Kapitel 6

Ein Polizist versperrte mir den betonierten Fußweg. »Was ist passiert?« fragte ich.

»Gehen Sie bitte zurück, Sir.«

Er war jung, kräftig, geschäftsmäßig und hatte wenig Verständnis für unbekannte Vertreter der Allgemeinheit. Seine Aufgabe war es, eine kleine Gruppe von Schaulustigen weit genug vom Geschehen fernzuhalten.

Ich versuchte es noch einmal. »Die Leute, die hier wohnen, sind Freunde von mir.«

»Bleiben Sie bitte zurück, Sir.«

Er sah mich kaum an, ungewollt eindrucksvoll, eine solide physische Schranke, die ich nicht anzugreifen gedachte.

Ich zog mich durch die Schar der Schaulustigen zurück und benutzte meinen ständigen Begleiter, das Mobiltelefon, um Dorotheas Nummer anzurufen. Erst nach sehr langer Zeit, wie mir schien, meldete sich die gequälte Stimme einer Frau: »Hallo?«

»Dorothea?« sagte ich. »Hier ist Thomas.«

»Oh. Ach nein, hier ist Betty. Wo sind Sie, Thomas? Können Sie herkommen?«

Ich erklärte, daß ich draußen stand, aber nicht hereingelassen wurde, und Sekunden später kam sie hastig den Weg hinunter, um mich zu holen. Der massige Polizeibe-

amte trat achselzuckend zur Seite, als habe er seine Schuldigkeit getan, und ich eilte mit Betty zur Eingangstür.

»Was ist passiert?« fragte ich sie.

»Jemand ist eingebrochen. Es ist schrecklich. sie haben Dorothea beinah umgebracht. wie konnten sie nur? Dr. Gill ist gerade erst gekommen, und die Polizei auch, und alles ist voll Blut, und sie machen Fotos, es ist einfach unglaublich.«

Wir gingen ins Haus, und im Innern sah es aus, als wäre ein Tornado durchgefegt.

Valentines Schlafzimmer gleich neben der Haustür war ramponiert: Schubladen lagen ausgekippt auf dem Fußboden, auf ihrem verstreuten Inhalt. Der Kl ei der schrank stand offen und war leer. Bilder waren von den Wänden gerissen, ihre Rahmen zerbrochen. Matratzen und Kissen waren aufgeschlitzt, die Füllungen quollen heraus.

»So sieht’s hier überall aus«, jammerte Betty. »Auch in den Badezimmern und der Küche. Ich muß wieder zu Dorothea. ich habe Angst, sie stirbt.«

Sie ließ mich stehen und verschwand in Dorotheas Schlafzimmer, und ich ging zögernd um eine große Lache angetrockneten Blutes im Flur herum und folgte ihr.

Ich hätte nicht zu befürchten brauchen, daß ich stören könnte - das Zimmer war voller Leute. Robbie Gill verdeckte mir weitgehend die Sicht auf Dorothea, die stumm, mit Schuhen an den Füßen, Strümpfen an den Beinen, auf ihrem zersäbelten Bett lag. Zwei Sanitäter mit einer fahrbaren Trage nahmen den halben verfügbaren Raum ein. Eine uniformierte Polizistin und ein Fotograf waren an der Arbeit. Betty zwängte sich durch das Gedränge und winkte mir, ihr zu folgen.

Robbie Gill, der aufschaute und mich sah, nickte zur Begrüßung und trat einen Schritt zurück mit dem Ergebnis, daß ich Dorothea ganz sehen konnte und Übelkeit und ohnmächtige Wut mich überkamen.

Sie war voll Blut, verquollen und bewußtlos, mit schweren Schnittwunden an Wange und Stirn und einem roten Etwas an der Stelle ihres Mundes.

»Ihr rechter Arm ist gebrochen«, diktierte Robbie Gill der mitschreibenden Polizistin. »Sie hat innere Verletzungen.«

Er schwieg. Selbst für einen Arzt war das zuviel. Dorotheas Kleidung war aufgeschlitzt, die alten Brüste und der Bauch entblößt; zwei Schnittwunden an ihrem Leib bluteten stark, die eine war so tief, daß ein Eingeweidewulst aus der Bauchdecke heraustrat, eine hell schimmernde, schwellende Insel in einem nassen roten Meer. Der Blutgeruch war überwältigend.

Robbie Gill nahm steriles Verbandszeug aus seiner Tasche und bat alle außer der Polizistin, den Raum zu verlassen. Die Beamtin sah mehr als bleich aus, blieb aber auf ihrem Posten, während wir anderen schweigend gehorchten.

Betty zitterte, mit Tränen auf den Wangen.

