Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem Stöhnen, und jeder Muskel belehrte mich steif, wie dumm es war, etwas beweisen zu wollen. Ich schleppte mich hinunter zum Wagen, wurde aber in der Halle von Nash, O’Hara und Moncrieff aufgehalten, die sich anscheinend schon besprochen hatten.
O’Hara sagte nicht guten Morgen, er sagte: »Sie sind wahnsinnig, wissen Sie das?«
Ich blickte enttäuscht zu Moncrieff, der meinte: »Ja, ja, nichts ist vertraulich, das sagen Sie ja selbst immer.«
Nash sagte: »Nach zwölf heute nacht, als Sie im Bett waren, hat Moncrieff uns das Video vorgespielt.«
Ich kniff meine schläfrigen Augenlider mit Daumen und Zeigefinger und fragte O’Hara, ob er wie vorgesehen Alisons Brief nach Hollywood gefaxt habe.
Er nickte. »Wenn Howard jetzt bei der Stange bleibt, ist er aus dem Schneider.«
»Gut. Okay, dann zu heute. Es regnet nicht. Wir können wie geplant das Rennen aufnehmen. Das geht nur einmal, also wird jeder, der belichteten Film einlegt oder die Blende falsch zieht, mit verbundenen Augen an die Wand gestellt. Moncrieff, ich bringe Sie allen Ernstes um, wenn Ihre Leute das vermasseln.«
O’Hara sagte: »Haben Sie gestern diesen Fernsehmann, Greg Compass, angerufen?«
Ich dachte zurück und nickte. »Von Huntingdon. Ich konnte ihn nicht erreichen.«
»Er hat Ihnen eine Nachricht hinterlassen. Die Rezeption sagt Sie haben nicht nachgehört.«
Er gab mir einen Zettel, auf dem eine Telefonnummer und eine Zeit, 9.00, stand.
Um neun waren wir mit getrennten Wagen und Fahrern längst wieder auf der Rennbahn von Huntingdon angelangt. Getreu seiner Nachricht meldete sich Greg, als ich anrief, sofort.
Ich sagte: »Ich wollte mich bei dir für Samstag bedanken.«
»Schon gut. Wenn ich recht verstehe, bist du noch am Ruder?«
»So ungefähr.«
Ich erklärte ihm, was wir in Huntingdon drehten, und fragte ihn, ob er Lust habe, seine vertraute Gestalt in die Aufnahmen einzubringen.
»Wann?«
»Heute, morgen oder am Donnerstag. Oder an allen drei Tagen.«
»Zuviel zu tun«, sagte er.
»Dann lassen wir’s.«
»Honorar?«
»Natürlich.«
»Ich komme morgen vorbei.«
Er lachte und legte auf, und ich fragte mich, ob mich das noch eine Sitzreihe kosten würde.
Ich fuhr mit Moncrieff die Bahn ab, um die Kamerapositionen zu prüfen und hier und da das Licht. Abgesehen
von unseren beiden ständigen Teams hatten wir noch drei Kamerawagen gemietet und zwei Kameras für Nahaufnahmen in die Hindernisse eingebaut. Moncrieff selbst würde auf dem Kamerawagen sein, der vor den Pferden herfuhr, und sie frontal filmen. Die letzte gemietete Kamera war oben auf der Tribüne, um aus dieser Perspektive den Ablauf vom Start bis zum Ziel zu verfolgen. Wie immer bei Szenen, die man nur einmal drehen konnte, würde es Pannen geben, aber ich hoffte inständig, daß doch genügend Brauchbares zusammenkam.
Ed hatte die Jockeys angewiesen, auf mich zu warten, und so fand ich sie in der Jockeystube versammelt, ausstaffiert wie für ein normales Rennen. Vierzehn Mann. Keiner fehlte.
»Morgen«, sagte ich trocken.
»Morgen.«
Niemand redete vom Tag vorher. Ich sagte: »Ich weiß, daß Ed Sie schon instruiert hat, aber wir gehen es kurz noch mal durch. Aus Ihrer Sicht wird es ein Rennen wie die meisten anderen sein. Zwei Meilen Hindernis. Sie gehen an der Startmaschine im Kreis, und der Starter ruft Sie auf. Der Starter ist ein Schauspieler. Er ist gut eingeübt worden, aber wenn er trotzdem patzt, bleiben Sie nicht etwa stehen und machen kehrt. Sie reiten durch.«
Ich hielt inne. »Wie gewohnt stehen an jedem Sprung ein Bahnarbeiter und ein Sanitäter. Die sind echt. Der Krankenwagen ist echt. Wie auch der Arzt. Und auch der Tierarzt. Alle Zuschauer am Geläuf und an den Sprüngen sind Komparsen. Die Zuschauer auf der Tribüne sind Einheimische. Okay soweit?«
Sie nickten.
»Unsere vierzehn Pferde sind einigermaßen fit, aber wie Sie wissen, wurden sie wegen ihrer Sprungsicherheit ausgesucht und billig eingekauft. Sie werden keine Schallmauern durchbrechen, und die drei, die gestern gelaufen sind, stehen heute vielleicht den Kurs nicht durch. Wenn Sie wollen, können Sie gleich auslosen, wer welches Pferd bekommt; eins bis vierzehn wie auf den Nummerndek-ken.«
Ihre Mienen waren geschäftsmäßig. Eine Auslosung war allen recht.
»Das Rennen wird nur gut«, sagte ich, »wenn Sie gut reiten. Sie möchten es Ihrer Familie doch sicher gern auf Band zeigen und sich freuen, wenn Sie es im Kino sehen. Jeder von Ihnen bekommt später noch eine CD oder eine Videoaufnahme.«
»Wer soll gewinnen?« fragte einer.
»Hat Ed Ihnen das nicht gesagt?«
Sie schüttelten die Köpfe.
