Kapitel 7

Ich ordnete den Tag um.

Alle kehrten zum Stall zurück bis auf Moncrieff, den ich hinter dem Steuer des Kamerawagens zurückließ mit der strikten Anweisung, den Wagen selbst dann nicht zu entfernen, wenn wütende Männer, deren Aufgabe es war, Fahrzeuge von der Heide fernzuhalten, es von ihm verlangten. Ich hatte mich furchtbar versündigt, indem ich auf geheiligtem Trainingsgrund herumgefahren war, sagte ich ihm. Er dürfe den Wagen nicht von der Stelle bewegen.

»Wieso nicht?«

Ich erklärte es ihm.

»Ein Messer?«, sagte er ungläubig.

»Jemand wollte Nash wirklich ans Leder.«

»Unmöglich!« rief Moncrieff aus, aber mehr aus Empörung denn aus Unglauben.

»Tennisdamen, Eiskunstläufer, John Lennon«, sagte ich. »Wer ist schon sicher?«

»Scheiße.«

Notgedrungen, wenn auch zögernd, rief ich die Polizei an und sah bereits die ersten fetten Schlagzeilen vor mir -»Dreharbeiten in Newmarket vom Pech verfolgt.«

Scheiße, aber wirklich. Ich erwartete sie auf dem Stallhof, wo sämtliche Pfleger in Gruppen versammelt waren

und Ivan sich großartig damit ausgesöhnt hatte, daß er beinah verletzt worden wäre.

Die Beamten, die dann kamen, waren nicht die gleichen wie bei Dorothea. Ich fragte mich, ob sich die Polizei nicht wundern würde, wenn sich schließlich herausstellte, daß sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu zwei Messerstechereien gerufen worden war, sowenig sich auch ein Zusammenhang zwischen den Vorfällen erkennen ließ. Ich fragte mich, ob ihnen auffallen würde, daß ich beide Male am Schauplatz gewesen war.

Nash kam auf Eds Bitte hin in Maske und Kostüm aus dem Haus und stellte sich neben Ivan. Die Polizisten blickten von dem einen zum anderen und gelangten wie wir alle zu dem einzig möglichen Schluß. Mit ihren genau übereinstimmenden Reithosen, Tweedjacken und umgeschnallten Sturzkappen sahen sie auf zehn Schritt Entfernung gleich aus. Nur durch den Schnitt an der Seite von Ivans Jacke waren sie unschwer auseinanderzuhalten.

Ich sagte zu Nash: »Das könnte das Aus für den Film sein.«

»Es ist keinem was passiert.«

»Irgend jemand wollte Ihnen an den Kragen.«

»Aber es hat nicht geklappt«, sagte er.

»Sie nehmen das sehr gefaßt.«

»Thomas, ich lebe seit Jahren mit dieser Art von Gefahr. Wir alle leben damit. Die Welt ist voll von verrückten Fanatikern. Wer sich davon beunruhigen läßt, wagt sich doch nicht mehr vor die Tür.«

Er sah zu den Polizisten hinüber, die aufschrieben, was die Pfleger ihnen erzählten. »Arbeiten wir heute noch?«

Ich zögerte. »Wie wird Silva reagieren?«

»Cool.«

Ich unterdrückte ein Lächeln. »Möchten Sie mit auf die Heide kommen und sich ansehen, was man Ihnen verpassen wollte? Und ist Ihnen klar, daß Sie von jetzt an eine Leibwache brauchen?«

»Nein. Ich hatte noch nie eine Leibwache.«

»Keine Leibwache, kein Film. Wahrscheinlich so oder so kein Film, wenn Hollywood davon erst Wind bekommt.«

Er sah auf seine Uhr. »Da drüben ist jetzt tiefe Nacht.«

»Sie sind also noch dabei?«

»Ja.«

»Dann machen wir sobald wie möglich weiter«, sagte ich dankbar.

Ed kam herüber und sagte, die Polizei wolle den Hauptverantwortlichen sprechen. Ich ging hin: Sie waren beide älter als ich und suchten, wie es schien, nach einer Vaterfigur, an die sie sich wenden konnten. Ich entsprach offenbar nicht ihrer Vorstellung von Autorität. O’Hara wäre ihr Mann gewesen.

Die Pfleger hatten ihnen gesagt, daß ein Reiter sich nachträglich ihrer Gruppe angeschlossen hatte, als sie nach ihrem dritten Kanter über den Berg planlos im Kreis gegangen waren Sie hatten sich nichts weiter dabei gedacht, da man sich bei Dreharbeiten nicht an die in einem Rennstall üblichen Gepflogenheiten hielt. Der Neuankömmling, in Jeans, Anorak und Sturzkappe, war in der Gruppe untergegangen. Erst als dann Ivans Pferd stieg und Ivan aufschrie und herunterfiel, hatten sie gemerkt, daß etwas nicht stimmte. Die Messerattacke selbst hatte anscheinend niemand gesehen.

Zur Beschreibung des Nachzüglers konnten sie wenig sagen. Eine Sturzkappe mit starkem Kinnriemen hatte effektiv das halbe Gesicht verdeckt. Außerdem hatte der Mann eine Rennbrille aufgehabt, wie Jockeys es häufig tun, um die Augen vor Staub und hochfliegendem Dreck zu schützen. Sie meinten, er könne auch Handschuhe getragen haben - und auch daran war nichts Ungewöhnliches.

Ob ich dem etwas hinzuzufügen habe, wollte die Polizei wissen.