»Ich bin noch mal vorbeigekommen, um nachzusehen, ob sie sich auch was zu essen gemacht hatte. Sie vernachlässigt sich, seit Valentine nicht mehr da ist. Ich bin durch die Hintertür rein, in die Küche, und alles war demoliert. ganz schrecklich. und dann hab ich sie gefunden, sie lag auf dem Flur in ihrem Blut, ich dachte, sie sei tot. Ich habe Dr. Gill angerufen, weil seine Nummer direkt neben dem Telefon in der Küche lag, und er hat die Polizei und den Krankenwagen mitgebracht. und sie haben sie ins Schlafzimmer gelegt. Ob sie wieder gesund wird?«

Die Angst schüttelte sie. »Sie darf nicht sterben, so nicht. Wie kann jemand so etwas tun?«

Ich hatte mir ähnlich böse oder noch schlimmere Szenen ausgemalt und sie gefilmt, aber wir hatten meist in Öl gelösten Lippenstift als Blut verwendet - nicht zu dünn, nicht zu dick - und als Eingeweide aufgeblasene Wursthaut, und hatten graugeschminkte Gesichter mit Schweiß aus dem Zerstäuber besprüht. Neue Leute kamen, anscheinend Kriminalbeamte. Betty und ich zogen uns in Dorotheas Wohnzimmer zurück, dessen chaotischer Zustand wiederum über alles Verständnis ging.

»Wie kann jemand das machen?« wiederholte Betty dumpf. »Wie kommt einer dazu?«

»Hatte sie irgend etwas Wertvolles?« fragte ich.

»Ach, woher denn? Nur ihre kleinen Nippsachen. Souvenirs und Modeschmuck. Sogar das Foto von ihrer Hochzeit mit Bill haben sie zerrissen. Wie kann man nur?«

Sie hob die Stücke eines Fotorahmens auf und beweinte das Leid ihrer Freundin. »Und ihre schöne rosa Vase. die ist zerschmissen. Sie hing an der Vase.«

Ich starrte auf die rosa Scherben, ging dann auf ein Knie nieder und suchte vergeblich den Teppich ab. »Ich habe den Schlüssel in die rosa Vase in meinem Wohnzimmer gelegt.«

Dorotheas Stimme war mir deutlich in Erinnerung. Der Schlüssel zu Valentines Arbeitszimmer, versteckt, damit ihr Sohn Paul sich nicht an den Büchern vergriff.

Bitter, aber wortlos fluchend ging ich durch den Flur und stieß die nur angelehnte Tür des Arbeitszimmers auf. Der Schlüssel steckte im Schloß. Valentines Heiligtum war so verwüstet wie das übrige Haus; alles Zerbrechliche war zerbrochen, alles weniger Feste zerschnitten, all seine Fotos zerstört.

Sämtliche Bücher waren verschwunden.

Ich öffnete den Schrank, in dem er die Alben mit seinen gesammelten Zeitungsartikeln aufbewahrt hatte.

Sämtliche Regale waren leer.

Betty legte mir zitternd die Hand auf den Arm und sagte: »Dorothea hat mir erzählt, daß Valentine Ihnen seine Bücher vermachen wollte. Wo sind die denn jetzt?«

Bei Paul, dachte ich automatisch. Aber er konnte seiner Mutter nicht solche Verletzungen beigebracht haben. Ein aufgeblasener, großspuriger Mensch, das war er, ja; aber nicht dermaßen bösartig.

Ich fragte Betty: »Wo ist Paul - ihr Sohn?«

»O je, o je! Er ist gestern heimgefahren. Er weiß noch nichts. Und ich habe seine Nummer nicht.«

Sie schwankte. »Ich halte das nicht aus.«

»Machen Sie sich keine Gedanken«, sagte ich. »Setzen Sie sich.

Ich finde seine Nummer schon raus. Jetzt mach ich Ihnen erst mal einen Tee. Wo ist Ihr Mann?«

»Heute ist sein Darts-Abend. in der Kneipe.«

»In welcher?«

»O je. Im Drachen.«

Eins nach dem anderen, dachte ich und ging in die Küche. Heißer, gesüßter Tee war ein gutes Mittel, um Zusammenbrüchen nach einem Schock vorzubeugen. Obwohl das kleine Haus von Autoritätsfiguren überfüllt zu sein schien, funkte mir niemand dazwischen. Ich brachte Betty den Tee, und Tasse und Teller klapperten in ihren zitternden Händen, während sie in Valentines Zimmer saß.

Im gottlob unzerfetzten Telefonbuch des alten Mannes sah ich die Nummer des Drachen nach und verdarb Bettys Mann eine dreifache Zwanzig, indem ich ihn bat, schnell nach Hause zu kommen. Dann fahndete ich nach Pauls

Nummer und entdeckte sie auf dem Notizblock, der beim Nebenanschluß in der Küche hing.

Paul meldete sich, und ich hörte seine unangenehme Stimme mit Erleichterung. Wenn er zu Hause in Surrey war, konnte er nicht hundertfünfzig Kilometer entfernt in Newmarket seine Mutter überfallen haben, dafür waren die blutenden Wunden noch zu frisch. Auch wenn sie jetzt noch lebte, eine solche Körperverletzung durch den eigenen Sohn hätte sie seelisch nicht verwinden können.

Er hörte sich durchaus entsetzt an. Er erklärte, er werde sofort losfahren.

»Ich weiß nicht, in welches Krankenhaus sie kommt«, sagte ich.

»Muß sie sterben?« unterbrach er.

