Ermordet?«
»Leider ja.«
»Wo? Und, ehm. wie?«
Als wäre es unvermeidlich, teilte mir die schottische Stimme mit: »Er ist in Dorotheas Haus umgebracht worden. erstochen.«
Ich seufzte; ein Stöhnen. »Weiß es Dorothea schon?«
»Die Polizei hat eine Beamtin zum Krankenhaus geschickt.«
»Arme, arme Dorothea.«
Er sagte unverblümt: »Jetzt wird sie nicht mehr herumkommandiert.«
»Aber sie hat ihn geliebt«, wandte ich ein. »Sie hat das Baby geliebt, das er mal war. Ihren kleinen Sohn. Sie wird am Boden zerstört sein.«
»Gehen Sie zu ihr«, sagte Robbie. »Sie verstehen Sie ja offenbar. Mir war es immer ein Rätsel, daß sie ihn hat gewähren lassen.«
Sie brauchte jemanden, der sie in den Arm nahm, dachte ich. Der sie festhielt, wenn sie weinte. Ich sagte: »Was ist mit Janet Pauls Frau?«
»Die Polizei hat sie benachrichtigt. Sie wird jetzt auf dem Weg hierher sein.«
Ich sah auf meine Uhr. Fünf nach sieben. Ich hatte Schmerzen, hatte Hunger und mußte noch die morgigen Aufnahmen mit Nash und Moncrieff besprechen. Trotzdem.
»Robbie«, sagte ich, »gibt’ s von Professor Derry eine Anschrift?«
»Eine Telefonnummer.«
Er las sie vor. »Was ist mit Dorothea?«
»Ich fahre gleich zu ihr. So in vierzig Minuten könnte ich am Krankenhaus sein. Können Sie dafür sorgen, daß man mich zu ihr läßt?«
Er konnte und versprach mir, es zu tun. Wer den Mord an Paul entdeckt habe, fragte ich.
»Ich, verdammt noch mal. Heute nachmittag gegen drei bin ich hingefahren, weil ich gestern abend bei Dorothea in der Küche ein Notizbuch hatte liegenlassen. Ich wollte mir bei ihrer Freundin Betty wieder den Schlüssel holen, aber sie sagte, sie hätte den Schlüssel nicht mehr, sie habe ihn heute früh Paul gegeben. Also bin ich rüber zum Haus und hab geklingelt - das blöde leise Glöckchen -, und weil keiner kam, bin ich hintenrum zur Küchentür, und die war offen.«
Er schwieg. »Paul lag in der Diele, fast genau an der Stelle, wo Betty Dorothea gefunden hat. Nur daß kein Blut da war. Der Stich hat ihn sofort getötet, und er war seit Stunden tot. Er wurde offenbar mit einem von Dorotheas großen Küchenmessern umgebracht. Das Messer steckte noch, und es ist ihm an einem Punkt etwas oberhalb des rechten Ellbogens von hinten tief in die Brust getrieben worden.«
»Robbie«, sagte ich entgeistert.
»Ja. Fast die gleiche Stelle wie bei Ihnen. Der Griff stand heraus. Ein normaler Küchenmessergriff, nichts Ausgefallenes. Kein Fury. Also habe ich die Polizei verständigt, und die haben mich den ganzen Tag da im Haus festgehalten, aber ich konnte ihnen nicht sagen, was Paul da gewollt hat. Woher sollte ich das wissen? Ich konnte ihnen gar nichts sagen, außer daß ihm das Messer anscheinend ins Herz gedrungen war und es zum Stillstand gebracht hatte.«
Ich räusperte mich. »Sie haben ihnen nichts von. mir gesagt?«
»Nein. Das hätten Sie doch nicht gewollt, oder?«
»Wirklich nicht.«
»Aber jetzt sieht die Sache anders aus«, meinte er zweifelnd.
»Nicht, wenn die Polizei Pauls Mörder rasch findet.«
»Ich habe nicht den Eindruck, daß sie weiß, wo sie suchen soll. Aber sie wird eine Sonderkommission einrichten. Dann kommen alle möglichen Fragen. Darauf sollten Sie sich besser schon mal vorbereiten, denn Sie waren nach dem Überfall auf Dorothea dort im Haus, und die haben Ihre Fingerabdrücke.«
»Allerdings.«
Ich überlegte ein wenig und fragte: »Ist es gesetzwidrig, wenn man mit einem Messer attackiert wird und es nicht anzeigt?«
»Ich weiß nicht genau«, sagte Robbie, »aber ich weiß, daß es verboten ist, ein Messer wie das Fury in der Öffentlichkeit mit sich herumzutragen, und das hat O’Hara gestern abend, als Sie es mitgenommen haben, getan. Damit könnte er sich eine Geldstrafe und sechs Monate Knast einhandeln.«
»Machen Sie Witze?«
»Nein. Es gibt jetzt strenge Gesetze über das Tragen gefährlicher Waffen, und gefährlicher als Fury geht’s kaum.«
»Vergessen Sie, daß Sie es je gesehen haben.«
»Kinderspiel.«
Wir hatten die Küche am Abend vorher sauber zurückgelassen: Die Schutzwesten, mein Hemd, mein Pullover und Robbies Ärzteabfall waren in einen Müllsack gewandert, den wir am Hals verknotet und mitgenommen hatten, um ihn unauffällig zu einem Haufen ähnlicher Säcke am Bedford Lodge zu stellen, wo täglich Berge von Müll und leeren Flaschen abgeholt wurden.
Robbie sagte abschließend noch einmal, er werde den Schwestern klarmachen, daß es in Ordnung sei, wenn ich Dorothea besuchte, und bat mich, ihn nachher noch mal anzurufen.
Ich versprach es ihm, sagte tschüs und wählte die Nummer von Professor Meredith Derry, der zu meiner Erleichterung an den Apparat geholt wurde und sich bereit erklärte, mir eine halbe Stunde etwas über Messer zu erzählen, insbesondere, wenn ich dafür eine Beratungsgebühr zahlte.
