen, um Filme über Pferde zu machen.«

Stille.

»Was ist los?« fragte ich.

Nach langen Sekunden sagte einer von ihnen: »Da steht was über Sie im Drumbeat...«

»Aha.«

Mir ging ein Licht auf. Ich sah in die unbewegten, durchweg sehr zynischen Gesichter. Diese Jockeys sollten sich am nächsten Tag die Seele aus dem Leib reiten, und es war sonnenklar, daß sie das nicht tun würden.

Wie seltsam, dachte ich. Gegenüber dem Filmteam hatte ich meine angekratzte Autorität ohne große Mühe wiederherstellen können, und ausgerechnet bei diesen Männern hier, die ich doch zu kennen meinte, hatte ich sie eingebüßt. Ich fragte, ob sie sich das Lincoln angeschaut und mein Gespräch mit Greg Compass gesehen hätten. Nein, keiner von ihnen. Sie hatten arbeiten müssen, sagten sie. Sie hatten Rennen geritten.

Ich sagte: »Wenn hier jemand Zweifel hat, ob er morgen für mich in die vollen gehen soll, trete ich auf der Stelle gegen ihn an.«

Ich hatte nicht vorgehabt, so etwas zu sagen. Einmal gesagt, ließ es sich nicht zurücknehmen.

Sie machten große Augen.

Ich sagte: »Ich bin weder unfähig noch ein Hanswurst noch ein Tyrann. Zeitungen lügen. Das ist Ihnen doch sicher nicht neu.«

Sie entspannten sich ein wenig, und etliche schauten jetzt auf ihre Stiefel statt in mein Gesicht, aber einer knöpfte langsam und wortlos sein leuchtend grünweiß gestreiftes Hemd auf. Er zog es aus und hielt es mir hin. Darunter trug er den üblichen dünnen blauen Pullover und eine weiße Halsbinde.

Ich nahm das Funksprechgerät vorn Gürtel und rief Ed.

»Wo sind Sie?« fragte ich.

»Im Stall.«

»Gut. Schicken Sie bitte drei Pferde mit Rennsätteln und Zaumzeug rüber, jedes von einem Pfleger geführt.«

»Klar. Welche drei?«

»Die drei schnellsten«, sagte ich. »Und treiben Sie unseren Arzt auf. Er soll zum Führring kommen.«

»Sie brauchen nicht den Helden zu markieren«, sagte einer der Jockeys. »Wir haben schon kapiert.«

Aber derjenige, der seine Farben abgelegt hatte, hielt sie mir immer noch herausfordernd hin.

Ich öffnete den Reißverschluß meiner Windjacke, zog sie aus und warf sie ins Gras. Ich zog meinen Pullover aus, knöpfte mein Hemd auf und warf beides hinterher. Ich trug zwar kein Trikot darunter, spürte aber den Wind, die Kälte nicht auf der blanken Haut - zu viel ging mir im Kopf herum. Ich legte die grünweißen Streifen an und wies auf die Halsbinde. Stumm wurde sie mir gereicht, und ich dankte meinen Sternen, daß ich noch wußte, wie man sie umband.

Da wir an diesem Nachmittag nur eine Stellprobe gemacht hatten, unberitten, hatte niemand eine Peitsche dabei, und keiner der Jockeys trug die übliche Sicherheitsweste, die gestürzte Reiter vor Pferdehufen schützte. Niemand wies darauf hin. Ich knöpfte das Hemd zu, stopfte es mir in die Hose, und man gab mir eine scharlachrote Sturzkappe.

Ed tauchte in der Ferne mit drei Pferden auf.

Moncrieff erschien plötzlich an meiner Seite und fragte: »Was zum Teufel haben Sie vor?«

»Einen kleinen Ausritt.«

Ich setzte die Kappe auf und ließ den Riemen hängen.

»Das geht doch nicht!«

»Filmen Sie es bitte nicht, falls ich stürze.«

Moncrieff warf die Arme hoch und appellierte an die Jockeys. »Das dürfen Sie nicht zulassen. Halten Sie ihn davon ab.«

»Sie haben den Drumbeat gelesen«, sagte ich knapp, »und wir hätten morgen doch gern ein Superrennen, oder nicht?«

Moncrieff verstand zwar, brummte unnützerweise aber etwas von Versicherung, von Bossen, von O’Hara und was aus dem Film werden sollte, wenn ich mir den Hals brach.

»Seien Sie doch still«, sagte ich.

»Thomas!«

Ich grinste ihn an. Zu den Jockeys sagte ich: »Vielleicht haben zwei von Ihnen Lust, mit mir um die Wette zu reiten. Gegen alle kann ich leider nicht antreten, morgen startet ja das ganze Lot, und dann brauchen wir frische Tiere. Also nur zwei. Wir gehen eine Runde über die Hindernisse, nicht die Hürden, vorausgesetzt, daß niemand unbefugt auf der Bahn herumläuft.«

Schweigen.

Insgeheim belustigt wartete ich, bis Ed mit den Pferden herangekommen war und den Schreck ob meiner eindeutigen Kleidung überwunden hatte.