»Es wird ein echtes Rennen. Wer siegt, der siegt. Seine Farben ziehen wir dann dem Schauspieler an, der den Jok-key in Großaufnahme spielt. Der Schauspieler sieht im Sattel ganz gut aus und kann zur Not auch traben. Tut mir leid, aber er wird in den Farben des Siegers zum Absattelring geführt. Aber, ehm. zum Ausgleich dafür bekommt derjenige von Ihnen, der gewinnt, die üblichen Prozente. Verlassen Sie die Bahn durch das gewohnte Tor. Die Geschlagenen können an gewohnter Stelle absatteln. Ein paar Komparsen agieren da als Besitzer und Trainer. Die Pfleger übernehmen die Pferde. Verhalten Sie sich wie sonst auch. Die ersten vier werden zum Absattelring für den Sieger geführt. Noch Fragen?«
»Was ist, wenn wir stürzen?«
Die Frage kam von Blau.
»Wozu sind Sie denn sonst gekommen?«
Einige lachten, und einige fluchten. Die Spannungen waren weg.
»Viel Spaß«, sagte ich.
Einer fragte: »Und wo werden Sie sein?«
Ich sagte mit hörbarem Bedauern: »Ich sehe vom Boden aus zu.«
Ich schwieg. »Wenn es irgend geht, liefern Sie uns keinen zwingenden Grund für eine Untersuchung. Es steht keine Untersuchung im Drehbuch. Kreuzen Sie möglichst nicht. Okay?«
Ich ging durch den verlassenen Waageraum nach draußen, der an einem echten Renntag von Funktionären und Trainern gewimmelt hätte, und sah einen Augenblick zu, wie die hilfsbereiten Leute von Huntingdon in Scharen eintrafen, alle für den Rennbahnbesuch gekleidet und beeindruckend viele auch mit Ferngläsern ausgerüstet. Ed, sah ich, hatte gute Arbeit geleistet.
Einer vom Aufnahmestab kam und drückte mir einen, wie er sagte, dringenden Brief in die Hand. Ich dankte ihm flüchtig, und er war fort, ehe ich den Umschlag geöffnet hatte.
Ich faltete das inliegende Blatt Papier auseinander und las:
Lassen Sie den Film sein, sonst werden Sie noch heute erstochen.
Zu liebenswürdig.
Es sah aus wie ein Computerausdruck auf anonymem weißem Büropapier.
O’Hara erschien, um ein paar Einzelheiten mit mir zu besprechen, und fragte, was los sei. »Was machen Sie für ein Gesicht?«
Ich zeigte ihm die Nachricht. »Es ist nicht meine erste Morddrohung«, hob ich hervor.
»Die anderen kamen, als der Film schon im Verleih war. Die hier müssen wir ernst nehmen.«
Er schnippte mit dem Fingernagel gegen das Blatt. »Was sollen wir tun?«
»Was schlagen Sie vor?«
»Wenn Sie Ihre Zelte abbrechen«, sagte O’Hara ohne Umschweife, »wird der Film automatisch zurückgestellt. Dann hätten wir Zeit, diesen Irren zu finden und ihn hinter Schloß und Riegel zu bringen.«
»Wir können die Dreharbeiten nicht unterbrechen«, sagte ich. »Nicht nach dem Drumbeat-Artikel und dem Messer auf der Heide. noch so ein Schreck, und die Bosse bekommen eine solche Angst, daß sie den Film endgültig fallenlassen.«
O’Hara dachte das gleiche, sagte aber beunruhigt: »In dem Brief steht nicht nur, daß Sie erstochen werden, sondern daß es heute passiert.«
»Mhm.«
»Thomas, tot nützen Sie uns nichts.«
»Mir kommt es vor«, sagte ich, ein wenig über seinen Pragmatismus lächelnd, »als ob der Absender des Briefes mich nicht unbedingt töten, sondern vielmehr den Film verhindern will, ohne drastische Maßnahmen ergreifen zu müssen. Wenn es darum ginge, den Film zu verhindern, indem man mich umbringt, warum tut er - oder sie - es nicht einfach? Wozu erst das dramatische Geplänkel? Wir pfeifen drauf und machen weiter.«
»Zumindest stelle ich Ihnen einen Bodyguard, wie Nash.«
Nash wurde an diesem Tag nicht von einem, sondern von zwei Bodyguards begleitet, aber ich erinnerte O’Hara daran, daß wir die beiden gut kannten.
»Wenn Sie jetzt einen Fremden einstellen, riskieren Sie gerade das, was Sie vermeiden wollen«, sagte ich. »In klassischen Fällen sind es die Leibwächter selbst, die das Opfer töten.«
Ich griff zu einer Lüge, von der ich hoffte, sie möge sich als wahr erweisen, und sagte: »Ich glaube nicht, daß ich groß in Gefahr bin, also vergessen Sie’s einfach.«
»Leicht gesagt.«
Dennoch beruhigte ihn meine Einstellung ein wenig.
»Heben Sie den Brief auf«, sagte ich, »und auch den Umschlag.«
Ich gab ihn ihm. »Jetzt wollen wir weiterdrehen.«
»Das gefällt mir trotzdem nicht.«
Mir gefiel es auch nicht besonders, aber eine Morddrohung loszulassen erforderte wenig Organisation, wenig Mut, und um jemanden zu erstechen, brauchte man beides.
Das für Nash bestimmte Messer war ungeschickt fallen gelassen worden. Klammere dich daran. Vergiß - um Himmels willen vergiß - Dorotheas bloßliegende Eingeweide.
»Wer hat Ihnen den Brief gegeben?« fragte O’Hara.
»Ein Arbeiter. Ich habe ihn schon gesehen, aber ich weiß nicht, wie er heißt.«
Man kam nie dazu, sich die Namen der sechzig bis hundert Leute, die bei Außenaufnahmen mitwirkten, einzuprägen. Ich wußte noch nicht einmal die Namen der Pferde, weder ihre eingetragenen noch die, die ihnen die Pfleger gaben, noch die erfundenen, die sie im Film hatten. Ich kannte weder die Jockeys noch die Komparsen mit Namen. Gesichter merkte ich mir leicht, ob von Pferden, von Jockeys, von Schauspielern: Mein Gedächtnis war immer schon vorwiegend visuell ausgerichtet gewesen.