»Selbstverständlich«, schlug ich ein. »Das Doppelte, wenn’s heute abend geht.«
»Kommen Sie, wann Sie wollen«, meinte der Professor und nannte mir seine Anschrift und beschrieb den Weg dahin.
Dorotheas Kummer war so tief und herzzerreißend, wie ich befürchtet hatte. Die Tränen flossen, sobald sie mich sah, schwache, endlose stille Tränen, kein Aufheulen und Schluchzen vor Schmerz, sondern eine heftige Trauer um vergangene Zeiten ebensosehr wie um einen frischen Verlust.
Ich legte eine Weile den Arm um sie und hielt dann einfach ihre Hand, während ich bei ihr saß, bis sie schließlich nach einem auf dem Bett liegenden Papiertuch tastete und sich matt die Nase putzte.
»Thomas.«
»Ja, ich weiß. Es tut mir sehr leid.«
»Er wollte nur mein Bestes. Er war ein guter Sohn.«
»Ja«, sagte ich.
»Ich habe es ihm nicht genug gedankt.«
»Sie brauchen sich nicht schuldig zu fühlen.«
»Tu ich aber. Ich kann nichts dafür. Ich hätte mich gleich nach Valentines Tod von ihm mitnehmen lassen sollen.«
»Nein«, sagte ich. »Hören Sie auf damit, liebe Dorothea. Sie trifft überhaupt keine Schuld. Sie haben sich nichts vorzuwerfen.«
»Aber warum? Warum bringt jemand meinen Paul ums Leben?«
»Die Polizei wird es herausfinden.«
»Wenn ich nur daran denke.«
Die Tränen kamen wieder und hinderten sie am Sprechen.
Ich ging aus dem Zimmer und bat die Schwestern, ihr ein Beruhigungsmittel zu geben. Sie hatte schon eins bekommen. Mehr nur auf ärztliche Anweisung, sagten sie.
»Dann holen Sie einen Arzt«, erwiderte ich gereizt. »Ihr Sohn ist ermordet worden. Sie hat Schuldgefühle.«
»Schuldgefühle? Wieso?«
Das war zu schwer zu erklären. »Bis morgen früh ist sie ernstlich krank, wenn Sie nichts unternehmen.«
Ich ging wieder zu Dorothea und dachte, ich hätte meinen Atem verschwendet, doch zehn Minuten später kam eine der Schwestern munter herein und gab ihr eine Spritze, von der sie fast augenblicklich einschlief.
»Jetzt zufrieden?« fragte mich die Schwester mit einem Anflug von Sarkasmus.
»Könnte nicht besser sein.«
Ich verließ das Krankenhaus und half meinem Fahrer, den Weg zu Professor Derry zu finden. Für Abendarbeit bekam der Fahrer den anderthalbfachen Lohn, und er sagte, es eile ihm überhaupt nicht, mich nach Hause zu bringen.
Professor Derry war im Ruhestand nicht auf Rosen gebettet. Er lebte im Erdgeschoß eines hohen Hauses, das horizontal in Wohnungen aufgeteilt war, und die seine bestand aus Arbeitszimmer, Schlafzimmer, Bad und einer mit einem Wandschirm abgeteilten Kochnische, alles klein und kompakt in braunem Holz, der Rückzugsort einer kargen Gelehrtenexistenz.
Er war weißhaarig, vom Alter gebeugt und gebrechlich, die Augen und der Verstand aber wach und klar. Er winkte mich in sein Arbeitszimmer, ließ mich in einem hölzernen Lehnstuhl Platz nehmen und fragte, was er für mich tun könne.
»Ich wollte eine Auskunft über Messer haben.«
»Ja, ja«, unterbrach er. »Das sagten Sie schon am Telefon.«
Ich schaute mich um, konnte aber in dem Raum kein Telefon entdecken. Draußen in der Diele hatte allerdings eins gestanden - ein Münztelefon, das er mit den Mietern vom ersten Stock teilte.
Ich sagte: »Können Sie mir etwas über ein Messer sagen, wenn ich Ihnen eine Zeichnung davon zeige?«
»Ich kann’s versuchen.«
Ich zog die Zeichnung des Messers von der Heide aus meiner Jackentasche und gab sie ihm. Er faltete das Blatt auseinander, strich es glatt und legte es auf seinem Schreibtisch beiseite.
»Ich muß Ihnen mitteilen«, sagte er unter vielen kleinen, raschen Lippenbewegungen, »daß ich kürzlich schon einmal wegen eines solchen Messers konsultiert worden bin.«
»Sie sind ein anerkannter Fachmann, Sir.«
»Ja.«
Er musterte mein Gesicht. »Wieso fragen Sie nicht, wer mich konsultiert hat? Sind Sie nicht neugierig? Ich mag keine Studenten, die nicht neugierig sind.«
»Es war die Polizei, nehme ich an.«
Die alte Stimme lachte gackernd, mit pfeifendem Atem. »Ich sehe, ich muß umdenken.«
»Nein, Sir. Ich selbst habe das Messer auf der Newmar-keter Heide gefunden. Die Polizei hat es in Verwahrung genommen. Ich wußte nicht, daß sie sich damit an Sie gewandt hat. Die reine, unverfälschte Neugier hat mich hergeführt.«
»Was haben Sie studiert?«
»Ich war nicht auf der Universität.«
»Schade.«
»Danke, Sir.«
»Ich wollte mir einen Kaffee machen. Möchten Sie Kaffee?«
»Ja, gern. Vielen Dank.«
Er nickte eifrig und setzte in seiner Kochnische Wasser auf, gab Instantkaffee in zwei Tassen und fragte, ob ich Milch und Zucker wollte. Ich half ihm, denn das kleine häusliche Zwischenspiel war Zeichen seiner Bereitschaft, sich mitzuteilen.