»Ed, Sie stellen sich mit einem Wagen auf den Weg neben der Bahnbegrenzung«, ich zeigte ihm, wohin, »und fahren hinter uns her. Nehmen Sie den Arzt mit, falls einer von uns stürzt.«

Ich wies mit dem Finger auf ihn. »Da kommt er ja. Na also.«

Ed sah fassungslos zu. Ich schnallte das Walkie-Talkie und mein Mobiltelefon vom Gürtel los und gab ihm beides zur Aufbewahrung.

»Das darf doch nicht wahr sein«, sagte Moncrieff.

Ein Jockey meinte: »Es kann uns die Lizenz kosten, wenn wir gegen Sie reiten.«

»Kann es nicht«, widersprach ich. »Die Filmgesellschaft hat Sie engagiert, und Sie sind zu einer Probe hier. Wir haben die Zusage aller maßgebenden Stellen, daß Sie auf der Bahn reiten dürfen. Sie tun es nur einen Tag früher als geplant. Der Arzt, den wir Ihnen vertraglich zugesichert haben, ist auch da. Wer kommt mit?«

Sie waren schon nicht mehr ganz so feindselig, aber ich hatte den Fehdehandschuh aufgenommen und ihn ihnen vor die eigenen Füße geknallt, und das konnten sie schlecht hinnehmen. Zwei von ihnen gingen zu den Pferden und überließen mir das dritte.

»O’Hara bringt Sie um!« meinte Moncrieff zu mir.

Es traf sich, daß sie mir das Pferd überließen, das Silva am Morgen vorher geritten hatte, unbestreitbar das schnellste in unserem Lot. Ich hatte es oft im Kanter geritten, und seiner Biographie nach mußte es wissen, wie man springt.

»Sie haben keine Reithose und keine Stiefel«, sagte Ed mit einem verdutzten Blick auf meine braunen Schuhe und die normale Hose.

»Das ist dem Pferd egal«, sagte ich. Eine gewisse Lok-kerheit war unter diesen Umständen nicht zu verachten.

Der Pfleger des Pferdes warf mich rauf, wie er es schon oft getan hatte. Ich zog den Gurt an, schnallte die Bügel länger und zurrte meine Kappe fest.

Die beiden Jockeys, die mich beim Wort nahmen, saßen auf und waren startbereit. Ich lachte in den Kreis der anderen Gesichter hinein, die mit einemmal besserer Laune waren.

»Was seid ihr doch für eine Saubande«, sagte ich und bekam mehr als ein Grinsen dafür.

Da die Tore nicht verschlossen waren, gingen wir ungehindert mit den Pferden zur Bahn. Es war ein Rechtskurs von anderthalb Meilen, mit. neun verschiedenen Hindernissen dazwischen. Elf Jahre hatte ich kein Rennen mehr geritten. Ich war verrückt. Ein tolles Gefühl.

Scheußliche lange Wörter wie Pflichtvergessenheit drangen Würmern gleich in die vernünftigeren Zonen meines Denkens vor. Immerhin trug ich die Verantwortung für einen Multimillionendollarfilm. Bei allem Übermut wußte ich, daß das Souffle, an dem ich bastelte, in sich zusammenfallen würde, wenn jemand den Geldhahn abdrehte.

Trotzdem kam es mir so vor, als wäre ich vor langer Zeit nach einer viel zu kurzen Jugend alt geworden. Ungefähr drei Minuten lang wollte ich noch mal Teenager sein.

Ed, der Wagen und der Arzt folgten uns auf die Bahn.

Einer meiner Gegner fragte mich: »Wie schwer sind Sie?«

»Schwer genug, daß es mich entschuldigt, wenn ich verliere.«

»Von wegen«, sagte er, und damit richtete er sein Pferd nach vorn aus und stieß ihm die Fersen in die Seiten.

Ich setzte ihm sofort nach. Es hieß jetzt oder nie, und ich spürte, wie die alte kontrollierte Verwegenheit Geist und Körper durchflutete, als hätte ich nie etwas anderes gekannt.

Ihrer Farben wegen sah ich den Mann vor mir als Blau, den Mann hinter mir als Rot an. Wir hatten die leuchtenden Hemden eigens für den Film anfertigen lassen, bedacht auf optische Wirkung und Unterscheidbarkeit, und die Kostümleute hatten gute Arbeit geleistet.

Blau und Rot waren jünger als ich und hatten die Jok-keylaufbahn noch nicht eingeschlagen, als ich von ihr abgekommen war. Ich merkte gleich, daß sie nicht geneigt waren, irgendwelche Zugeständnisse zu machen, und sonst wäre das ganze Unternehmen ja auch zwecklos gewesen. Ich grub einfach in meinem Gedächtnis nach der Technik, die mir früher im Blut gelegen hatte, und schätzte den Gang meines Pferdes vor dem ersten Sprung mit einer Routine ab, die ich längst vergessen zu haben glaubte.

Alles war Tempo und Stille. Keine Frotzelei, kein Fluchen von den anderen. Nur der Huf schlag und das Wischen durchs dunkle Reisig der Hindernisse. Nur die grimmige Entschlossenheit und die alte Begeisterung.