»Wie gesagt, ich weiß es nicht. Warten Sie einen Moment, dann hole ich Ihnen Dr. Gill an den Apparat.«

»Dieser Blindgänger.«

»Bleiben Sie dran«, sagte ich. »Warten Sie.«

Ich ging aus der Küche, sah, daß die nach Fingerspuren suchenden Kriminalbeamten anfingen, Sachen einzustäuben, und lungerte herum, bis Dorotheas Tür sich öffnete und die Polizistin die Leute mit der Trage hereinwinkte.

Ich sagte zu ihr: »Mrs. Panniers Sohn ist am Telefon. Dürfte Dr. Gill bitte mit ihm sprechen?«

Sie sah mich geistesabwesend an und zog sich mit den Sanitätern in Dorotheas Zimmer zurück, gab die Nachricht jedoch offenbar weiter, denn bald darauf schaute Robbie Gill zur Tür heraus und fragte mich, ob Paul wirklich am Apparat sei.

»Ja«, bestätigte ich. »Er möchte mit Ihnen reden.«

»Sagen Sie ihm, ich bin gleich soweit.«

Ich richtete es Paul aus. Ihm ging das alles nicht schnell genug. Ich bat ihn zu warten und ließ es dabei. Wütend und beunruhigt wegen Dorothea, besorgt wegen der verschwundenen Bücher, war es mir unmöglich, Paul zu beruhigen. Ich konnte ihm noch nicht einmal mein Mitgefühl aussprechen. Ich war sicher, er würde mir die Bücher höchstens zurückgeben, wenn ich ihn vor Gericht zerrte, und selbst dann hatte ich ja kein Verzeichnis, um festzustellen, was fehlte.

Robbie Gill begleitete Dorothea auf der rollenden Trage bis hinaus zum Krankenwagen und trug Sorge, daß sie vorsichtig behandelt wurde. Dann kam er mit ernster Miene wieder ins Haus, war mit wenigen Schritten an der Küchentür, wo ich wartete, ging zu dem Tisch in der Mitte und ergriff den Hörer.

»Mr. Pannier?« fragte er und verzog dann brummig das Gesicht, als Paul am anderen Ende loslegte.

»Mr. Pannier«, sagte Robbie energisch, »Ihre Mutter hat Schläge auf den Kopf bekommen. Davon ist sie bewußtlos. Ihr rechter Arm ist gebrochen. Zudem hat sie Stichverletzungen am Körper. Ich überweise sie nach Cambridge.«, er nannte das Krankenhaus, ».wo man sich sehr gut um sie kümmern wird. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob sie am Leben bleibt.«

Pikiert lauschte er Pauls Antwort. »Nein, sie ist nicht mißbraucht worden. Ich habe alles Erdenkliche getan. Rufen Sie doch nachher im Krankenhaus an. Es liegt jetzt nicht mehr in meinen Händen.«

Er warf den Hörer auf die Gabel, preßte die Lippen zusammen, als wollte er sich dadurch vom Fluchen abhalten, und rieb sich die Augen mit Daumen und Zeigefinger.

»Wie geht’s ihr wirklich?« fragte ich.

Er zuckte müde die Achseln, sein Gesicht entspannte sich. »Ich weiß es nicht. Mir scheint, sie hat sich gewehrt.

Sich mit dem Arm zu schützen versucht. Seltsam. es ist beinah, als hätte sie zwei Angreifer gehabt. einen, der sie mit einem harten, gezackten Gegenstand auf den Kopf geschlagen, und einen, der ein Messer benutzt hat. Vielleicht war es auch nur ein Angreifer, aber mit zwei Waffen.«

»Die Frage ändert nichts«, sagte ich,«aber warum ist sie überfallen worden?»

»Eine liebe, nette alte Dame! Die Welt ist verkommen. Alte Damen werden nicht verschont. Ich kann ihren Sohn nicht ausstehen. Sollte ich eigentlich für mich behalten. Hören Sie weg. Er wollte wissen, ob sie vergewaltigt worden ist.«

»Er ist ein absoluter Widerling.«

»Die Polizei hat gefragt, wieso das ganze Haus in so einem Zustand ist.«

Er deutete mit dem Arm auf die Verwüstung ringsherum. »Woher soll ich das wissen? Sie war nicht arm, aber auch nicht reich. Arme alte Leutchen. In letzter Zeit hatten beide auf Sie gebaut, wissen Sie das? Sie haben Sie geliebt in gewisser Weise. Schade, daß Sie nicht ihr Sohn sind.«

»Valentine war ein Teil meiner Kindheit.«

»Ja. Das hat er erzählt.«

»Und. wie geht’s jetzt weiter?«

»Die Polizei spricht von Mordversuch, wegen der Stichwunden. Aber. ich weiß nicht.«

»Was?« half ich nach, als er zögerte.