Eine Zeitlang vergaß ich die Morddrohung: Es gab zuviel zu tun.
Wie immer bei Szenen mit mehreren hundert Leuten dauerte es eine Ewigkeit, bis das Rennen gestellt war. Endlos prüfte ich über Sprechfunk die Situation an den weiter entfernten Bahnabschnitten, aber gegen Mittag schien endlich alles bereit zu sein. Die Pfleger holten die Pferde aus dem Stall, und die Jockeys sprangen auf ihre ausgelosten Starter und galoppierten auf.
Ich entschloß mich, bei Moncrieff auf dem Kamerawagen mitzufahren, um näher am Geschehen zu sein - und um meine feige Haut zu schützen, gestand ich mir insgeheim ein.
Ed animierte über Lautsprecher die Huntingdoner Massen, Renntagsgesichter aufzusetzen und das Finish zu bejubeln. Daß die Ansage flachfallen würde, hatten wir erklärt; sie mußten wir später gesondert aufnehmen. Wie auch immer, betonte Ed, jubeln Sie dem zu, der siegt.
Ed war es schließlich auch, der »Und bitte« rief, das über die ganze Tribüne hallende Kommando, und ich flehte mit erhöhtem Puls unbekannte Gottheiten um Vollkommenheit an.
Natürlich lief nicht alles glatt. Eine der gemieteten Kameras blockierte, und eine von den beiden, die in die Hindernisse eingebaut waren, wurde von einem Pferdetritt ins Jenseits befördert, doch der Start ging in Ordnung, und es war von Anfang an erfreulich klar, daß meine Quasikollegen sich Mühe gaben.
Sie hatten mich auf dem Wagen gesehen, als er für den Start in Stellung gebracht wurde; auf dem als Aussichtspunkt idealen Dach des Fahrerhauses. Sie hatten mir zugewinkt, als wollten sie mich ihrer Loyalität versichern -und sie ritten wirklich die zwei Meilen mit vollem Einsatz.
Einen Großteil des Weges fuhren wir den Wagen so, daß die Kamera kaum zwei Meter von den Köpfen der führenden Pferde entfernt war, dann beschleunigten wir und gingen weiter weg, dann wieder näher ran, mit wechselndem Kamerawinkel.
Zwei Pferde stürzten im zweiten Durchgang auf der Gegengeraden. Ich schaute besorgt hin, doch beide Jockeys standen auf, und die reiterlosen Pferde zeigten als nicht im voraus geplanter Effekt schließlich nur, daß es sich um einen echten Wettkampf handelte.
Die anderen Reiter sorgten im Schlußbogen wieder für Druck, und wieder gingen sie in vollem Tempo über die letzten beiden Sprünge und setzten alles daran zu gewinnen. Der Endkampf war noch schneller und enger als am Tag vorher, doch Blau, Grün-weiß-gestreift und Gelb kamen erkennbar als die ersten drei durchs Ziel, und als der Wagen verlangsamte, hörte ich das Publikum ihnen zujubeln, als hätten sie ihr letztes Hemd auf sie gewettet. Diese Jockeys waren mit einem so gewaltigen Mut geritten, daß mir die Spucke und die Luft wegblieben; ich war hellauf begeistert, erfüllt von größter Bewunderung.
Als sie ihre müden Pferde zum Absattelring führten, filmte eine andere Kamera Moncrieffs sie wie vereinbart weiter. Ich konnte nicht in die Aufnahme laufen, um mich bei ihnen zu bedanken, und Dank, in gleich welcher Form, wäre auch unzureichend gewesen.
»Teufel«, rief Moncrieff aus, der die Geschwindigkeit und das eiserne Engagement ganz aus der Nähe mitgekriegt hatte. »Und das machen die berufsmäßig?«
»Tagaus, tagein, jeden Nachmittag ein paarmal.«
»Verrückt.«
»Da geht nichts drüber«, sagte ich.
Wir hüllten den Jockeymimen in Blaus Farben und ließen ihn unter dem Beifall einer gemischten Schar von Komparsen und Einheimischen zum Absattelring führen. Das Absatteln mußte gefilmt werden, solange die Pferde noch dampften und schwitzten und vom Rennen erregt herumtrampelten. Wir filmten Nash, wie er den Hals des Siegers tätschelte. Wir filmten den Jockeymimen, wie er den Sattelgurt löste und sich für meinen Geschmack dabei viel zu ungeschickt anstellte. Wir filmten die vier Pferde, wie die Pfleger ihnen Decken auflegten und sie davonführten; und wir gingen in die Mittagspause.
Nash gab, vom Bodyguard bewacht, gutmütig einen Haufen Autogramme, vorwiegend auf den Rennprogrammen, die wir massenhaft verteilt hatten.
O’Hara erschien wieder an meiner Seite und sagte mir ins Ohr: »Zufrieden?«
»Und Sie?«
»Nash und ich haben uns das Rennen von der Rennleitungsloge aus angesehen. Nash sagt, die drei erstplazierten Jockeys haben mehr als ihre Pflicht getan.«
»Das stimmt.«
»Er sagt, so haut es erst richtig rein, daß sein Pferd über Cibbers Pferd siegt.«
»Cibber klinkt aus.«
»Es gibt ihm den Rest?«
»Beinah. Cibber kann es nicht ertragen, daß sein bestes Pferd von dem Mann, den er haßt, auf den zweiten Rang verwiesen wird.«
»Beim Lesen der Neufassung dachte ich erst, Howard hätte den Haß übertrieben. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ein Rennen solche Abgründe aufreißt.«
»Haß kann eine ganze Seele zerfressen.«
»Mag sein. Aber um das zu zeigen, brauchten Sie ein Ausnahmerennen.«, seine Stimme verlor sich einen Moment lang, »und ich denke, das haben Sie auf Ihre Art auch bekommen.«
Ich lächelte ein wenig. »Gehen wir was essen.«
»Sie essen in der Rennleitungsloge mit Nash und mir. Ist Ihnen klar, daß ich mich gerade von hinten an Sie ranschleichen und Ihnen ein Messer in die Rippen hätte jagen können? Ist Ihnen klar, daß ungefähr dreihundert Unbekannte hier herumlaufen?«
Es war mir klar. Ich ging mit ihm und speiste oben in sicherer Höhe.