Mein Gott, dachte ich mitten im Flug, warum hab ich das bloß aufgegeben? Aber ich wußte, warum. Mit neunzehn war ich zu groß gewesen und zu schwer geworden und hatte das »Gewichtmachen« durch Hungern und Schwitzen nicht mehr vertragen.

Eine halbe Meile und zwei Sprünge später spürte ich die ersten Anzeichen mangelnder Fitneß in meinen Muskeln und dachte daran, daß Blau und Rot seit mehreren Monaten in Wettkampfform waren. Das Tempo, das ihnen leichtfiel, kostete mich meine ganze Kraft. Wir waren durch den Bogen gekommen und lagen eingangs der langen Gegengeraden alle drei noch gleichauf, bevor ich mir ernsthaft überlegte, daß ich ein Narr, zumindest aber tolldreist gewesen war, diesen Zirkus in Gang zu setzen, und bei den nächsten vier dicht aufeinanderfolgenden Sprüngen konzentrierte ich mich hauptsächlich darauf, mein Gewicht möglichst weit vorn zu halten.

Aerodynamisch am günstigsten fürs Tempo ist es, wenn der Schwerpunkt des Reiters über der Vorhand des Pferdes liegt, aber bei einem Rumpier kann der Jockey in dieser Haltung sehr leicht nach vorn katapultiert werden. Die Alternative besteht darin, daß man das Tempo vor dem Sprung reduziert, sich zurücksetzt, die Zügel durch die Finger gleiten läßt und vielleicht noch einen Arm hochwirft, um vor der Landung die Balance zu halten. Am gewohnheitsmäßig erhobenen Arm, dem sogenannten »Taxiruf«, erkennt man den Amateur. Ging der Arm einmal hoch, war es nicht zu ändern, aber fünf oder sechs Armschwünge hätten mir Mitleid eingetragen, und darauf war ich nun wirklich nicht aus. Ich würde in Huntingdon mit vorgelagertem Gewicht über die Sprünge gehen, und wenn es mich umbrachte.

Was durchaus möglich war.

Mit diesem sarkastischen Gedanken, mit strapazierten Muskeln und pumpender Lunge erreichte ich den langen Einlaufbogen: noch zwei Sprünge, dann die Gerade und das Ziel.

Als erfahrene Jockeys, die sie waren, hatten Rot und Blau bis zum Schlußbogen gewartet, bevor sie voll auf die Tube drückten. Entschlossen, mich nicht schmählich abhängen zu lassen, beschleunigte ich mit ihnen, und mein Pferd reagierte wie die meisten Vollblüter mit dem angeborenen Drang, seinen Kopf in Front zu bringen.

Ich wußte nicht, wie es bei den anderen war, aber ich flog über die letzten beiden Hindernisse, als ginge es um den Sieg im Grand National; es genügte dann trotzdem nicht. Wir endeten ausgequetscht in der Reihenfolge Rot, Grün und Blau, mit einer halben Länge zwischen dem Ersten und dem Zweiten und einer halben zwischen dem Zweiten und dem Dritten.

Wir hielten an und trabten zum Tor zurück. Ich konnte mich kaum noch oben halten. Ich atmete in tiefen Zügen durch die Nase, hatte ich doch schon so manchem Schauspieler gesagt, daß es das sicherste Anzeichen von Erschöpfung war, wenn man mit offenem Mund nach Luft schnappte.

Blau und Rot vorneweg, stießen wir wieder zu den anderen Jockeys. Es wurde nicht viel gesprochen. Wir saßen ab und übergaben die Zügel den Pflegern. Ich spürte meine Finger zittern, als ich die Kappe losband, und hoffte daß die Jockeys es nicht sahen. Ich nahm die Kappe ab, gab sie dem Mann wieder, der sie mir geborgt hatte, und wischte mit dem Daumen den Schweiß aus meiner Stirn. Immer noch war nur halblautes Gemurmel zu hören. Ich knöpfte den gestreiften Dreß auf, zwang meine Hand zur Ruhe und fummelte dennoch zu lange mit der Halsbinde herum. Mein Zwerchfell hatte sich noch nicht beruhigt, als ich Hemd und Binde zurückgab und mir meine eigenen Sachen von jemand geben ließ, der sie vom Gras aufgehoben hatte. Zu schlapp, um sie anzuziehen, hielt ich sie einfach über dem Arm.

Da ich den Eindruck gewann, daß wir alle eher verlegen waren als sonst etwas, bemühte ich mich um einen leichten Ton.

»Okay!« sagte ich. »Morgen also? Treten Sie an?«

Blau sagte: »Ja«, und die anderen nickten.

»Prima. Bis dann.«

Ich brachte ein echtes, wenn auch nur matt strahlendes Lächeln zustande und wandte mich ab, um zu Moncrieff, dem krummen Hund, hinüberzugehen, der so tat, als hätte er nicht die ganze Zeit eine Videokamera auf der Schulter gehabt.

Eine Stimme hinter mir rief: »Mr. Lyon.«

Ich blieb stehen und drehte mich um. Mr. Lyon, hört, hört. Eine Überraschung.