»Es ist vielleicht überspannt. ich weiß nicht, ob ich es der Polizei sage, aber man hätte ihr so leicht den Rest geben können. Nur ein gezielter Stich noch.«

Er schwieg. »Sie haben sie doch gesehen, nicht?«

»Ja, als Sie vom Bett zurückgetreten sind.«

Er nickte. »Genau. Sie haben die Stiche gesehen. Es sind zwei, einer eher oberflächlich, einer sehr tief. Der erste hat ihr die Kleider aufgeschlitzt. Wieso gab es keinen dritten? Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, das war ein nicht zu Ende geführter Mord. Ich glaube, der Täter hat es sich anders überlegt.«

Ich machte große Augen.

»Halten Sie mich ruhig für verrückt«, sagte er.

»Nein, ich halte Sie für klug.«

»Ich habe schon Messermorde gesehen. Die sind oft ein Bild der Raserei. Stichwunden noch und noch. Kopf kranke in Aktion. Die können nicht aufhören. Verstehen Sie?«

»Ja«, sagte ich.

»Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das erzähle. Geben Sie nichts drauf. Wenn wir Glück haben, kann Dorothea uns das alles einmal selbst erzählen.«

»Wieviel Glück braucht es dafür?«

»Offen gestanden«, sagte er bedrückt, »eine ganze Menge. Gehirnerschütterungen sind immer heikel. Ich glaube nicht, daß sie eine Hirnblutung hat, kann es aber nicht genau sagen. Aber die Bauchverletzung. die ist schlimm. Wenn da eine Infektion dazukommt. sie wird ja nächsten Monat achtzig. Aber an sich ist sie in Ordnung. gesund für ihr Alter, meine ich. Die beiden sind mir ans Herz gewachsen, auch wenn ich Valentine nach außen hin bekriegt habe, den sturen alten Bock.«

Ich hielt Robbie Gill für einen guten Arzt und sagte es ihm auch. Er wischte meine Worte beiseite.

»Kann ich Sie was fragen?« sagte ich.

»Natürlich.«

»Tja. wie lange ist der Überfall auf Dorothea her?«

»Wie lange das her ist?«

»Ja. Ich meine, ist sie überfallen worden, bevor das Haus ramponiert wurde? Die Fetzerei hier hat doch sicher einige Zeit beansprucht. Oder war sie unterwegs und ist im falschen Moment zurückgekommen? Oder hat jemand versucht, Informationen aus ihr herauszuprügeln, ist dabei zu weit gegangen und hat dann das ganze Haus auf den Kopf gestellt?«

»He, nun mal langsam«, protestierte er. »Sie denken wie ein Polizist.«

Wie ein Filmemacher, dachte ich. Ich fragte noch einmal: »Wann ist sie überfallen worden?«

Er schürzte die Lippen. »Das Haus wurde vorher demoliert.«

Wir verarbeiteten das schweigend.

»Sicher?« fragte ich schließlich.

Gill sagte: »Den relativ geringen Schwellungen und der starken Blutung nach war Dorothea noch nicht lange in diesem Zustand, bevor ihre Freundin Betty sie gefunden hat. Ich bin gleich nach Bettys Anruf hergekommen. Viel länger als fünf Minuten war ich nicht unterwegs. Betty kann vielleicht von Glück sagen, daß sie nicht zehn Minuten früher hergekommen ist.«

Er seufzte. »Gott sei Dank ist das nicht unser Problem. Wir können es der Polizei überlassen.«

»Ja.«

Er sah auf seine Uhr und meinte, es sei ein langer Tag gewesen, und auch da gab ich ihm recht. Die Polizisten erlaubten ihm zu fahren, nachdem sie seine Fingerabdrük-ke genommen hatten. Sie ließen sich auch meine und die von Betty geben: zur Eliminierung, wie es hieß. Sie nahmen kurze Aussagen von mir und Betty auf, und wir sagten ihnen, daß Pauls Fingerabdrücke wie die unseren überall sein würden.

Bettys Mann kam und holte sie mit tröstend ausgebreiteten Armen ab, während ich schließlich zum Bedford Lodge zurückfuhr und mit Moncrieff eine große therapeutische Dosis hinter die Binde kippte.

Von Ed auf meine Anweisung herbeizitiert, versammelten sich alle verfügbaren Crews, Techniker, Garderobenleute und Darsteller (außer Nash) am Sonntag morgen bei Tagesanbruch auf dem Stallhof.

Ich stieg auf einen Stuhl, um ihnen meine Rede zu halten, und fragte mich in der frischen, immer windigen Luft East Anglias, wie Shakespeare wohl auf die Idee gekommen war, daß irgendwer außer den nächststehenden Rittern die Ansprache Heinrichs des Fünften vor Agincourt verstanden haben konnte bei dem Geklirr so vieler Rüstungen auf Pferderücken und ganz ohne Mikrophon.

Ich hatte wenigstens ein Megaphon, ein meinem Publikum bestens vertrautes Gerät.

»Inzwischen«, sagte ich laut, als die Bewegung in der Gesellschaft zu ungeduldigem Warten abgeebbt war, »haben Sie sicher alle das >Sterngeflüster< im Daily Drumbeat von gestern gelesen.«

Ich erntete Nicken, große Augen und manch ein sarkastisches Lächeln. Keinen offenen Spott. Immerhin etwas.