»Die beiden jungen Polizisten, die hier waren, mochte ich nicht«, sagte er unerwartet. »Sie haben mich mit Opa angeredet. Herablassend.«
»Dumm von ihnen.«
»Ja. Die Schale wird alt, aber nicht der Verstand, der darin wohnt. Die Leute sehen die Schale und nennen mich Opa. Oder Alterchen. Was halten Sie von >Alterchen«
»Die würde ich umbringen.«
»Genau.«
Er lachte wieder gackernd. Wir gingen mit dem Kaffee zu unseren Stühlen. »Das Messer, mit dem die Polizei hier war«, sagte er, »ist die moderne Replik eines Nahkampfmessers, mit dem die US-Soldaten in Frankreich im Ersten Weltkrieg ausgerüstet waren.«
»Wau«, sagte ich.
»Gebrauchen Sie doch diesen lächerlichen Ausdruck nicht.«
»Gut, Sir.«
»Die Polizisten wollten wissen, wieso ich es für eine Nachbildung und nicht für das Original hielt. Ich sagte ihnen, sie sollten ihre Augen öffnen. Das gefiel ihnen nicht.«
»Und, ehm. woher wußten Sie’s?«
Er kicherte. »In den Stahl war >Made in Taiwan< eingestanzt. Na los, sagen Sie’s.«
Ich sagte: »Taiwan hieß im Ersten Weltkrieg noch nicht Taiwan.«
»Richtig. Es hieß Formosa. Und zu dem Zeitpunkt war es noch kein Industrieland.«
Er setzte sich und kostete seinen pulversparend aufgegossenen Kaffee. »Die Polizei wollte wissen, wem das
Messer gehörte. Woher sollte ich das wissen? Ich sagte, in England sei es verboten, ein solches Messer öffentlich zu tragen, und ich fragte, wo sie es gefunden hätten.«
»Was haben sie gesagt?«
»Nichts. Sie sagten, das ginge mich nichts an. Opa.«
Ich erzählte ihm im Detail, wie die Polizei zu ihrer Beute gekommen war, und er warf mir ein spöttisches »Wau« hin.
So langsam gewöhnte ich mich an ihn und an sein krami-ges Zimmer, registrierte die wandhohen, randvollen, valentinemäßigen Bücherregale, den schwerbeladenen antiken Schreibtisch aus Nuß, die zu wenig Licht spendende Messinglampe mit dem grünen Metallschirm, die grünspanfar-benen Samtvorhänge, die an dicken braunen Ringen von einer Querstange herabfielen, den unpassend modernen Fernseher neben der abgenutzten alten Schreibmaschine, die blaß verwelkten Hortensien in der Cloisonnevase und die Messinguhr mit dem römischen Zifferblatt, die den Abend eines Lebens mit ihrem Ticken begleitete.
Reinlich und ordentlich, roch das Zimmer nach alten Büchern, altem Leder, altem Kaffee, altem Pfeifentabakrauch, altem Mann. Es war trotz des kühlen Abends nicht geheizt. Ein schmaler Elektroofen stand schwarz und kalt da. Der Professor trug einen Pullover, einen Schal, eine abgewetzte Tweedjacke mit Ellbogenflicken und Hausschuhe aus braun kariertem Wollstoff. Er hatte eine Zweistärkenbrille, und er war sorgfältig rasiert: Er mochte alt und knapp bei Kasse sein, aber er ließ sich nicht gehen.
Ein undeutliches, silbern gerahmtes Foto auf dem Schreibtisch zeigte ihn in jüngeren Jahren, wie er lächelnd neben einer ebenfalls lächelnden Dame stand.
«Meine Frau«, erklärte er, als er sah, wo ich hinschaute. »Sie ist gestorben.« »Das tut mir leid.«
»So geht’s nun mal«, sagte er. »Es ist lange her.«
Ich trank meinen fad schmeckenden Kaffee, und er brachte behutsam sein Honorar zur Sprache.
»Ich habe es nicht vergessen«, sagte ich, »aber ich wollte Sie noch nach einem anderen Messer fragen.«
»Was für einem?«
»Eigentlich sind es zwei.«
Ich schwieg. »Das eine hat einen Griff aus poliertem streifigem Holz, das mir nach Rosenholz aussieht. Es hat einen schwarzen Handschutz und eine zweieinhalb Zentimeter breite, zweischneidige, schwarze Klinge, die knapp fünfzehn Zentimeter lang ist.«
»Eine schwarze Klinge?«
Ich bejahte es. »Die Waffe ist robust, zweckmäßig und gut geformt. Können Sie sie nach diesen Angaben schon bestimmen?«
Er stellte seine leere Tasse behutsam auf dem Schreibtisch ab und ließ sich auch meine geben.
Er sagte: »Das bekannteste Messer mit schwarzer Klinge ist das britische Kommandomesser. In dunklen Nächten gut geeignet, um Wachtposten zu töten.«
Beinah hätte ich wieder »wau« gesagt, nicht so sehr wegen des Inhalts seiner Antwort, sondern weil er einfach akzeptierte, daß Töten der Zweck solcher Waffen war.
»Sie werden normalerweise mit einer oliv-khaki-farbenen Stoffscheide geliefert, die einen Schlitz für ein Koppel hat und mittels Schnüren am Bein befestigt werden kann.«
»Dasjenige, das ich gesehen habe, hatte keine Scheide«, sagte ich.