Der mit den grünweißen Streifen sagte: »Sie haben uns Ihren Standpunkt klargemacht.«

Ich steigerte mein Lächeln, winkte mit der Hand und stapfte übers Gras zu Moncrieff.

»Scheiße«, sagte er.

»Ganz und gar nicht. Jetzt kriegen wir morgen vielleicht ein klasse Rennen. Die möchten doch nicht hinter einem schwachbrüstigen Amateur zurückstehen.«

»Ziehen Sie Ihr Hemd an, Sie holen sich ja den Tod.«

Aber das Genick hatte ich mir nicht gebrochen, dachte ich und fühlte mich erhitzt, erschöpft und überglücklich.

Ed gab mir mein Mobiltelefon zurück und sagte, während er um die Bahn gefahren sei, habe O’Hara angerufen und wissen wollen, wo ich steckte.

»Was haben Sie ihm gesagt?« fragte ich.

»Daß Sie gerade reiten. Sie sollen ihn zurückrufen.«

»Gut.«

Ich ging zu meinem Wagen und dem Fahrer und rief O’Hara an. Er hatte sich offenbar mit Howard befaßt, der jetzt von dem Hexerei-Aspekt begeistert war und ihn verstärkt herausarbeiten wollte. Die Szenen flossen ihm nur so aus der Feder.

»Na gut«, sagte ich, »aber zügeln Sie ihn. Hexen hängen sich nicht selber auf, und wir haben immer noch keinen, der den Mord begeht.«

»Wie immer«, meinte O’Hara trocken, »legen Sie den Finger auf den wunden Punkt.«

Er hielt kurz inne. »Howard hat mir gesagt, wo Alison Visborough lebt.«

»Wie haben Sie denn das geschafft? Ein Abkommen getroffen?«

»Es kann sein«, erwiderte O’Hara steif, »daß wir nicht den letzten Cent aus ihm herauspressen.«

Ich lächelte.

»Fahren Sie jedenfalls mal zu ihr. Es ist irgendwo in Leicestershire.«

»Wann denn? Wir drehen morgen den ganzen Tag.«

»Hm, jetzt. Howard hat sie angerufen. Sie erwartet Sie.«

»Jetzt? Kann das nicht jemand anders machen?«

Ich war seit vier Uhr früh auf den Beinen; inzwischen war es zwanzig vor fünf am Nachmittag, und ich brauchte eine Dusche und fühlte mich, um es milde auszudrücken, geschlaucht. Leicestershire lag viele Kilometer in der falschen Richtung.

O’Hara sagte: »Ich dachte, Sie wären daran interessiert, sie kennenzulernen, und ihre Mutter lebt auch bei ihr.«

»Die Audrey?«

O’Hara bestätigte es. »Die Frau, die Silva im Film darstellt.«

»Hm... das interessiert mich schon. Gut, ich fahre. Und die Anschrift?«

Er gab sie mir durch, die Telefonnummer eingeschlossen. »Howard erweist sich als ausgesprochen hilfsbereit.«

»Das kann ich mir denken.«

O’Hara wechselte das Thema. »Ed sagte, Sie seien geritten?«

Belustigt über die verschlüsselte Frage, antwortete ich: »Ich bin mit zwei von den Jockeys um die Bahn geritten, damit sie sehen, was morgen Sache ist.«

»Seien Sie vorsichtig.«

»Klar«, sagte ich. »Immer.«

Wir verabschiedeten uns, und ich führte im Weitergehen noch ein Telefongespräch, diesmal mit Robbie Gill.

»Thomas Lyon«, sagte ich, als er sich meldete. »Wie geht’s meinem Mädchen?«

»Sie ist noch auf der Intensivstation. Ich habe mit ihrem Arzt Verbindung aufgenommen. Er hat sie transportunfähig geschrieben, zumindest solange sie Infusionen braucht. Auf jeden Fall noch zwei, drei Tage. Ich kann ihren Sohn nicht ausstehen. So ein Stinkstiefel!«

»Was hat er gemacht?«

»Die Schwestern drohen mit einem Aufstand. Er ist so verdammt überheblich.« »Ist Dorothea schon bei Bewußtsein?«

»Ja, sie hat kurz mit der Polizei geredet. Das letzte, an das sie sich erinnert, ist anscheinend, daß sie sich nach dem Abendessen bei einer befreundeten Witwe, die einen halben Kilometer entfernt wohnt, auf den Heimweg gemacht hat. Sie sehen manchmal zusammen fern, und nach Valentines Tod hatte sie Lust auf Gesellschaft. Ein Glück, daß sie nicht schon früher zu Hause war.«

»Mag sein. Vielleicht.«

»Vielleicht«, stimmte er zu.

»Sonst was Neues?« fragte ich.

»Nein. Ich habe die Polizei gefragt. Nur leere Sprüche, was bedeutet, daß sie im Wald stehen.«

»Ich würde Dorothea gern besuchen.«

»Das habe ich ihr auch gesagt. Es hat sie offensichtlich gefreut. Vielleicht geht’s morgen abend, oder übermorgen.«

»Ich rufe Sie an«, sagte ich.