Bis wir zum Weiterarbeiten wieder nach unten kamen, hatte einer von Eds Assistenten den Mann aufgetrieben, der den Brief gebracht hatte. Irgendein Kind hatte ihn ihm gegeben. Welches Kind? Unsicher sah er sich um. Es wimmelte von Kindern. Der Mann konnte sich weder an Alter, Geschlecht noch Kleidung erinnern. Er war mit dem Ausladen der Dekoration für den nächsten Tag beschäftigt gewesen.
»Mist«, sagte O’Hara.
Jemand anders vom Aufnahmestab kam und hielt mir eine Karte hin, als wagte er kaum, mich deswegen zu stören. »Eine Familie Batwillow sagt, Sie erwarten sie.«
Er blickte zu der kleinen Gruppe hinüber: Jackson Wells, seine Frau und Lucy und ein Mann, den ich nicht kannte.
Ich nahm die Karte und winkte sie zu mir und konnte zu O’Hara nur gerade noch sagen: »Das ist der echte Mann unserer Erhängten«, bevor wir uns schon die Hände schüttelten. Sie waren für den Rennbahnbesuch gekleidet, und Jackson Wells selbst, in Tweed und Trilby, sah auf undefinierbare Weise mehr wie ein Trainer als wie ein Farmer aus. Er stellte den Fremden als »Ridley Wells, mein Bruder« vor. Ich drückte eine ledrige Hand.
Ridley Wells war insgesamt blasser als Jackson, der Gesichtsfarbe wie der Persönlichkeit nach, und er schien mir auch weniger intelligent zu sein. Er blinzelte viel. Er war in Reitkleidung, als sei er direkt von der Arbeit gekommen, die, so Jackson zu O’Hara, darin bestand, »schwierigen Pferden Manieren beizubringen«.
Ridley nickte und sagte klagend, mit stärkerem mundartlichem Einschlag als sein Bruder: »Ich bin bei jedem Wetter draußen auf der Newmarketer Heide, aber es ist ein undankbarer Job. Ich reite besser als die meisten Leute und werde unter Wert bezahlt. Können Sie mich nicht bei Ihrem Film gebrauchen?«
Jackson schüttelte resigniert den Kopf über Ridleys selbstmitleidige Haltung. O’Hara sagte, es sei leider nichts mehr frei. Ridley schaute drein, als habe man ihn schlecht behandelt; ein gewohnheitsmäßiger Ausdruck, nahm ich an. Mir wurde klar, warum Jackson von der Idee, Ridley heute mitzubringen, nicht begeistert gewesen war.
Jackson hatte offenbar noch das alte geschulte Trainerauge, denn nach einigen Höflichkeitsfloskeln meinte er: »Ihre Jockeys sind ganz schön rangegangen. Das war aufregender als die meisten normalen Rennen.«
»Das haben Sie mitgekriegt?« fragte O’Hara interessiert. »Haben Sie den Jubel nicht gehört? Der war nicht gespielt. Man hat uns zwar gesagt, wir sollten dem Sieger zujubeln, aber der Beifall kam ganz von selbst.«
»Allerdings«, sagte O’Hara, der selbst kein Pferdemensch war. Er sah meine Gäste nachdenklich an und sagte spontan zu mir: »Lassen Sie sich ruhig weiter von der Familie Batwillow begleiten, ja?«
Beschützen, meinte er.
Er wußte nicht, daß Jackson Wells mir gesagt hatte, ihm wäre es lieber, der Film würde nicht gedreht. Bei seiner
Frau und seiner Tochter fühlte ich mich jedoch sicher, und so drapierte ich sie wie einen lebenden Schild um mich, Mrs. Wells an dem einen Arm, Lucy am anderen, und ging mit ihnen allen zu Nash.
Obwohl Nash den Mann, den er darstellte, nicht hatte kennenlernen wollen, stellte ich sie ohne Trara einander vor: »Jackson Wells - Nash Rourke«, und sah zu, wie reserviert sie sich die Hand gaben.
Äußerlich waren sie einander nicht ganz unähnlich: die gleiche Statur, die gleiche Altersklasse, die gleiche kräftige Gesichtsmuskulatur. Jackson war blond und von sonniger Offenheit, Nash dagegen dunkelhaarig und als langjähriger Megastar aus Selbstschutz argwöhnisch. Lockerer im Umgang mit den Damen, signierte Nash Rennprogramme für Frau und Tochter Wells und gewann mühelos ihre Herzen. Er gab auch Ridley ein Autogramm, fand aber keinen Draht zu ihm.
Wir wollten Nash filmen, wie er die Stufen zur Tribüne hinaufging, um »sein«
Pferd im Rennen laufen zu sehen. Zu O’Haras gelinder Bestürzung lud er Mrs. Wells und Lucy ein, sich für die Aufnahme zu ihm und den Bodyguards zu stellen. Ridley folgte ihnen unaufgefordert die Stufen hinauf, so daß Jackson Wells ganz allein neben mir zurückblieb, mit einem Gesicht, als wünschte er, er wäre nicht gekommen.
»Ihre Frau hat nicht begriffen«, sagte ich.
»Was?« fragte er, doch er wußte, was ich meinte.
»Daß sie da jetzt neben Ihnen steht, vor sechsundzwanzig Jahren.«
»Das Alter stimmt nicht«, sagte er schroff. »Wir waren alle Kinder damals. Und Sie haben recht, es gefällt mir nicht.«
Er ertrug es jedoch mit Fassung und blieb unbewegt stehen, während Nash sein Double ablöste, die Stufen hinaufstieg und sich an genau der richtigen Stelle umdrehte, um sein Gesicht in Moncrieffs feinabgestimmtes Licht zu bringen. Wir filmten die Szene dreimal, und ich notierte die Einstellungen eins und drei als Kopierer; die ganze Zeit aber stand O’Hara quasi als mein Schutzengel links neben mir.