»Sie können sich denken«, fuhr ich fort, »daß unsere Muttergesellschaft in Hollywood über den Artikel stark beunruhigt war. Glücklicherweise konnte unser Produzent sie überzeugen, daß Sie alle hier sehr gute Arbeit leisten. Es mag einigen von Ihnen gefallen, anderen nicht, aber Hollywood hat bekräftigt, daß ich weiterhin Regie führe. Nash Rourke hat ihnen gesagt, er sei dafür. Folglich bleibt alles beim alten. Ob Sie meine Persönlichkeit so einschätzen wie der Drumbeat oder nicht - wenn Sie weiter hier mitwirken wollen, verpflichten Sie sich bitte stillschweigend, für den Film Ihr Bestes zu geben. In unser aller Interesse sollte die Produktion eines sehenswerten, spannenden Spielfilms Vorrang haben vor allen persönlichen Gefühlen. Sie sollen später einmal befriedigt sagen können, daß Sie an diesem Film mitgearbeitet haben. Es geht also weiter im Text, das heißt, die Pfleger satteln jetzt bitte ihre Pferde, und alle anderen machen nach dem Zeitplan weiter, den Ed verteilt hat. Alles klar? Okay.«

Ich ließ das Megaphon sinken, stieg von dem Stuhl runter und wandte der Gesellschaft den Rücken, um zu Moncrieff zu stoßen, der demonstrativ hinter mir gestanden hatte.

»Die haben Sie auf Vordermann gebracht«, meinte er mit beifälliger Ironie. »Man könnte einen Film drehen über die Entstehung dieses Films.«

»Oder ein Buch schreiben«, sagte ich.

Unser weiblicher Star, Silva Shawn, kam federnden Schrittes über den Hof zu uns. Wie üblich, wenn sie nicht im Rollenkostüm war, trug sie weite, flatternde Lagen dunkler Kleidung, die ihr bis an die Fesseln reichten, dazu schwarze Doc-Martens-Treter und einen anthrazitgrauen Hut, der aussah wie ein auf ihren Brauenbögen sitzender, plattgedrückter Schlappzylinder. Sie ging mit weit ausgreifenden Schritten und reckte bei Besprechungen meist das wohlgeformte Kinn vor, was in der Körpersprache hieß: Macht euch über mich lustig, wenn ihr es wagt.

O’Hara hatte mich eindringlich davor gewarnt, ihr Komplimente zu machen, die sie als sexuelle Belästigung auslegen konnte, und das fand ich gar nicht leicht, denn die ersten Wörter, die mir spontan zu ihr einfielen, waren, von »lecker« abgesehen, »göttlich«, »bezaubernd« und »äußerst begehrenswert«, doch O’Haras Anweisung lautete: »Sagen Sie niemals Schätzchen zu ihr.«

»Warum nehmen Sie sie, wenn sie so empfindlich ist?« hatte ich ihn gefragt, und seine knappe Antwort war: »Sie kann schauspielern.«

Ihr Beitrag zu diesem Film hatte sich bisher weitgehend auf die recht freizügigen (von Howard »nein, nein, nein« bestöhnten) Bettszenen mit Nash beschränkt, die wir in der Vorwoche gedreht hatten. Dabei waren wir Howards Skript im Dialog treu geblieben: Nur, daß ich entgegen seiner Absicht Nash und Silva ihren Text nicht voll angekleidet sagen ließ, erboste ihn. Er hatte ihren zurückhaltenden Gefühlsaustausch im Wohnzimmer angesiedelt. Ich hatte ihn ins Schlafzimmer verlegt, die verbale Zurückhaltung zwar übernommen, aber sich steigerndes physisches Verlangen dagegengesetzt. Ohne Scheu (»Körper sind etwas Natürliches«) hatte Silva zart ausgeleuchtete Nacktaufnahmen von sich im Badezimmer machen lassen.

Die Muster hatten manchen Puls beschleunigt, auch meinen. Ob sie es wahrhaben wollte oder nicht, Silvas Schauspielerei war von einer Sinnlichkeit, die der von ihr privat eingenommenen Haltung diametral entgegenstand.

Sie war in der vergangenen Woche nicht in Newmarket gewesen, da sie anderweitigen Verpflichtungen hatte nachkommen müssen, aber heute morgen sollte sie ein Pferd auf der Heide bewegen und Gebrauch von einem reiterlichen Können machen, auf das sie stolz war. Wie es bei Filmaufnahmen fast immer üblich ist, drehten wir die Szenen nicht in chronologischer Reihenfolge: Die Begegnung zwischen dem Trainer und Cibbers Frau, die wir heute filmten, war ihr erstes Zusammentreffen, sie lernten sich kennen, ganz harmlos zunächst, aber schon bald versprachen sie sich mit den Augen mehr.

Silva sagte unleidlich: »Sie haben mir hoffentlich ein gutes Pferd besorgt.« »Er ist schnell«, sagte ich nickend.

»Und sieht er gut aus?«

»Selbstverständlich.«

»Und ist er gut trainiert?«

»Ich habe ihn selbst geritten.«

Wortlos verlagerte sie ihr beinah allumfassendes Mißvergnügen auf Moncrieff, den sie für einen Chauvi hielt, obwohl er es wie sonst kaum jemand verstand, selbst häßliche Frauen schön auf die Leinwand zu bringen.