Am Wagen angelangt, teilte ich dem Fahrer die Programmänderung mit und sah mir die Straßenkarte an. Rechts ab auf die A 14 in nordöstlicher Richtung, um Kettering herum und weiter geradeaus. Vierzig Meilen vielleicht bis Market Harborough. »Wecken Sie mich, wenn wir da sind«, sagte ich und legte mich auf dem Rücksitz schlafen.

Alison Visboroughs Zufluchtsort offenbarte von den Torpfosten an ihre Persönlichkeit. Ein löchriger Schotterweg führte zu einem zweigeschossigen alten Haus aus Ziegeln, vermutlich achtzehntes Jahrhundert, aber ohne Besonderheit. Die Wiesen ums Haus waren in zahlreiche Koppeln mit verwitterten Lattenzäunen unterteilt, und auf einigen standen kräftige, aber wenig bemerkenswerte Pferde. Eine größere Koppel auf der einen Seite war mit diversen Gattern, Stangen und Mauerattrappen ausgestattet, den Utensilien des Springreitens, der abblätternden Farbe nach nicht mehr ganz neu. Am anderen Ende ließ ein Mann in Tweedjacke und hoher schwarzer Reitkappe langsam ein Pferd im Kreis kantern und übte es, die Augen streng auf das führende Vorderbein gerichtet, in der Dressur. Ein Kind, das ihm zusah, hielt ein Arbeitspony bei den Zügeln. Lehrer und Schüler beim Unterricht, wie es schien.

Alles an dem Hof sah sauber und effizient aus und zeugte eher von Geldknappheit.

Mein Fahrer hielt vor der unprätentiösen Haustür. Er sagte, er wolle fragen, ob wir hier richtig seien, doch das war nicht nötig. Die Tür öffnete sich, ehe er läuten konnte, und eine vollbusige Frau mittleren Alters in Reithose, Hemd und mattgrünem Pullover erschien, begleitet von zwei halbwüchsigen Labradors.

»Mr. Lyon?«

Ihre Stimme drang laut, herrisch, ungnädig zu mir herüber.

Mein Fahrer deutete auf den Wagen, und ohne große Begeisterung stieg ich aus.

»Ich bin Thomas Lyon«, sagte ich, auf sie zugehend. Sie gab mir die Hand, als wäre das eine leidige gesellschaftliche Verpflichtung, und führte mich genauso auch ins Haus, während mein Fahrer sich selbst überlassen blieb.

»Ich bin Alison Visborough. Howard hat Sie schon angekündigt«, erklärte sie und führte mich in ein kaltes, ordentliches Zimmer mit hartgepolsterten Sesseln und Sofas, die einladend aussahen, aber gewissermaßen die Lust am Bleiben dämpften. Ich hockte mich auf eine ungastliche Sesselkante und sie auf eine andere. Die Hunde waren ohne viel Federlesens in die Diele verbannt worden.

»Ich habe Sie mir älter vorgestellt«, sagte sie mit unbefangen vornehmer Diktion. »Sind Sie auch sicher, daß Sie der sind, der Sie zu sein behaupten?«

»Meistens.«

Sie machte große Augen.

Ich sagte: »Ich bin nicht der Unmensch, den Sie im Drumbeat geschildert haben.«

»Sie haben Howard zur Verzweiflung getrieben«, sagte sie energisch. »Da mußte was passieren. Ich hatte nicht mit so einem Wirbel gerechnet. Schon gar nicht wollte ich Howard in Schwierigkeiten bringen. Er hat mir erklärt, daß Ihre blöde Filmgesellschaft sauer auf mich ist, aber wenn ich eine Ungerechtigkeit erkenne, muß ich meine Meinung sagen.«

»Immer?« fragte ich interessiert.

»Natürlich.«

»Und bringt Sie das oft in Schwierigkeiten?«

»Widerstand hält mich nicht ab.«

»Würden Sie Howard zuliebe«, sagte ich, »der Filmgesellschaft einen kurzen Entschuldigungsbrief schreiben?«

Sie schüttelte empört den Kopf, dachte noch einmal darüber nach und sah dann aus, als könne sie sich nicht entscheiden, ein für sie wohl ungewohnter Zustand.

Sie hatte angegrautes, kurzes braunes Haar, furchtlose braune Augen, trug keinen Lippenstift und keine Ringe an den rauhen, arbeitsgewohnten Händen. Eine Frau, streng mit sich selbst und mit allen anderen, aber von Howard bewundert.

Ich fragte: »Mit wem haben Sie gesprochen, der beim Drumbeat arbeitet?«

Sie zögerte wieder und sah nicht allzu erfreut aus. »Es sind nicht so ganz meine Worte«, sagte sie widerstrebend, »was sie in der Zeitung geschrieben hat.« »Sie?«

»Eine alte Bekannte von mir. Wir waren auf der gleichen Schule. Sie gehört zum >Sterngeflüster<-Team, und ich dachte, es würde Howard helfen, gegen Sie zu bestehen. Von ihr stammt der Artikel auch nicht. Sie hat nur die Informationen an einen der Schreiber weitergegeben, wie sie’s immer macht. Sie stellt das Material zusammen, hat sie mir erklärt, und dann wird es von einem, der dafür zuständig ist, auf Sensation getrimmt.«

Auf Sensation getrimmt. Man denke! Aber anders wäre Howards Nörgelei die Spalte wahrscheinlich nicht wert gewesen.