Ich grinste ihn an. »Vielleicht sollte ich mir einen Panzer zulegen«, sagte ich.
»Das ist überhaupt nicht komisch.«
»Nein.«
Irgendwie kann man nicht glauben, daß einem wirklich der Tod bevorsteht. Ich hatte die Dreharbeiten nicht unterbrochen, und wir filmten Stückchen für Stückchen den ganzen Nachmittag weiter, so daß ich manchmal für geschlagene zehn Minuten vergaß, an scharfen Stahl zu denken.
Irgendwann, als ich gerade wieder einmal auf die Licht-und Kameraeinrichtung wartete, stand ich neben Lucy ein wenig abseits vom Zentrum des Geschehens, sah in ihre wundersamen blauen Augen und fragte mich, wie alt sie war.
Sie sagte unvermittelt: »Sie haben Papa doch nach einem Foto von Sonia gefragt, damit Sie sie ihr im Film nicht zu ähnlich machen.«
»Richtig. Er hatte keins.«
»Mhm«, stimmte sie zu. »Aber, naja... ich habe eins. Das hab ich mal gefunden, hinten in einer Schublade. Eigentlich wollte ich’s Papa geben, aber er redet ja nicht über Sonia. Er will nichts von ihr hören. Da habe ich’s eben behalten.«
Sie klappte die kleine Handtasche auf, die sie über der Schulter trug, und gab mir das Bild, einen zerknitterten, aber deutlichen Schnappschuß, der ein hübsches Mädchen neben einem gut aussehenden jungen Mann zeigte. »So lassen Sie Yvonne dann nicht aussehen?«
Ich schüttelte den Kopf und las die mit Bleistift geschriebene Notiz auf der Rückseite des Fotos: »Sonia und Pig.«
»Wer ist Pig?« fragte ich.
»Keine Ahnung«, sagte Lucy. »Ich habe Pa nie von ihm reden hören. Aber das ist Pas Handschrift, er muß ihn also früher mal gekannt haben.«
»Lange bevor Sie geboren wurden.«
»Ich bin achtzehn«, sagte sie.
Ich kam mir alt vor. Ich sagte: »Könnten Sie mir das Foto mal leihen?«
Sie sah unschlüssig aus. »Ich möchte es nicht verlieren.«
»Bis morgen?« schlug ich vor. »Wenn Sie morgen wiederkommen.«
»Ich glaube, da wird nichts draus. Papa wollte eigentlich gar nicht herkommen. Er hat sich nur Mama gefügt, damit sie Nash Rourke sehen konnte.«
»Würden Sie und Ihre Mutter morgen wiederkommen?«
»Sie tut nichts, was Papa nicht recht ist.«
»Und Sie?«
»Ich hab kein Auto.«
»Dann leihen Sie mir das Foto doch für eine Stunde.«
Sie strahlte und willigte ein, und ich brachte das Foto mit flehentlicher Miene zu Moncrieff und bat ihn, mir ein gutes Negativ davon zu machen, von dem wir einen Abzug anfertigen könnten. Das Bild mußte wie üblich zum
Entwickeln nach London ins Kopierwerk gebracht werden, aber mit einigem Glück konnte ich es morgen früh haben.
Morgen früh. Noch heute erstochen. Sei schon still, dachte ich.
»Haben Sie«, fragte ich Lucy später, »einen Computer mit Drucker zu Hause?«
»Natürlich«, antwortete sie verwirrt. »Sonst kann man doch heute keine Farm mehr bestellen. Die Büroarbeit macht Papa verrückt. Warum fragen Sie?«
»Nur so. Wir haben hier ständig einen in Betrieb.«
Ich ließ mich näher darüber aus, um meine Frage zu entschärfen. »Jeder Zentimeter Film, jede Brennweite, jede Blende. alles wird vom Scriptgirl eingetragen. So finden wir jedes Einzelbild wieder und können außerdem sicherstellen, daß sich eine später gedrehte Szene nahtlos an die vorhergehende anschließt.«
Sie nickte halbwegs verstehend und fragte: »Und wer sind die tausend Leute, die alle im Nachspann auftauchen? Kamerabühne, Beleuchter. was machen die?«
»Die Leute von der Kamerabühne bewegen die Ausrüstung. Die Beleuchter setzen das Licht. Unser wichtigster Mann im Moment ist der Produktionsleiter. Er sorgt dafür, daß der Wagen, die Kulisse, die Requisiten und weiß ich was an Ort und Stelle sind, wenn wir sie brauchen.«
»Und Sie«, sagte sie mit wenig schmeichelhafter Skepsis, »haben die Oberaufsicht über das Ganze?«
»Ich und der Produzent. »Ohne uns kein Film.«
Sie sagte unverblümt: »Das hat auch Papa gesagt, aber Mama meinte, Sie seien zu jung.«
»Sind Sie immer so offen?«
»Mit sechzehn war ich ganz verschlossen«, sagte sie.
»Hab kein Wort rausgebracht. Vor einiger Zeit bin ich aber aus dem Ei geschlüpft.«
»Herzlichen Glückwunsch.«
»Papa sagt, ich rede Unsinn.«
»Darf man in dem Alter. Bleiben Sie zum Abendessen. Ich bringe Sie nachher heim.«
»Tut mir leid.«
Ihre Reaktion war automatisch, ihre blauen Augen erfüllt von Warnungen vor Stelldicheins mit Vergewaltigern und dergleichen. »Nicht wir allein.«
Ich lächelte schief. Ich hatte nur daran gedacht, tödlichen Messerstichen zu entgehen, nicht ans Bett. Du läßt nach, dachte ich, wenn dir jetzt schon eine Achtzehnjährige, die noch halb in den Kinderschuhen steckt, das Leben retten soll. Ich holte ihren Schnappschuß bei Moncrieff ab - alles klar, meinte er -, und gab ihn ihr wieder.