»Schade. War es echt oder eine Kopie?« »Ich weiß es nicht.«
»Wo haben Sie es gesehen?«
»Ich habe es in einer Schachtel verpackt geschenkt bekommen. Von wem, weiß ich nicht, aber ich weiß, wo es ist. Ich schaue mal nach >Made in Taiwan<.«
»Im Zweiten Weltkrieg wurden sie zu Tausenden hergestellt, aber jetzt sind das Sammelstücke. Und in Großbritannien darf man solche Messer seit dem Strafrechtsgesetz von 1988 weder kaufen noch verkaufen, per Inserat anpreisen oder auch nur verschenken. Eine Sammlung kann beschlagnahmt werden. Niemand, der eine Sammlung besitzt, zeigt sie heutzutage noch.«
»Wirklich?«
Er lächelte matt über mein Erstaunen. »Wo kommen Sie her, junger Mann?«
»Ich lebe in Kalifornien.«
»Ah. Das erklärt’s. In den Vereinigten Staaten sind Messer aller Art erlaubt. Da drüben gibt es Clubs für Kenner, gibt es Monatsschriften, Fachgeschäfte, Ausstellungen, und man kann so gut wie jedes Messer im Versand bestellen. Hier ist es verboten, irgendein spitz zulaufendes Messer herzustellen oder zu importieren, dessen Klinge zweischneidig und länger als siebeneinhalb Zentimeter ist.«
Er schwieg. »Ich würde annehmen, sowohl das Nahkampfmesser, das mir die Polizei gezeigt hat, wie auch Ihr mutmaßliches Kommandomesser sind illegal aus den Staaten hierher gelangt.«
Ich wartete ein paar Sekunden, überlegte und sagte dann: »Wenn Sie mir ein Stück Papier geben, würde ich Ihnen gern noch ein Messer aufzeichnen.«
Er gab mir einen Notizblock, und ich zeichnete das Fury auf und nannte es beim Namen.
Derry betrachtete die Skizze unheilvoll schweigend und sagte schließlich: »Wo haben Sie das gesehen?«
»In England.«
»Wem gehört es?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich hatte gehofft, Sie wüßten das vielleicht.«
»Nein. Wie ich schon sagte, jeder, der hier bei uns so was besitzt, hält es geheim und unter Verschluß.«
Ich seufzte. Ich hatte große Hoffnungen auf Professor Derry gesetzt.
»Das Messer, das Sie gesehen haben«, sagte er, »nennt sich Armadillo. Fury ist der Markenname. Es wird aus rostfreiem Stahl in Japan hergestellt. Es ist teuer, schwer und unwahrscheinlich scharf und gefährlich.«
»Mhm.«
Nach einer Pause sagte ich: »Professor, was für Menschen haben Spaß daran, solche Messer zu besitzen, und sei es auch nur im geheimen? Oder vielleicht gerade im geheimen?«
»Fast jeder«, sagte er. »Dieses Messer ist in den USA ohne weiteres erhältlich. Es gibt Hunderttausende von Messerfreunden auf der Welt. Die Leute sammeln Schußwaffen, sie sammeln Messer, sie mögen das Gefühl der Macht.«
Seine Stimme verklang auf der Schwelle zum persönlichen Bekenntnis, und er blickte auf die Zeichnung nieder, als wollte er nicht, daß ich seine Augen sah.
»Besitzen Sie«, fragte ich vorsichtig und ohne Nachdruck, »eine Sammlung? Vielleicht aus der Zeit, als das Sammeln noch erlaubt war?«
»Was soll ich darauf antworten?« sagte er.
Eine Pause.
»Das Armadillo«, sagte er, »wird mit einer Sicherheitsschneide aus schwerem schwarzem Leder mit Knopfverschluß geliefert. Mit der Scheide kann man es am Gürtel tragen.«
»Dasjenige, das ich gesehen habe, hatte keine Scheide.«
»Es ohne Scheide zu tragen ist nicht ungefährlich und schon gar nicht erlaubt.«
»Ich glaube nicht, daß Sicherheitsbedenken eine große Rolle gespielt haben.«
»Sie sprechen in Rätseln, junger Mann.«
»Sie auch, Professor. Wir reden mißtrauisch um den heißen Brei herum.«
»Ich kann nicht wissen, ob Sie nicht zur Polizei gehen.«
»Und ich«, sagte ich, »weiß es umgekehrt auch nicht.«
Neuerliche Pause.
»Ich will Ihnen was sagen, junger Mann«, sagte Derry. »Wenn der Eigentümer dieses Messers es irgendwie auf Sie abgesehen hat, sollten Sie auf der Hut sein.«
Er wog seine Worte ab. »Normalerweise werden solche Messer weggeschlossen. Ich finde es beunruhigend, daß eines auf der Newmarketer Heide benutzt worden ist.«
»Könnte die Polizei den Besitzer ermitteln?«
»Äußerst unwahrscheinlich«, sagte er. »Sie wüßte gar nicht, wo sie anfangen sollte, und ich könnte ihr auch nicht helfen.«
»Und den Besitzer des Armadillo?«
Er schüttelte den Kopf. »Die dürften zu Tausenden produziert worden sein. Das Fury-Armadillo hat zwar eine Seriennummer, wenn ich nicht irre. Daran ließe sich ablesen, wann ein bestimmtes Messer hergestellt worden ist, und sie würde möglicherweise auch zu seinem ersten Besitzer führen. Aber danach kann es mehrmals verkauft, gestohlen oder verschenkt worden sein. Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand die Messer, die Sie gesehen haben, ans Licht gelassen hätte, wenn ihr Weg zu ihm zurückverfolgt werden könnte.«
Deprimierend, dachte ich.
Ich sagte: »Professor, bitte zeigen Sie mir Ihre Sammlung.«
»Auf keinen Fall.«
Stille.
Ich sagte: »Ich werde Ihnen sagen, wo ich das Armadillo gesehen habe.«
»Bitte sehr.«
Sein altes Gesicht war ruhig, abwartend. Er hatte nichts versprochen, aber ich brauchte mehr.
»Ein Bekannter von mir ist heute ermordet worden. Er wurde in einem Haus in Newmarket mit einem normalen Küchenmesser erstochen. Das Haus gehört seiner Mutter. Vorigen Samstag wurde sie im gleichen Haus mit einem Messer übel zugerichtet, aber die Waffe fand man nicht. Die Frau hat überlebt und erholt sich jetzt im Krankenhaus. Der Anschlag auf der Heide galt, wie ich Ihnen erzählt habe, wohl dem Hauptdarsteller unseres Films. Die Polizei ermittelt in allen drei Fällen.«
Er machte große Augen.