»Seit wann«, fragte ich, »kennen Sie Howard?«

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Ich habe nur überlegt, wie lange Sie sich wohl schon für ihn einsetzen.«

Mit einem Anflug von Streitlust, wie sie mir neuerdings öfter begegnete, sagte sie: »Ich kann mich innerhalb von fünf Minuten für eine gute Sache einsetzen.«

»Bestimmt.«

»Genaugenommen kennen wir Howard, seit er uns nach Papas Tod besuchen kam.«

Das Wort »Papa« kam ganz spontan; nur ich fand es seltsam und verfehlt bei einem Menschen ihres Alters.

»Wollte er zu Ihrer Mutter?«

»Ja, wohl hauptsächlich zu ihr.«

»Wegen des Nachrufs?«

Sie nickte. »Der hat Howard interessiert.«

»Mhm.«

Ich schwieg. »Haben Sie eine Ahnung, von wem dieser Nachruf stammt?« »Warum wollen Sie das wissen?«

Ich zuckte die Achseln. »Interessehalber. Er schien mir ein Ausdruck persönlicher Gefühle zu sein.«

»Verstehe.«

Sie ließ Sekunden hingehen. Dann sagte sie: »Er stammt von mir. Die Zeitung hat ihn bearbeitet, aber das Wesentliche war von mir.«

»So?« sagte ich unverfänglich. »Und Sie haben auch geschrieben, daß die Karriere Ihres Vaters durch Sonias Tod vereitelt worden ist?«

»Ja.«

»Das schien Ihnen nahezugehen.«

»Natürlich ist es mir nahegegangen«, sagte sie heftig. »Papa hat nie mit mir darüber gesprochen, aber ich wußte, daß er verbittert war.«

»Hm«, sagte ich, »aber weshalb mußte er denn nach Sonias Tod die Politik aufgeben?«

Gereizt, als ob sich das von selbst verstünde, sagte sie: »Wegen des Geredes natürlich. Aber er sprach nie darüber. Er hätte niemals zugelassen, daß dieser Film gemacht wird. Rodbury und ich waren auch dagegen, konnten aber nichts ausrichten. Es war Howards Buch, nicht unseres. Unser Name, Papas Name kommt nicht darin vor. Howard sagte, Sie hätten ihn zu den lächerlichen, lügenhaften Änderungen an seinem Buch gezwungen; da dachte ich natürlich, jemand müßte Ihnen Einhalt gebieten. Howard zuliebe und - jawohl - Papa zu Ehren mußte ich es tun.«

Und beinah wäre es ihr geglückt, dachte ich.

Ich versuchte weder mich noch das Vorgehen der Filmgesellschaft zu rechtfertigen, sondern sagte: »Verzeihen Sie, aber wer ist Rodbury?« »Mein Bruder Roddy.«

Roddy, natürlich.

»Könnten Sie mich vielleicht Ihrer Mutter vorstellen?« fragte ich.

»Wozu?«

»Ich würde sie gern kennenlernen.«

Es hing in der Schwebe, aber die Entscheidung blieb nicht ihr überlassen. Die angelehnte Tür wurde von einem Gehstock in der Hand einer dünnen, hinkenden Dame um die Siebzig aufgestoßen. Sie kam langsam und bedrohlich auf mich zu und teilte mir, während ich aufstand, mit, daß ich ein Scheusal sei.

»Sie sind doch der Mensch«, hielt sie mir mit blassen, schmalen Lippen vor, »der behauptet, ich hätte meinen Mann mit Jackson Wells betrogen - Jackson Wells!«

Empörtes Klassenbewußtsein lag in ihrer dünnen Stimme. »Dieser schreckliche Kerl! Ich habe meine Schwester vor der Ehe mit ihm gewarnt, aber sie war dickköpfig und hat nicht auf mich gehört. Er war nicht gut genug für sie. Wie kann jemand glauben, daß ich. ich...«

Ihr fehlten fast die Worte. »Es fiel mir ja schon schwer, zu dem Mann höflich zu sein - und er war zwanzig Jahre jünger als ich.«

Sie bebte vor Mißbilligung. Ihre Tochter stand auf, ergriff den Arm der Mutter und half ihr zu einem der Sessel, deren feste Polsterung mit einemmal sinnvoll erschien.

Sie hatte kurzes weißes Lockenhaar und hohe Wangenknochen und mußte einmal hübsch gewesen sein, aber Schmerzen oder eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem Leben hatten ihrem Mund einen verkniffenen, übellaunigen Zug nach unten verliehen. Ich dachte an Silva und ihre strahlende Schönheit und konnte mir vorstellen, daß die beiden Frauen wahrscheinlich wenig Wert darauf legen würden, sich kennenzulernen.