»Es war nicht so gemeint«, sagte sie verlegen, in einem kurzen Rückfall in die Sechzehn. »Ich meine, ich wollte Sie nicht kränken.«
»Aber keine Verführungsszenen. Das ist schon in Ordnung.«
Sie wurde rot und ging, vernünftig und verwirrt, zurück zu ihren Eltern, und ich dachte bei mir, das Bett wäre gar keine so schlechte Idee gewesen.
Dummerweise verschlang das Filmemachen sehr viel Zeit. In der dreimonatigen Vorbereitungsphase plante ich jeweils fieberhaft das Projekt, suchte Drehorte aus, entwickelte ein Gesamtkonzept - die Vision -, arbeitete das Skript um, fühlte mich in die Figuren ein. Während der Produktion, wie jetzt, arbeitete ich sieben Tage in der Woche und schlief wenig. Die Nachproduktion - das Aufnehmen der Musik und der Toneffekte, das wirkungsvolle
Zusammenschneiden von Bildern und Szenen zu einer gut erzählten Geschichte, die Debatten und Besprechungen und Voraufführungen - all das hatte oft in weiteren drei Monaten über die Bühne zu gehen. Und war ein Film dann fertig, saß mir der nächste schon im Nacken. In den letzten knapp zwei Jahren hatte ich drei Filme abgedreht. Der neue hier hatte bei weitem das größte Budget. Ich liebte die Arbeit, ich hatte das Glück, gefragt zu sein, ich empfand nicht das geringste Bedauern - nur kam ich anscheinend nicht dazu, mir eine Frau zu suchen.
Eines Tages konnte es mich ja immer noch treffen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Bis jetzt allerdings hatte der Himmel nur vereinzelte Schauer herabgeschickt, und Lucy sah nach fortdauernder Trockenheit aus.
Irgend jemand stieß unverhofft gegen meinen Ellbogen. Ich fuhr pochenden Herzens herum und blickte Moncrieff direkt in die Augen.
»Bißchen schreckhaft!« meinte er und sah zu, wie ich um Haltung rang. »Was haben Sie denn erwartet? Einen Tiger?«
»Mit Krallen«, gab ich zu. Ich bekam mich wieder in die Gewalt, und wir erörterten die nächste Szene.
»Alles in Ordnung?« fragte er verwirrt. »Fehlt Ihnen
was?«
Mir fehlte nichts, ich hatte einfach Angst. Ich sagte: »Mir geht’s gut. Aber, ehm. irgendein Spinner will den Film verhindern, und wenn Sie sehen sollten, wie in meiner Nähe jemand einen stumpfen Gegenstand schwingt, schreien Sie bitte.«
Er zog die Brauen hoch. »Stellt sich O’Hara deshalb hinter Sie, wo er nur kann?«
»Wahrscheinlich.«
Er dachte darüber nach. »Böses Ding, das Messer auf dem Trainingsgelände.«
Eine Pause. »Hätte Ivan um ein Haar erwischt.«
»Tun Sie mir den Gefallen und erinnern Sie mich nicht dran.«
»Ich soll nur die Augen offenhalten?«
»Genau.«
Wir beleuchteten und filmten ein paarmal Nashs Mienenspiel während des Rennens. Der Zuschauerblock hinter ihm, vorwiegend Komparsen, aber auch Einheimische, dazu Mrs. Wells, Lucy, Ridley und Nashs Leibwache, gehorchten Ed aufs Wort, schauten bei jeder Einstellung in die von ihm verlangte Richtung, riefen Oh und Ah, gebärdeten sich erst unruhig, dann aufgeregt und feuerten schließlich wild die Pferde an, deren Endkampf sie nur noch in der Erinnerung sahen.
Alle Gesichter bis auf das von Nash würden dank Moncrieffs Blendenzauberei ein wenig unscharf sein. Eins seiner Lieblingsobjektive mußte dazu eigens auf das Licht in den Augen des Schauspielers eingestellt werden. Der übrige Kopf, Hals, Haare und so weiter verschwammen dann schon leicht.
»Das Sonnenlicht geht weg«, sagte Moncrieff schließlich, wenn auch die Veränderung einem anderen Auge als dem seinen kaum aufgefallen wäre. »Wir sollten Schluß machen für heute.«
Ed dankte über Megaphon den Bürgern von Huntingdon für ihre Mitarbeit und lud sie ein, am nächsten Tag wiederzukommen. Sie klatschten. Zufriedene Gesichter ringsum. Nash gab, von den Leibwachen flankiert, Autogramme.
Auch Lucy stand die Freude über den gelungenen Tag im Gesicht, und sie kam zu mir, als ich mit O’Hara den
Drehplan für den nächsten Tag besprach, und reichte mir eine flache, etwa dreißig mal zehn Zentimeter große weiße Schachtel, die mit einem Gummi verschlossen war.
»Was ist das?« fragte ich.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ein Junge bat mich, es Ihnen zu geben.«
»Was für ein Junge?«
»Na, irgendeiner. Ein Geschenk, sagte er. Wollen Sie’s nicht aufmachen?«
O’Hara nahm es mir aus den Händen, streifte das Gummiband ab und öffnete die Schachtel vorsichtig. Im Innern lag auf zerknülltem weißem Büropapier ein Messer.
Ich schluckte. Das Messer hatte ein Heft aus dunklem poliertem Holz, das ringsum gerillt war, damit es gut in der Hand lag, einen schlichten schwarzen Fingerschutz und eine schmale, fast fünfzehn Zentimeter lange schwarze Klinge; insgesamt sah es gut und brauchbar aus.
»Mensch«, sagte Lucy. »Ist das schön.«
O’Hara schloß die Schachtel, ohne das Messer anzurühren, schlang wieder den Gummi drum und steckte sie in seine Jackentasche. Ich dachte bei mir, daß ein Messer in einer Schachtel immerhin besser war als ein Messer im Leib.