Man hätte annehmen können, nach so vielen Jahren des Studiums weiblicher Rundungen sei Moncrieff dafür unempfänglich geworden, aber wann immer wir zusammenarbeiteten, verliebte er sich in die Hauptdarstellerin, und Silva schien keine Ausnahme zu sein.

»Platonisch«, hatte ich ihm angeraten. »Schön die Hände weg.

Okay?«

»Sie braucht mich«, hatte er geseufzt.

»Beleuchten Sie sie und basta.«

»Diese Backenknochen!«

Silva hatte ihn glücklicherweise bisher alles andere als ermutigt. Mir war schon an dem Tag, als ich sie kennenlernte, aufgefallen, daß sie mehr Augen für Männer in Schlips und Kragen, mit kurzen Haaren und glattrasiertem Kinn hatte, eine Vorliebe, die hoffen ließ, daß sie den zottelbärtigen, linkischen, nachlässig gekleideten Moncrieff auch weiterhin nicht richtig wahrnehmen würde.

»Ich glaube«, sagte ich höflich zu Silva, »Sie werden in der Maske erwartet.«

»Wollen Sie damit sagen, daß ich spät dran bin?«

Ich schüttelte den Kopf. »Die Versammlung hat uns alle aufgehalten. Trotzdem hoffe ich, daß wir mit den Heideszenen bis Mittag fertig werden.«

Sie entfernte sich federnd, mit flatternden Röcken, eine Aussage eigener Art.

»Himmlisch«, hauchte Moncrieff.

»Gefährlich«, sagte ich.

Nash traf gähnend mit seinem Rolls ein und ging zum Umkleiden und zur Maske ins Haus. Sekunden nach ihm kam ein Mann von ganz ähnlicher Statur auf einem Fahrrad in den Stallhof gefahren und ließ den Kies aufspritzen, als er scharf neben Moncrieff und mir bremste.

»Morgen«, sagte der Neuankömmling kurz und stieg ab. Von Respekt keine Spur.

»Guten Morgen, Ivan«, erwiderte ich.

»Sind wir noch im Geschäft?«

»Sie haben sich verspätet«, sagte ich.

Er nahm die Bemerkung zu Recht als Rüge und verzog sich mitsamt seinem Fahrrad ins Haus.

»Den kann ich nicht leiden«, sagte Moncrieff. »Ein frecher Sack.«

»Ganz egal. Lassen Sie ihn aussehen wie Sankt Georg, wie einen strahlenden Helden.«

Nash selbst war eine imposante Erscheinung, wenn er zu Pferd saß, doch bei jeder Pace, die über den Schritt hinausging, traten Mängel zutage, so daß wir bei Fernaufnahmen statt Nash den Stuntman Ivan traben oder kantern ließen. Ivan verdiente seinen Lebensunterhalt mit dem Reiten vor der Kamera und hatte sich eine Aufsässigkeit angewöhnt, die seine Chancen auf ein berufliches Weiterkommen trübte. Ich hatte auch gehört, daß er in Kneipen damit angab, wie nah er Nash Rourke stand, den er schon einmal in einem Film gedoubelt hatte. Nash dies, Nash das, Nash und ich. In Wirklichkeit trafen sie sich selten und unterhielten sich noch seltener. Ivan hatte ein paar kurze geschäftsmäßige Transaktionen zu einer Beziehung aufgebauscht.

In vielen anderen Rennsportzentren fahren die Trainer mit dem Landrover hinaus, um ihr Lot bei der Arbeit zu sehen, doch auf der weitgehend weglosen Heide um Newmarket ist es noch immer üblich, alles vom Pferd aus zu beaufsichtigen, und es war keine Frage, daß Nash im Sattel eindrucksvoller wirkte als am Steuer eines Wagens mit Vierradantrieb. Der Sexappeal des Megastars brachte das Geld herein. Meine Aufgabe war es, diese Ausstrahlung herauszuarbeiten, sie aber natürlich erscheinen zu lassen, und das war bei Nash gar nicht schwierig.

Moncrieff fuhr mit zwei Kamerateams auf einer der wenigen Straßen zu den Positionen, die wir am Abend vorher vereinbart hatten. Die Pferde sollten einen Hang hinauf kantern, und eine Kamera sollte von hinten, die andere von vorn aufnehmen, wie sie über den Kamm in das Licht der tiefstehenden Sonne kamen; ein Effekt, so hoffte ich, wie ein Trompetentusch nach einer leisen, aber lyrischen Introduktion. Ich hörte oft Soundtracks im Kopf, lange bevor ein Komponist die Musik zum Film entwickelte.

Ed, der auf die Minute genau wußte, wann die Einstellung beginnen sollte, blieb unten beim Stall. Ich hätte ohne weiteres fahren können, entschloß mich aber, zu Moncrieff hinaufzureiten; und ich nahm das für Silva bestimmte Pferd, um ihm den Hals rundzumachen, das heißt, es aufzuwärmen, damit es brav unter ihr ging und nicht bockte. Silva mochte stolz auf ihre Reitkunst sein, aber O’Hara würde es mir nicht danken, wenn sie abgesetzt wurde und auf das edle Hinterteil plumpste.