Ich sagte: »Auf den ersten Blick steht der Mord von heute in keiner Verbindung mit dem Anschlag auf der Heide. Ich bin mir nicht sicher, aber ich halte für möglich, daß es da doch eine Verbindung gibt.«
Er runzelte die Stirn. »Wie kommen Sie darauf?«
»So ein Gefühl. Zu viele Messer auf einmal. Und. hm. erinnern Sie sich an Valentine Clark? Er ist heute vor einer Woche an Krebs gestorben.«
Derrys Blick wurde noch gespannter. Als er nicht antwortete, sagte ich: »Valentines Schwester, Dorothea Pannier, war die Frau, die vorigen Samstag in dem Haus, das sie sich mit Valentine geteilt hatte, so übel zugerichtet wurde. Jemand hat das Haus durchstöbert. Heute war ihr Sohn Paul, Valentines Neffe, dort und wurde umgebracht. Da läuft wirklich ein gefährlicher Mensch frei herum, und je eher die Polizei ihn - oder sie - findet. desto besser.«
Unergründliche Gedanken beschäftigten den Professor minutenlang. Schließlich sagte er: »Ich begann mich für Messer zu interessieren, als ich noch ein Junge war. Irgend jemand schenkte mir ein Schweizer Offiziersmesser mit vielen Klingen. Das habe ich wie einen Schatz gehütet.«
Er lächelte flüchtig, mit kleinen Lippenbewegungen. »Ich war einsam als Kind. Das Messer gab mir das Gefühl, besser mit der Welt fertig zu werden. Genau das ist es, glaube ich, auch, was die Menschen zum Sammeln anregt, besonders zum Sammeln von Waffen, die man benutzen könnte, wäre man. nun ja, mutiger, oder hätte weniger Skrupel. Sie sind eine Krücke, eine geheime Kraft.«
»Verstehe«, sagte ich, als er innehielt.
»Messer haben mich fasziniert«, fuhr Derry fort. »Sie waren meine Gefährten. Ich habe sie überallhin mitgenommen. Ich habe sie mir ans Bein geschnallt oder um den Arm, unterm Hemdsärmel. Ich habe sie am Gürtel getragen. Sie fühlten sich warm an und gaben mir Selbstvertrauen. Das war natürlich die Pubertät. aber als ich älter wurde, habe ich mehr, nicht weniger gesammelt. Und mir eine vernünftige Erklärung für meine Leidenschaft zurechtgelegt. Ich war ein mit ernsthafter Forschung befaßter Student - glaubte ich wenigstens. So habe ich noch viele Jahre hindurch mein Selbstvertrauen aufgebaut. Ich wurde zum anerkannten Experten. Wie Sie wissen, holt man sich Rat bei mir.« »Ja.«
»Vor einigen Jahren ließ mein Bedürfnis nach Messern allmählich nach. Man könnte sagen, daß ich mit fünfundsechzig endlich erwachsen geworden bin. Trotzdem halte ich mich über Messer weiterhin auf dem laufenden, weil ich die Beratungsgebühren, so selten sie auch hereinkommen, gut gebrauchen kann.«
»Mhm.«
»Wie Sie erraten haben, besitze ich noch eine Sammlung, aber die sehe ich mir selten an. In meinem Testament habe ich sie einem Museum vermacht. Hätten die jungen Polizisten gewußt, daß es sie gibt, hätten sie sie konfiszieren können.«
»Das ist doch unmöglich!«
Mit dem nachsichtigen Lächeln eines Tutors, der einen dummen Studenten vor sich hat, zog er eine Lade seines Schreibtisches auf, kramte darin und brachte eine eng bedruckte Fotokopie zum Vorschein, die er mir gab.
Ich las die Überschrift:
KRIMINALVERFÜGUNGSGESETZ VON 1953.
ANGRIFFSWAFFEN.
»Nehmen Sie das zur späteren Lektüre mit«, sagte er. »Ich gebe es jedem, der sich nach Messern erkundigt. Und jetzt, junger Mann, erzählen Sie mal, wo Sie das Armadillo gesehen haben.«
Ich bezahlte meine Schuld. Ich sagte: »Jemand hat es in mich gestoßen. Ich habe es gesehen, nachdem es herausgezogen worden war.«
Er riß den Mund auf. Ich hatte ihn wirklich überrascht. Er faßte sich ein wenig und sagte: »War das ein Spiel?«
»Ich glaube, es sollte mein Tod sein. Das Messer hat eine Rippe getroffen, und ich lebe noch.« »Großer Gott.«
Er überlegte. »Dann hat die Polizei auch das Armadil-lo?«
»Nein«, sagte ich. »Ich habe triftige Gründe, nicht zur Polizei zu gehen. Ich vertraue Ihnen also, Professor.«
»Sagen Sie mir die Gründe.«
Ich erklärte die Sache mit den Häuptlingen und ihrer Angst vor Pechsträhnen. Ich sagte, ich wolle den Film zu Ende bringen und das könnte ich nicht, wenn die Polizei sich einmische.
»Sie sind auch so ein Besessener«, befand Derry.
»Sehr wahrscheinlich.«
Er wollte wissen, wo ich mit dem fraglichen Messer, ehm - Bekanntschaft geschlossen hatte, und ich sagte es ihm. Ich erzählte ihm von den Sicherheitswesten und von Robbie Gills Erster Hilfe; nur den Namen des Arztes verschwieg ich.
Als ich geendet hatte, wartete ich wieder eine ganze Weile auf seine Reaktion. Die alten Augen beobachteten mich ruhig.
Er stand auf. »Kommen Sie mit«, sagte er und führte mich durch eine braune Tür in einen hinteren Raum, der sich als sein Schlafzimmer erwies, eine wahre Mönchszelle mit blankem Holzfußboden und einem hohen, altmodischen Eisenbett mit einer weißen Tagesdecke. Es gab einen braunen Kleiderschrank aus Holz, eine schwere Kommode, und ein einzelner Stuhl stand vor den kahlen weißen Wänden. Das richtige Ambiente, dachte ich, für einen Erforscher des Mittelalters.
Er ging steif vor seinem Bett auf die Knie, als wollte er beten, griff statt dessen aber in Bodennähe unter den Überwurf und zog.