Ich sagte ohne Nachdruck: »Die Filmgesellschaft hat sich mit Howard Tyler darüber verständigt, daß einige Punkte gegenüber der Buchvorlage geändert werden sollten. Ich habe das nicht veranlaßt. Ich wurde engagiert, nachdem die wichtigsten Änderungen bereits abgesprochen waren. Trotzdem glaube ich, daß sie nötig waren und daß sie gutes und unterhaltsames Kino ergeben, auch wenn ich Ihre Vorbehalte verstehe.«

»Vorbehalte!«

»Dann eben Ihre Mißbilligung. Da aber nirgends Ihr Name fällt und die Filmhandlung erfunden ist, werden nicht viele Leute Sie damit in Verbindung bringen.«

»Daß ich nicht lache. Wir sind doch das Gespött von ganz Newmarket.«

»Glaube ich nicht«, sagte ich. »All das ist so lange her. Aber ich möchte Ihnen gern eine Frage stellen, und ich hoffe, daß Sie sie mir beantworten, schon weil sich vielleicht dann auch Ihre verständliche Empörung legt. Hat Ihre Schwester Sonia so stark in einer Phantasiewelt gelebt, wie Howard es in seinem Buch schildert? War sie wirklich eine verträumte junge Frau?«

Während die Ältere zögerte, sagte Alison: »Ich habe ihren Mann nie kennengelernt und kann mich an sie kaum erinnern. Ich war ja erst vierzehn.«

»Sechzehn«, berichtigte ihre Mutter spitz.

Alison warf einen gereizten Blick auf ihre Mutter, die etwas selbstzufrieden aussah. Offenbar gab es zwischen Mutter und Tochter unangenehme Spannungen, die nur halb durch gute Manieren verdeckt wurden. Alison, so sehr es bei ihrem Naturell auch verwunderte, war Frau genug, sich zu wünschen, daß ich sie für jünger hielt.

»Träume?« hakte ich nach.

»Meine Schwester«, erklärte Audrey Visborough abfällig, »hat sich bald in jeden Kerl verliebt, der Reithosen trug. Sie hat von Männern geschwärmt, die sie niemals bekommen konnte. Reichlich albern. Ich denke, das habe ich auch Howard gesagt, als er zum erstenmal hier war. Jackson Wells sah gut aus in Reithosen, und natürlich fühlte er sich geschmeichelt, als ihm Sonia schöne Augen machte. Das war keine Grundlage für eine Ehe.«

»Hm«, sagte ich, ohne dazu Stellung zu nehmen.

»Wenigstens hat es meine Tochter davon abgehalten, den gleichen Fehler zu begehen.«

Alison, die unverheiratete Tochter, warf ihr einen von altem und bitterem Groll erfüllten Blick zu.

Ich räusperte mich diplomatisch und fragte: »Haben Sie zufällig ein Foto von Ihrer Schwester?«

»Ich glaube nicht.«

»Auch keins aus der Zeit, als Sie beide jung waren?«

Audrey sagte streng: »Sonia war ein unerwarteter Nachzügler, sie kam zur Welt, als ich schon groß war. Am Anfang war sie wohl auch ganz nett. Ich hatte nicht viel mit ihr zu tun. Dann habe ich Rupert geheiratet, und. also wirklich! Sonias Verhalten wurde untragbar! Sie hat einfach nicht auf mich gehört!«

»Aber. als sie dann so starb.?«

Ich ließ die Frage offen, empfänglich für jederlei Antwort.

Audrey schauderte ein wenig. »Schrecklich«, sagte sie, aber das Wort und das Schaudern waren Reflexe, die Empfindung dahinter begraben und vergessen.

»Haben Sie eine Ahnung, warum sie gestorben ist?« fragte ich.

»Wir haben doch immer wieder gesagt, daß wir das nicht wissen.«

»Und«, setzte Alison im gleichen Ton hinzu, »es ist unerhört, daß Sie und Ihr Film sich in unser Leben einmischen.«

Audrey nickte heftig: Hier zumindest waren Mutter und Tochter sich einig.

Ich fragte Alison: »Würden Sie denn nun Howard zuliebe die paar entschuldigenden Zeilen an die Filmgesellschaft schreiben?«

Sie entgegnete scharf: »Es geht Ihnen doch nicht um Howard. Ihnen geht’s nur um Sie selbst.«

Geduldig sagte ich ihr, wie es war. »Howard schreibt ein gutes Drehbuch. Sein Name ist mit dem Film verbunden. Wenn er befürchtet, daß die Filmgesellschaft ihn verklagt, wird er in den Szenen, die noch entwickelt werden müssen, nicht sein wahres Format zeigen. Er bewundert Sie, Miss Visborough. Geben Sie ihm die Möglichkeit, unbeschwert zu arbeiten.«

Sie kniff die Augen zusammen, stand auf, ging festen Schrittes aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.

Ihre Mutter hüstelte mit unversöhnlichem Mißtrauen und sagte: »Darf ich fragen, weshalb Sie ein Foto von meiner Schwester haben möchten?«

»Es wäre nützlich, weil ich dann darauf achten könnte, daß die Schauspielerin, die sie im Film darstellt, ihr nicht ähnlich sieht.