Der schreckliche Ivan sollte allein auf dem Pferd, das sonst Nash ritt, zum Hügelkamm kantern. Dort sollte er anhalten, sein Pferd wenden und stehenbleiben, so daß er sich als Silhouette gegen den heller werdenden Himmel abhob. Ich hatte ihm eigens eingeschärft, den günstigen Lichtstand nicht durch einen Fehler zu vergeuden.

Er war gekränkt gewesen, daß ich ihm einen Fehler zutraute.

»Dann machen Sie’s richtig«, sagte ich.

Ich stieß zu Moncrieff und dem auf halber Höhe des Hangs postierten Kamerawagen und gab Seufzer der Erleichterung von mir, als Ivan uns einen wunderschönen Kanter bergan lieferte, an der richtigen Stelle anhielt und wendete und Pferd und Reiter sich klar und herrlich schwarz auf goldenem Grund abzeichneten.

»Jesus Maria«, sagte Moncrieff, konzentriert durchs Objektiv schauend. »Das ist ein Hit.«

Er hielt fünfzehn kostbare Sekunden drauf.

»Noch mal?« tippte ich an.

Moncrieff vergewisserte sich, daß der Film sauber durchs Bildfenster gelaufen war, und schüttelte den Kopf. »Das war ziemlich ideal.«

»Gut. Kopieren. Und für die lange Einstellung mit den übrigen Pferden legen wir eine neue Rolle ein.«

Ich bat Ed noch einmal über Sprechfunk, den Zeitplan einzuhalten, ließ die Aufnahme wie stets vom Materialassistenten beziffern und sah zu, wie das Lot in einem schnellen Kanter bergauf strömend gefilmt wurde. Ich rief der hinterm Berg stehenden Kamera zu, sie sollte übernehmen, doch Perfektion ist rar, und erst als ich selbst über den Berg geritten war, um den Ablauf von dort aus zu koordinieren, bekam ich, nach einigem Gestöhn und zwei Wiederholungen, meinen Trompetentusch.

Als die Totalen endlich im Kasten waren, warteten die

Berittenen noch in einer wogenden Heerschar auf unser Okay und auf weitere Anweisungen. Ivan saß wichtigtuerisch auf Nashs Pferd, jedoch ein wenig abseits, und ich stand jetzt bei Moncrieff und beriet mich mit ihm, die Augen auf dem Negativbericht.

Ich sah nicht, was geschah. Ich hörte einen Ausruf der Entrüstung von Ivan und anderes Geschrei. Viel schreckhafte Bewegung kam unter den Reitern auf, doch ich hielt das zunächst für den üblichen Rummel, der entsteht, wenn in einer Gruppe von Pferden eins nach dem anderen auskeilt.

Ivan rappelte sich fluchend vom Boden auf. Ein Pferd mit Reiter löste sich aus der Gruppe und jagte über den Hügel in Richtung Newmarket. Ich dachte gereizt, daß ich ein paar Leuten auf die Finger klopfen mußte, und ärgerte mich über die vertane Zeit.

Ivan kam mit seiner Beschwerde zu mir gestürmt.

»Dieser Irre«, sagte er wütend, »ist mit einem Messer auf mich los!«

»Das gibt’s doch nicht.«

»Hier, schauen Sie.«

Er hob den rechten Arm, damit ich seine Jacke sehen konnte, ein Tweedsakko vom gleichen Zuschnitt wie dasjenige, das Nash gewöhnlich in den Trainingsszenen trug. Ungefähr in Taillenhöhe war der Stoff von vorn nach hinten zwanzig Zentimeter aufgeschlitzt.

»Wenn ich’s doch sage!«

Ivan war nicht nur empört, sondern außer sich vor Angst. »Er hat ein Messer gehabt.«

Erschrocken begriff ich, daß er die Wahrheit sagte, und schaute unwillkürlich nach dem Pferd, das ich geritten hatte, doch es wurde ein ganzes Stück entfernt trockengeführt. Das nächstbeste Transportmittel war einer der Kamerawagen, auch wenn seine Schnauze in die falsche Richtung wies. Ich klemmte mich hinter das Steuer, wendete stuntreif im Dreieck, jagte über das Gras in Richtung Newmarket und erblickte den fliehenden Reiter weit vor mir, sobald ich über den Hügel kam.

Sein Vorsprung war zu groß, als daß ich eine reelle Chance gehabt hätte, ihn einzuholen. Auf Gras war ein Pferd so schnell wie ein Wagen, und er brauchte nur bis in die Stadt zu kommen; wenn er dann im Schritt weiterging, wurde er sofort unsichtbar, denn Newmarket war von eigens angelegten Reitwegen durchzogen, auf denen die Lots vom Stall zum Trainingsgelände auf der Heide gelangen konnten, ohne den Straßenverkehr zu behindern. Ein langsamer Reiter auf einem Reitweg wurde selbst am Sonntagmorgen zu einem unauffälligen Bestandteil des Straßenbildes.