Ein großer Holzkasten auf Laufrollen, mit einem staubigen, durch ein Vorhängeschloß gesicherten Deckel, glitt langsam unter dem Bett hervor. Er maß ungefähr neunzig mal hundertzwanzig Zentimeter, war mindestens dreißig Zentimeter tief und sah unheimlich schwer aus.
Der Professor kramte einen Schlüsselring mit nur vier Schlüsseln hervor, zog das Vorhängeschloß ab, klappte den Deckel hoch und lehnte ihn gegen das Bett. Zuoberst im Kasten lag ein Stück grünes Baumwollflanell, und als er es wegnahm, wurden reihenweise schmale braune Pappschachteln sichtbar, jede mit einem sauberen weißen Etikett, auf dem in Maschinenschrift ihr Inhalt angegeben war. Er sah sie durch, murmelte, er habe sie seit Monaten schon nicht mehr angeschaut, und griff keineswegs auf gut Glück eine heraus.
»Das«, sagte er, die schmale Schachtel öffnend, »ist ein echtes Kommandomesser, keine Nachbildung.«
Des Professors Kommandomesser war in schützende Noppenfolie eingeschlagen, sah ausgepackt aber genauso aus wie dasjenige, das ich als Warnung erhalten hatte; nur war beim Original auch die Scheide dabei.
»Ich stelle meine Messer nicht mehr zur Schau«, sagte er überflüssigerweise. »Nach dem Tod meiner Frau, bevor ich hierherkam, habe ich sie alle weggepackt. Sie hat mein Interesse geteilt. Nicht von Anfang an, aber mit der Zeit. Sie fehlt mir.«
»Das glaube ich Ihnen.«
Er legte das Kommandomesser zurück und packte andere Schätze aus.
»Hier sind zwei Messer aus Persien mit gebogener Klinge, die Griffe und die Scheiden sind aus geprägtem Silber mit Lapislazulieinlagen. Die hier sind aus Japan. diese aus Amerika, mit geschnitzten Horngriffen in Form von
Tierköpfen. Alles natürlich Handarbeit. Durchweg erlesene Stücke.«
Durchweg tödlich, dachte ich.
»Dieses schöne Messer ist aus Rußland, neunzehntes Jahrhundert«, sagte er an einem Punkt. »Geschlossen ähnelt es, wie Sie sehen, einem Faberge-Ei, aber tatsächlich enthält es fünf Klingen.«
Er klappte die Klingen heraus, so daß sie eine Rosette aus spitzen Blättern um den eiförmigen Griff bildeten, der aus blauem Email mit feinen Goldstreifen bestand.
»Ehm.«, sagte ich, »Ihre Sammlung muß doch wertvoll sein. Warum verkaufen Sie sie nicht?«
»Junger Mann, lesen Sie den Zettel, den ich Ihnen gegeben habe. Es ist gesetzwidrig, solche Sachen zu verkaufen. Man darf sie nur an Museen weitergeben, nicht einmal an Privatpersonen, und auch nur an Museen, die sie ausstellen, ohne daran zu verdienen.«
»Erstaunlich.«
»Dem gesetzestreuen Bürger bindet es die Hände, aber Kriminelle kümmern sich nicht drum. Die Welt ist so mittelalterlich wie eh und je. Haben Sie das nicht gewußt?«
»Ich habe es geahnt.«
Er lachte gackernd. »Helfen Sie mir mal, das obere Brett aufs Bett zu heben. Ich zeige Ihnen ein paar Kuriositäten.«
Das obere Brett hatte eine Seilschlaufe auf beiden Schmalseiten. Ich faßte auf einer, er auf der anderen Seite an, und auf sein Kommando hoben wir es hoch. Das Brett war schwer. Nicht ganz das Richtige für mich.
»Was ist los?« wollte er wissen. »Hat Ihnen das weh getan?«
»Vom Armadillo noch«, sagte ich entschuldigend.
»Wollen Sie sich hinsetzen?«
»Nein, ich möchte Ihre Messer sehen.«
Er kniete sich wieder auf den Boden und öffnete weitere Schachteln, entfernte die Folie und legte mir jede Trophäe einzeln in die Hände, damit ich die »Ausgewogenheit« ihrer Proportionen fühlen konnte.
Seine »Kuriositäten« waren zum Teil besonders furchterregend. Es gab mehrere Dolche in der Art des amerikanischen Nahkampfmessers (des echten von 1918) und einen ganzen abschreckenden Satz entfernter Verwandter des Armadillo, Messer mit Griffen zum Durchfassen, halbmondförmigen Klingen und Sägezähnen, alles, was man braucht, um einen Gegner in Fetzen zu reißen.
Wenn ich ihm die Messer zurückgab, wickelte er sie gleich wieder ein und verstaute sie in ihrer Schachtel, nicht ohne alles im Vorübergehen abzuwischen.
Er zeigte mir ein schönes großes Kruzifix aus dunkelrotem Cloisonne mit einer goldenen Kette zum Umhängen, in dem sich ein Dolch verbarg. Er zeigte mir einen scheinbar ganz normalen Hosengürtel, dessen Schnalle sich mühelos abziehen ließ und sich als das Heft einer scharfen Dreiecksklinge entpuppte, die den Tod bringen konnte.
Professor Derry sprach eine ernste Warnung aus: »Thomas.« (den »jungen Mann« hatten wir hinter uns gelassen) »Thomas, wenn ein Mann - oder eine Frau - wirklich messernärrisch ist, müssen Sie davon ausgehen, daß alles, was er oder sie am Leib trägt, eine Messerscheide sein kann. Es gibt Schlüsselringe, Geldclips, Kämme mit versteckten Klingen. Sogar unterm Jackenrevers kann ein Messer versteckt sein, dafür gibt es durchsichtige Spezialscheiden zum Annähen. Ein gefährlicher Fanatiker weidet sich an seiner geheimen Macht. Ist Ihnen das klar?«
»Wird es allmählich.«
Er nickte einige Male und fragte, ob ich ihm helfen könne, das obere Brett wieder einzusetzen.