Wenn Ihre Schwester zum Beispiel rothaarig war, könnten wir der Schauspielerin eine schwarze Perücke aufsetzen.«

Es war, als müßte man ihr jede Antwort einzeln abringen. Schließlich sagte sie: »Meine Schwester hatte von

Natur aus unauffällig braune Haare. Das gefiel ihr nicht, und sie hat sie in allen erdenklichen Tönen gefärbt. Einmal gab es eine heftige Auseinandersetzung mit meinem Mann, als sie mit einem grünen Bürstenschnitt hier auftauchte.«

Es gelang mir, ein Lächeln zu unterdrücken. »Allerhand«, sagte ich.

»Mir ist egal, was Sie über Sonia sagen«, fuhr sie fort, »aber es stört mich doch sehr, daß Sie meinen Mann und seine Leistungen herabsetzen. Blöd im Kopf! Er war niemals blöd im Kopf. Er war ein vernünftiger und kluger Mensch von makellosem Ruf.«

Und ich brauchte auch nicht zu rätseln, wie er wohl ausgesehen hatte, denn silbergerahmte Fotos von Rupert Vis-borough in wechselndem Alter waren fast überall im Raum verteilt. Er war gutaussehend, rechtschaffen und humorlos gewesen: kein Schalk in den Augen. Ich dachte ein wenig schuldbewußt, daß ich aus Cibber etwas machte, was Visborough niemals gewesen war: ein wilder Stier, der durchdreht bis zur Selbstzerstörung.

Die Wohnzimmertür öffnete sich, und es war nicht Alison, sondern ein wenig anziehender Mann in Reitjacke und Reithose, der hereinkam, als wäre er hier zu Hause, und ein Tablett mit Gläsern und einer einzelnen Flasche Whisky ansteuerte. Er schenkte sich ein Glas Whisky ein und nahm einen Schluck, bevor er mich musterte und auf die Vorstellung wartete.

»Roddy«, sagte Audrey Visborough dann auch automatisch, »das ist Thomas Lyon, der den vermaledeiten Film dreht.«

Roddy Visborough hatte sein Glas vorm Gesicht, so daß ich seinen Ausdruck nicht sehen konnte, aber sein Körper versteifte sich vor Unmut. Es war, wie ich merkte, der

Dressurreiter von der Trainingskoppel: ein mittelgroßer Mann, weder dick noch dünn, ohne Ausstrahlung, mit schütterem graubraunem Haar, angehend kahl.

Er ließ das Glas auf Brusthöhe sinken und sagte beleidigend: »Hauen Sie ab.«

Das »ab« hörte sich wie Ahab an.

Audrey Visborough erhob nicht den mindesten Protest. Sie bemerkte lediglich: »Mr. Lyon geht gleich.«

Ihr Sohn kippte den Rest seines Whisky pur hinunter und schenkte sich nach. »Was wollen Sie hier?« sagte er. »Sie regen meine Mutter auf.«

»Ich wollte etwas für Howard Tyler in Ordnung bringen«, erwiderte ich.

»Ach, der.«

Roddy Visborough lächelte verstohlen. »Scheint scharf auf Alison zu sein. Was er bloß an ihr findet?«

Seine Mutter äußerte sich nicht.

Ich dachte bei mir, daß Howard in Alison eine starke Frau mit einer realistischen, nicht allzu rosigen Auffassung vom Leben sah. Es hatte schon unwahrscheinlichere Beziehungen gegeben. Alison selbst kam mit einem weißen Umschlag wieder, den sie mir hinhielt. Ich dankte ihr. Sie nickte verhalten und wandte sich an ihren Bruder: »Wie war die Reitstunde?«

»Die Kleine ist doof.«

»Wir brauchen die Kundschaft.«

»Ich brauche deine Belehrung nicht.«

Alison sah aus, als wäre sie diesen Grad an brüderlicher Liebe gewohnt. Und eher zu meiner Überraschung erklärte sie mir: »Wir bilden Pferde und Reiter für die Vielseitigkeit und fürs Springreiten aus. Wir haben einen Mietstall für Pferde und Ponys.« »Ach so.«

»Ich wohne nicht hier«, sagte Roddy mit unterdrückten Groll. »Ich habe ein Cottage weiter unten an der Straße. Hier arbeite ich nur.«

»Er ist der Springreiter«, sagte Alison, als müßte ich von ihm gehört haben. »Ich beschäftige ihn als Lehrer.«

»Ah«, sagte ich unbestimmt.

»Das Haus hier gehört mir«, sagte Alison. »Papa hat mir unseren Familiensitz testamentarisch vermacht. Mama ist natürlich jetzt mein Gast.«

Vorsichtig schaute ich Alison ins Gesicht. Unter der geschäftsmäßigen Fassade ließ sie mich den Schalk sehen, verdeckt, aber eindeutig, ein schadenfrohes Funkeln äußerster Genugtuung über diese vielleicht süßeste Rache für ein Leben voller Brüskierungen.

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