»Wir sollten alle Jungen festhalten«, sagte O’Hara, doch er sah ebensogut wie ich, daß es dafür zu spät war. Die Hälfte des Publikums war schon durch die Ausgänge verschwunden.
»Stimmt was nicht?« fragte Lucy stirnrunzelnd, da sie unsere Bestürzung spürte.
»Ach was«, ich lächelte in ihre blauen Augen. »Sie hatten hoffentlich einen schönen Tag.«
»Wunderschön!«
Ich küßte sie auf die Wange. In der Öffentlichkeit ließ sie es zu. Sie sagte: »Ich muß los, Papa wartet«, und verabschiedete sich unbekümmert mit einem Winken.
O’Hara nahm die weiße Schachtel aus der Tasche, öffnete sie vorsichtig noch einmal und zog ein längsgefaltetes, ebenfalls weißes Blatt Papier aus dem Deckel. Er gab es mir, und ich las, was daraufstand.
Es war wieder ein Computerausdruck: »Morgen.«
O’Hara und ich gingen gemeinsam hinaus zu den Wagen, und ich erzählte ihm von Dorothea und ihren Verletzungen. Noch einmal beschrieb ich, wie vor zwei Tagen schon, das Messer, das ich auf der Heide gefunden hatte. Er blieb abrupt stehen. »Wollen Sie damit sagen«, fragte er, »daß Ihre Bekannte mit eben dem Messer angegriffen worden ist? Dem von der Heide?«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber«, wandte er nachdenklich ein, »was für eine Verbindung sollte zwischen ihr und unserem Film bestehen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Es kann nicht dasselbe Messer gewesen sein.«
Besorgt, aber von seiner Ansicht überzeugt, ging er weiter.
»Die einzige Verbindung«, sagte ich, mit ihm gehend, »besteht darin, daß vor langer Zeit Dorotheas Bruder Valentine die Rennpferde von Jackson Wells beschlagen hat.«
»Viel zu weit hergeholt.«
»Und Valentine sagte, er habe mal einem gewissen Derry ein Messer gegeben.«
»Verdammt, Thomas, Sie reden wirres Zeug.« »Ja. Wie Valentine damals.«
»Wieso Valentine?«
»Er hat auch wirr geredet«, sagte ich. »Im Fieber.«
Ich habe den Jungen aus Cornwall umgebracht...
Zu viele Messer.
»Sie werden sehen«, sagte O’Hara energisch, »Sie werden morgen nicht erstochen.«
»Gut.«
Er lachte. »Sie sind ein Esel, Thomas.«
Er wollte mich in seinem Wagen mitnehmen, aber ich hatte Robbie Gill angerufen und erfahren, daß ich Dorothea kurz besuchen könnte, wenn ich vor sieben hinkam.
Im Krankenhaus hatte der unsägliche Paul sich in einem Lehnstuhl vor dem Einzelzimmer postiert, in das Dorothea verlegt worden war. Er stand schwerfällig auf, als er mich erblickte, machte zu meiner Überraschung aber nicht die Einwendungen, die ich erwartet hatte.
»Meine Mutter möchte Sie sehen«, sagte er mißbilligend. »Ich habe ihr gesagt, daß ich Sie hier nicht haben möchte, aber sie weint immer nur.«
Mit Paul, dachte ich, war eine kaum merkliche Veränderung vorgegangen. Seine übergroße innere Gewißheit schien erschüttert zu sein. Er trat zwar immer noch großspurig auf, aber es war nur noch halb soviel Dampf dahinter.
»Sie dürfen sie nicht ermüden«, mahnte er. »Fünf Minuten, damit hat sich’s.«
Paul öffnete Dorotheas Tür und kam zielstrebig mit hinein.
Dorothea lag auf einem hohen Bett, ihr Kopf ruhte auf einem Berg von Kissen, ihr altes Gesicht war fast so farblos wie das Bettzeug, bis auf die abscheulichen dunklen Prellungen und die fadendünnen, sauber vernähten Stichwunden. Sie hing an Schläuchen, einer Flasche, die ihr tropfenweise Blut zuführte, einer anderen mit einer klaren Flüssigkeit und einem von ihr selbst zu bedienenden System, mit dem sie bei Bedarf ein Schmerzmittel in ihre Blutbahn leiten konnte. Es sah nicht so aus, als wäre ihr Überleben schon gesichert. Ihre Augen waren geschlossen, ihr weißer Leib bewegungslos, selbst das Heben und Senken ihrer Brust schien zu schwach, um sich auf die Bettdecke zu übertragen.
»Dorothea«, sagte ich leise. »Sie haben Besuch, hier ist Thomas.«
Sie lächelte matt.
Pauls laute Stimme störte ihren Frieden. »Ich habe ihm gesagt, daß er fünf Minuten hat, Mutter. Und ich bleibe natürlich bei euch.«
Dorothea murmelte, sie wolle mich allein sprechen.
»Sei nicht albern, Mutter.«
Zwei Tränen erschienen unter ihren Augenlidern und zitterten in den Wimpern.
»Ach du lieber Gott«, sagte Paul schroff. »So geht das die ganze Zeit.«
Er drehte sich auf dem Absatz um und kam ihrem Wunsch nach, schien jedoch über seinen Ausschluß gekränkt zu sein. »Fünf Minuten«, war sein gewichtiges letztes Wort.
»Paul ist weg«, sagte ich, als die Tür sich hinter ihm schloß. »Wie geht es Ihnen?«
»Müde bin ich, Thomas.«
Ihre Stimme war leise, aber klar und deutlich. »Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin.« »Nein, das habe ich gehört. Robbie Gill hat es mir gesagt.«
»Robbie Gill ist sehr freundlich.«
»Ja.«
»Geben Sie mir Ihre Hand, Thomas.«
Ich zog den Besucherstuhl heran und tat, was sie verlangte, wobei mir lebhaft Valentines um meinen Unterarm gekrallte Hand einfiel. Dorothea hatte jedoch keine Sünden zu beichten.