»Würden Sie mir erst noch ein anderes Messer zeigen, bevor wir das tun, Professor?«
»Aber natürlich.«
Er schaute abwesend auf das Heer von Schachteln. »An was dachten Sie denn?«
»Dürfte ich das Messer sehen, das Valentine Clark Ihnen mal geschenkt hat?«
Nach einer seiner verräterischen Schweigepausen sagte er: »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Sie kannten doch Valentine Clark, oder?« fragte ich.
Er richtete sich auf, um vom Schlafzimmer in sein Arbeitszimmer zurückzukehren, und löschte im Hinausgehen das Licht: Strom war für ihn teuer, nahm ich an.
Ich folgte ihm, und wir nahmen unsere Plätze in den Lehnstühlen wieder ein. Er fragte, in welcher Beziehung ich zu Valentine gestanden hätte, und ich erzählte die Sache mit meiner Kindheit und daß Valentine mir zuletzt seine Bücher vermacht hatte. »Ich habe ihm vorgelesen, als er nichts mehr sehen konnte. Ich war, kurz bevor er starb, noch bei ihm.«
Durch meine Ausführungen beruhigt, taute Derry auf. »Ich habe Valentine einmal recht gut gekannt. Wir lernten uns auf so einer lächerlichen Benefizveranstaltung kennen, wo man für einen guten Zweck herumsteht, Tee oder schlechten Wein aus kleinen Gläsern trinkt und sich wünscht, man wäre zu Hause. Ich konnte das nicht ausstehen. Meine liebe Frau hatte ein weiches Herz und fand immer wieder was, wo ich mit ihr hingehen sollte, und ich konnte es ihr nicht abschlagen. lange ist das her. Lange ist das her.«
Ich wartete das Ende seiner Anwandlung von Nostalgie und Einsamkeit ab, außerstande, ihn in seiner Wehmut zu trösten.
»Dreißig Jahre muß es her sein«, sagte er, »daß wir Valentine kennenlernten. Damals wurde Geld gesammelt, um den Transport lebender Pferde als Schlachtvieh für den Kontinent abzustellen. Valentine war einer der Redner. Er und ich waren uns einfach sympathisch. und dabei kamen wir aus so verschiedenen Ecken. Ich fing an, seine Kommentare in der Zeitung zu lesen, obwohl der Rennsport mich nicht weiter interessierte. Aber Valentine war so klug. und dabei immer noch als Hufschmied tätig: eine Brise frischer Luft für mich, der ich mehr die Enge des Universitätslebens gewohnt war. Meine Frau mochte ihn auch, und wir haben uns mit ihm und seiner Frau mehrmals getroffen, aber geredet haben immer Valentine und ich. Er kam aus seiner Welt und ich aus meiner, und vielleicht konnten wir deshalb miteinander über Dinge sprechen, die im Gespräch mit unseren Kollegen ausgespart blieben.«
Ich fragte ohne Nachdruck: »Was für Dinge?«
»Ach. Medizinisches manchmal. Übers Altern. Früher hätte ich Ihnen das nie erzählt, aber seit ich die Achtzig überschritten habe, bin ich fast meine sämtlichen Hemmungen los, mir geht nicht mehr alles so nah. Ich habe Valentine erzählt, daß ich Potenzprobleme hatte, obwohl ich noch keine sechzig war. Lachen Sie mich aus?«
»Nein, Sir«, sagte ich wahrheitsgemäß.
»Es war leicht, Valentine um Rat zu fragen. Man vertraute ihm.«
»Ja.«
»Wir waren Altersgenossen. Ich fragte ihn, ob er das Problem auch habe, aber er sagte mir, sein Problem sei das
Gegenteil, junge Frauen erregten ihn und es falle ihm schwer, seine Triebe zu zügeln.«
»Valentine?« rief ich erstaunt aus.
»Die Leute verbergen Dinge«, sagte Derry einfach. »Meine Frau fand es halb so schlimm, daß ich nicht mehr problemlos mit ihr schlafen konnte, aber anderen Leuten hat sie im Scherz dauernd erzählt, wie sexy ich sei. Dieses gräßliche Wort. Sie wollte, daß man mich bewundert, sagte sie.«
Er schüttelte den Kopf voll Zuneigung und Trauer. »Valentine hat mir einen Arzt empfohlen. Er selbst kannte allerlei Methoden, mit Impotenz fertig zu werden. Viele davon hatte er angeblich auf Gestüten kennengelernt! Er sagte, ich solle das locker nehmen und dürfe Impotenz nicht als etwas Peinliches oder Tragisches ansehen. Es sei ja kein Weltuntergang.«
Er schwieg. »Dank Valentine habe ich gelernt, mich zu bescheiden.«
»Er hat sehr vielen Leuten Gutes getan.«
Der Professor nickte, noch in Erinnerungen schwelgend. »Einmal hat er mir etwas erzählt, was ich nie habe nachprüfen können. Er hat mir versichert, es sei wahr. Ich wollte das immer schon wissen. Wenn ich Sie etwas frage, Thomas, geben Sie mir dann eine ehrliche Antwort?«
»Natürlich.«
»Vielleicht sind Sie zu jung dafür?«
»Versuchen Sie’s.«
»Im Vertrauen.«
»Ja.«
Nichts sei je vertraulich, hatte ich Moncrieff gesagt. Bekenntnisse doch wohl ausgenommen?