Mir kam der Gedanke, daß ich vielleicht versuchen sollte, ihn zu filmen, aber die Kamera war mit Blick nach hinten auf dem Wagen montiert, da sie normalerweise vor ihrem Objekt herfuhr und herannahende Autos, Menschen oder Pferde aufnahm. Bis ich angehalten, gewendet und den Platz hinter der Kamera eingenommen hatte, würde meine Beute selbst für Vergrößerungen zu weit entfernt oder gänzlich außer Sicht sein.

Ich wollte schon aufgeben, da wurde das Pferd vor mir plötzlich jäh gezügelt, der Reiter machte kehrt und kam auf mich zu. Der Wagenmotor heulte auf. Der Reiter hob den Kopf. Offenbar sah er mich bergab auf sich zu rasen. Er riß sein Pferd wieder herum und galoppierte noch schneller als zuvor in Richtung Newmarket.

Obwohl sich der Abstand zwischen uns verringert hatte, war er so gut wie entkommen. Seine Gestalt hob sich kaum noch gegen die weiter vorn liegenden Gebäude ab.

Ich mußte mir eingestehen, daß ich ihn nicht mehr einholen würde, und dafür wollte ich dann wenigstens herausbekommen, was ihn veranlaßt hatte, anzuhalten und kehrtzumachen.

Ich brachte den Wagen möglichst nah an der Stelle, wo er meiner Schätzung nach gewendet hatte, zum Stehen und sprang heraus, um zu schauen, was er wohl gesehen und für so wichtig gehalten hatte, daß er deswegen seine Flucht unterbrach.

Er war auf die Stadt zugeritten. Ich schaute dorthin und konnte nichts Beunruhigendes entdecken. Es schien keinen Grund für seine Vollbremsung zu geben, aber einer, der in diesem Tempo flüchtete, hielt nur an, wenn es sein mußte.

Wäre es ein Film. warum würde er anhalten?

Weil er etwas verloren hatte.

Der mit dichtem Gras bewachsene Hang des Trainingsgeländes war so breit wie eine Rollbahn und fast ebensolang. Es gab keine Gewähr dafür, daß ich an der richtigen Stelle war. Hatte der Reiter einen kleinen Gegenstand verloren, konnte ich den ganzen Tag suchen. Hatte er etwas Belangloses verloren, würde es mir gar nichts sagen, wenn ich es fand. Und doch hatte er angehalten.

Ich machte unschlüssig ein paar Schritte. Das Terrain war einfach zu groß. Überall Gras, meilenweit. Ich schaute zum Hügelkamm hinauf und sah die ganzen Filmpferde mit ihren Reitern oben stehen wie die am Horizont auftauchenden Indianer in einem alten Pionierwestern. Hinter ihnen ging die Sonne auf.

In meiner Hast hatte ich da oben mein Funksprechgerät liegenlassen. Am besten, ich kennzeichnete den Punkt, wo ich gerade war, fuhr wieder hinauf und stellte die Pfleger an, damit sie den Hang systematisch zu Fuß abkämmten und schauten, ob sich irgend etwas Merkwürdiges am Boden fand.

Ich markierte die Stelle, indem ich meinen hellblauen Pullover auszog und auf die Erde warf: etwas Kleineres würde man übersehen. Ich machte kehrt, um wieder in den Wagen zu steigen.

Die Sonne erhob sich strahlend über dem Hügel, und zwanzig Schritte vor mir glitzerte etwas im Gras.

Ich ging hin, um nachzusehen, denn wo Rennpferde arbeiten, sollte nichts Glitzerndes sein - und blieb atemlos, wie angewurzelt stehen.

Der flüchtende Reiter hatte sein Messer verloren.

Kein Wunder, daß er es sich wiederholen wollte. Ich starrte auf das Ding, das vor meinen Füßen im Gras lag, und war beeindruckt und abgestoßen zugleich. Es war kein gewöhnliches Messer. Es hatte eine breite zweischneidige Klinge, etwa zwanzig Zentimeter lang, und einen stabförmigen Griff mit vier wie schwere Ringe aussehenden Fingerlöchern auf der einen Seite. Die Klinge war aus Stahl und der Griff gelblich, wie matt gewordenes Messing. Im ganzen war das Messer gut dreißig Zentimeter lang, kompakt, massiv, beängstigend und ungemein gefährlich.

Ich sah den Hang hinauf. Die Pfleger standen da und warteten auf Instruktionen.

Jeder verhält sich wahrscheinlich so, wie er ist. Ich ging zum Wagen, stieg ein und setzte ihn genau über das Messer, damit niemand die Waffe aufheben oder entfernen konnte; damit kein Pferd darauf treten und sich verletzen konnte.

Dann sprang ich hinten in den Wagen, schaltete die Kamera ein und filmte die Kette der Reiter, die sich schwarz gegen die aufsteigende Sonne abhob.

Auch wenn ich wieder der Arbeitslosigkeit ins unerbittliche Gesicht sah, schien es mir ein Jammer, eine solche Aufnahme zu vergeuden.

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