»Paul hat mir erzählt«, sagte sie, »daß jemand, der hinter etwas her war, mein Haus verwüstet hat.«
»Leider ja. Ich habe es gesehen.«
»Was haben die gesucht?«
»Wissen Sie das nicht?«
»Nein, Thomas. Die Polizei hat mich schon gefragt. Es muß etwas von Valentine gewesen sein. Manchmal denke ich, ich weiß es. Manchmal meine ich, ich höre ihn schreien, daß ich es ihm sagen soll. Dann geht alles wieder weg.«
»Wer hat geschrien?«
Sie sagte unsicher: »Paul hat geschrien.«
»Aber nein.«
»Er schreit schon, wissen Sie. Er meint’s gut. Er ist mein Sohn, mein süßes Baby.«
Tränen der Schwäche und des Bedauerns liefen ihr an den Wangen hinunter. »Warum werden süße kleine Babys groß.?«
Ihre Frage endete in einem leisen Schluchzen, unbeantwortbar. »Er will sich um mich kümmern.«
Ich fragte: »Hat Robbie Gill mit Ihnen über die Privatklinik gesprochen?« »Wirklich schön. Da würde ich gerne hingehen. Aber Paul sagt.«
Sie schwieg und wedelte erschöpft mit einer weißen Hand. »Ich habe nicht die Kraft zu streiten.«
»Robbie Gill kann Sie verlegen«, drängte ich. »In ein paar Tagen, wenn Sie mehr bei Kräften sind.«
»Paul sagt.«
Sie schwieg; die Anstrengung, sich ihm entgegenzustellen, war zuviel für sie.
»Ruhen Sie sich aus«, sagte ich. »Machen Sie sich keine Gedanken. Schlafen Sie, lassen Sie sich treiben und tanken Sie Kraft.«
»Sie sind sehr lieb, Thomas.«
Sie lag eine Weile still, dann sagte sie: »Ich weiß bestimmt, was der gesucht hat, aber ich komme nicht drauf.«
»Was Paul gesucht hat?«
»Nein, Thomas. Nicht Paul.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich bringe alles durcheinander.«
Nach einem neuerlichen Schweigen fragte sie: »Wie viele Messer hatte ich?«
»Wie viele.«
»Die Polizei hat mich das gefragt. Wie viele Messer in der Küche seien. Ich kann mich nicht erinnern.«
»Kein Mensch weiß, wie viele Messer er in der Küche hat.«
»Nein. Sie sagten, es seien keine Messer mit Blut daran im Haus gewesen.«
»Ach so, ja.«
»Wenn ich heimkomme, sehe ich vielleicht, was für ein Messer fehlt.«
»Mag sein, ja. Möchten Sie, daß ich Ihr Haus ein wenig in Ordnung bringe?« »Das kann ich doch nicht verlangen.«
»Ich tu’s gern.«
»Paul wollte es machen. Er fragt mich andauernd. Er schimpft mit mir, aber ich weiß nicht, wer den Schlüssel hat. Zu dumm, was? Ich kann nicht nach Hause gehen, weil ich keinen Schlüssel habe.«
»Den Schlüssel finde ich schon«, sagte ich. »Möchten Sie von dort was haben?«
»Nein, Thomas. Ich möchte nur wieder daheim bei Valentine sein.«
Die Tränen kamen wieder. »Valentine ist tot.«
Ich streichelte ihre weiche Hand.
»Es war ein Fotoalbum«, sagte sie plötzlich und schlug die Augen auf.
»Was denn?«
»Was sie gesucht haben.«
Sie sah mich bekümmert an, mit hellblauen Schatten um die Augen.
»Was für ein Fotoalbum?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe keins, nur ein paar alte Schnappschüsse in einer Schachtel. Bilder von Paul, als er klein war. Ich hatte nie einen Fotoapparat, aber Freunde haben mir Abzüge geschenkt.«
»Wo ist die Schachtel?«
»In meinem Schlafzimmer. Aber es ist kein Album. Deshalb habe ich erst nicht daran gedacht. Es ist so verwirrend, alles.«
»Mhm. Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Und Robbie Gill wird sauer, wenn ich Sie ermüde, von Paul ganz zu schweigen.«
Ein Lächeln glomm in den alten Augen auf. »Ich kann doch ruhig müde sein. Hab ja sonst nichts zu tun.«
Ich lachte. »Es ist schon ein Jammer«, sagte ich, »daß Paul nun doch Valentines Bücher abgeschleppt hat. Er bestreitet es, aber er muß sie weggeholt haben, denn sie sind nicht mehr im Haus.«
Dorothea runzelte die Stirn. »Nein, Thomas, Paul hat sie nicht geholt.«
»Nein?«
Ich war skeptisch. »Hat er jemanden beauftragt?«
»Nein, Thomas.«
Sie legte die Stirn noch mehr in Falten. »Valentine wollte ja, daß Sie seine Bücher bekommen, und ich weiß, daß er in die Luft gegangen wäre, wenn Paul sie an sich gebracht hätte, denn er mochte Paul nicht besonders, er hat sich nur meinetwegen mit ihm abgefunden, leider.«
»Und. wer hat sie nun?«
»Bill.«
»Wer?«
»Bill Robinson, Thomas. Bei ihm sind sie sicher.«
»Aber Dorothea, wer ist Bill Robinson, und wo und weshalb hat er die Bücher?«
Sie lächelte schuldbewußt. »Na ja, ich hatte Angst, Paul könnte wiederkommen und versuchen, sie mir abzuschwatzen. Er läßt mir manchmal keine Ruhe, bis er kriegt, was er will, Thomas, aber schließlich ist er mein Sohn. Deshalb habe ich Bill Robinson gesagt, er soll sie alle abholen und in seine Werkstatt bringen, und weil er mich gut leiden kann, hat er sie gleich geholt, und bei ihm sind sie auch wirklich gut aufgehoben, Thomas, er ist ein netter junger Mann, er repariert Motorräder.«