Der Professor sagte: »Valentine hat mir erzählt, daß eine Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr zum Gehirn eine Erektion bewirken kann.«
Er wartete auf meine Stellungnahme, die etwas schwer in Gang kam. Ich sagte zögernd: »Ehm. davon habe ich gehört.«
»Dann sagen Sie was dazu.«
»Ich glaube, es handelt sich da um eine perverse Sexualpraktik, die unter den Begriff des Autoerotismus fällt. In diesem Fall partielle Selbsterstickung.«
Er sagte ungeduldig: »Das hat Valentine mir schon vor dreißig Jahren erzählt. Ich frage Sie, ob es funktioniert!«
»Aus erster Hand weiß ich das nicht.«
Er sagte mit einem Anflug von Bitterkeit: »Weil Sie noch nie darauf angewiesen waren?«
»Bis jetzt nicht, nein.«
»Hat Ihnen denn mal jemand. was darüber erzählt?«
»Nicht aus erster Hand.«
Er seufzte. »Ich konnte mich nie überwinden, das auszuprobieren. Auch so eine Sache, die ich nie erfahren werde.«
»Gibt es noch andere?«
»Seien Sie nicht albern, Thomas. Ich bin Mediävist. Ich kenne die Fakten, die schriftlich überliefert sind. Ich versuche mich in diese vergangene Welt einzufühlen. Ich kann sie nicht riechen, nicht hören, nicht erleben. Ich habe mein Leben lang aus zweiter Hand gelernt und gelehrt. Wenn ich jetzt einschliefe und anno 1400 aufwachte, würde ich weder die Sprache verstehen noch mir auch nur ein Essen zubereiten können. Sie kennen sicher den alten Spruch: Wenn Jesus heute noch mal auf die Erde käme, um eine zweite Bergpredigt zu halten, würde ihn kein
Mensch verstehen, weil er Althebräisch mit dem Akzent eines Nazarener Zimmermanns spräche. Nun, ich habe mein Leben an eine unverstehbare Vergangenheit verschwendet.«
»Nein, Professor«, widersprach ich.
»Doch«, sagte er resigniert. »Nur kratzt mich das jetzt nicht mehr. Ich habe niemanden mehr zum Reden. Ich kann mich nicht mit öden Sozialarbeitern unterhalten, die meinen, sich um mich kümmern zu müssen, und >Alter-chen< zu mir sagen. Aber hier sitze ich und rede mit Ihnen, Thomas, dabei sollte so ein alter Narr wie ich es wirklich besser wissen.«
»Reden Sie nur«, sagte ich. »Reden Sie über Valentine.«
»In den letzten Jahren habe ich ihn kaum noch gesehen. Seine Frau starb. Meine auch. Man könnte denken, das hätte uns zusammengebracht, hat es aber nicht. Irgendwie waren es wohl die Frauen, die unsere Zusammenkünfte arrangiert haben. Valentine und ich haben uns praktisch auseinandergelebt.«
»Aber«, sagte ich, »wußte er in den ersten Jahren schon, daß Sie sich für Messer interessieren?«
»O ja, natürlich. Er war von meiner Sammlung begeistert. Er und seine Frau kamen immer zu uns, und die Frauen haben geplaudert, und ich habe Valentine die Messer gezeigt.«
»Er sagte mir, er habe Ihnen eins geschenkt.«
»Das hat er Ihnen gesagt.?«
»Ja.«
Der Professor runzelte die Stirn. »Ich weiß noch, wie er mir gesagt hat, ich dürfe nie jemandem erzählen, von wem ich das Messer habe. Ich sollte es nur aufbewahren, und eines Tages würde er es vielleicht zurückverlangen. aber er hat nie danach gefragt. Ich habe nicht mehr dran gedacht. Ich hatte es vergessen.«
Er schwieg. »Weshalb möchten Sie es sehen?«
»Aus Neugier. und Zuneigung zu meinem alten Freund.«
Er stand auf und kehrte mit mir auf den Fersen zum Schlafzimmer zurück. Trübe ging das Licht an; eine Spar-birne.
»Leider«, sagte mein Gastgeber unsicher, »sind drei Lagen Messer in der Kiste, und um an das Messer heranzukommen, das Sie sehen möchten, müssen wir auch das zweite Brett rausnehmen. Meinen Sie, Sie können mir helfen? Nur daß wir’s gerade auf den Boden stellen, es muß ja nicht aufs Bett.«
Ich versicherte ihm, daß das ginge, und mit der Linken ließ es sich dann auch etwas besser an. Die dritte Lage bestand, wie sich zeigte, nicht aus Messern in braunen Pappschachteln, sondern aus längeren Stücken, jedes nur in Noppenfolie eingewickelt und mit einem Etikett versehen.
»Das sind hauptsächlich Schwerter«, sagte Derry. »Und Stockdegen und Schirme mit eingebauten Degen. Vor ein-bis zweihundert Jahren dienten sie zum Schutz gegen Straßenräuber. Jetzt sind sie natürlich verboten. Heutzutage muß man sich ausrauben lassen.«
Er kicherte leise. »Wer wird denn gleich dem armen Räuber weh tun?«
Er überflog die Etiketten, während er mit den Fingern an den Reihen entlangfuhr.
»Na also. >Geschenk von V.C.<«
Er zog eine lange Plastikrolle heraus, riß einen Klebstrei-fen ab und rollte das Päckchen auseinander, um den Inhalt zu enthüllen.
»Bitte sehr«, sagte Professor Derry, »das ist Valentines Messer.«
Ich schaute es mir an. So ein Messer hatte ich noch nie gesehen. Es war mindestens vierzig, wenn nicht fünfundvierzig Zentimeter lang. Die zweischneidige, offensichtlich scharfe Klinge nahm knapp ein Drittel der Gesamtlänge ein und bildete ein langes, flaches Oval wie bei einer Lanze, mit spitz zulaufendem Blatt. Der lange Griff war schmal und über die ganze Länge zu einer engen Spirale gedreht, die oben in einem mehrfach durchbohrten, flachen runden Knauf endete.
»Das ist kein Messer«, sagte ich, »das ist ein Spieß.«
Derry lächelte. »Es ist zum Werfen gedacht.«
»Wofür denn?«
»Ich weiß es nicht. Valentine hat mich bloß gebeten, es in meine Sammlung aufzunehmen. Es ist aus gehämmertem Stahl. Einzigartig.«
»Aber wo hat er denn so etwas gekauft?«
»Gekauft?«
Das gackernde Lachen erschallte. »Haben Sie Valentines Beruf vergessen? Er war Schmied. Er hat das nicht gekauft. Er hat’s gemacht.«