»Er konnte gut reiten«, sagte ich.

Sie schienen das für belanglos zu halten, war man in Newmarket doch einiges an Reitkunst gewohnt, doch ich hielt es für bedeutsam.

»Er war kein Jockey«, sagte ich. »Dafür war er zu schwer. Ein untersetzter Mann.«

Und die Gesichtszüge? Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte sein Gesicht nicht gesehen, nur seinen Rücken, als er davongaloppiert war.

Ich wartete, bis sie die Pfleger und die Kameracrew außer Hörweite hatten ziehen lassen, ehe ich ihnen von dem Messer erzählte.

Wir fuhren über die Landstraße, um möglichst nah an den Kamerawagen heranzukommen, der noch immer wie ein Schandmal ins Auge stach. Vermutlich nur weil es Sonntag war, sprangen noch keine erbosten Aufseher herum. Ich fuhr dem Polizeiauto voraus und hatte Nash bei mir im Wagen, unter Mißachtung sämtlicher strenger Versicherungsvorschriften der Filmgesellschaft. Wen kümmerte das jetzt noch?

Moncrieff setzte den Kamerawagen drei Meter zurück. Die Polizei starrte stumm auf die freigelegte Waffe. Moncrieff sah erschrocken aus. Nash stand bewegungslos da.

»Er hat das Ding fallen lassen«, erklärte ich. »Er wollte es sich wiederholen. Dann sah er, daß ich ihm auf den Fersen war, und entschloß sich zu fliehen.«

Nash sagte: »Damit ist er auf Ivan los?«

Ich nickte. »Von jetzt an bekommen Sie eine Leibwache.«

Er sah mich an und erhob keine Einwendungen mehr. Einer der Polizisten holte eine große Papiertüte hervor und nahm vorsichtig, um etwaige Fingerabdrücke nicht zu verwischen, das Messer aus dem Gras.

»Es waren keine Turfspione da«, bemerkte ich.

»Was?« fragte Nash.

»Jeden Tag außer sonntags stehen Beobachter mit Ferngläsern da unten am Stadtrand.«

Ich zeigte hin. »Information ist ihr Geschäft. Sie kennen jedes Pferd auf der Heide. Sie verraten Einzelheiten über Trainingsfortschritte an Zeitungsleute und Buchmacher. Wenn sie heute hiergewesen wären, hätte unser Messerheld sich nicht so leicht in Luft auflösen können.«

Einer der Polizisten nickte. »Wer hat also gewußt, Sir, daß Mr. Rourke am heutigen Sonntag morgen hier draußen sein würde?«

»Ungefähr sechzig Leute«, sagte ich. »Alle, die an dem Film mitarbeiten, kennen den Drehplan zwei, drei Tage im voraus.«

Ich schwieg. »Es haben zwar ein paar Leute zugeschaut, wie immer, wenn ein Film gedreht wird, aber wir halten Zaungäste gut auf Distanz, damit sie nicht in die Aufnahme geraten. Außerdem haben wir heute vor Sonnenaufgang mit der Arbeit angefangen.«

Ich sah mich auf der Heide um. Trotz unserer Aktivität waren kaum Leute da. Auf der Straße fuhren Autos vorbei, ohne das Tempo zu verlangsamen. Die Heide sah weit und friedlich aus, keine Spur unheimlich.

Wie Nash hervorgehoben hatte, war niemand verletzt worden. Die Polizei nahm ihre Notizen, das Messer und ihre etwaigen Theorien mit hinunter nach Newmarket, und mit dem Gefühl, daß uns das drohende Verhängnis wie ein Geier auf den Schultern saß, rief ich die Kameras wieder ans Werk und ließ die magische erste Begegnung zwischen Nash und Silva lebendig werden.

Es war fast fünfzehn Uhr, bis wir auf der Heide fertig waren. Als ich zum Stall zurückkam, trafen vier große Transporter ein, um die Pferde mitsamt Sätteln, Zaumzeug, Decken und anderem Zubehör nebst Futter und Streu sowie die Pfleger mit ihren Reisetaschen zur Rennbahn von Huntingdon zu bringen. Für unseren Reitmeister offenbar kein Problem. Trotz der Aufregungen am Morgen schienen alle in Sonntagslaune zu sein.

O’Hara verscheuchte die vorübergehende Euphorie, als er in den Hof gefahren kam, wütend ausstieg und mich lautstark fragte: »Was zum Donnerwetter ist hier los?«

»Wir fahren nach Huntingdon«, sagte ich.

»Thomas. Ich rede nicht von dem verfluchten Huntingdon. Im Autoradio kam, daß irgendein Irrer Nash mit dem Messer angegriffen hat. Was zum Teufel ist passiert?«

Ich versuchte es ihm zu erklären, aber er war zu erregt, um zuzuhören.

»Wo ist Nash?« wollte er wissen.

»Im Haus, beim Abschminken.«

Gereizt ließ er mich stehen und ging durch die Hintertür ins Haus, während ich mich wieder um den Transport kümmerte und den Wagentreck in Gang setzte, auch wenn die Pioniere nicht mehr sangen.

Moncrieff sollte ausnahmsweise den Nachmittag freihaben. Ich sagte ihm, er habe das verdient und solle verduf-ten, worauf er in Windeseile verschwand, bevor O’Hara zurückkam.

Zur Abwechslung allein, lehnte ich mich gegen die untere Hälfte einer Stalltür, lauschte der ungewohnten Stille und dachte über Messer nach. Valentines alte Stimme murmelte in meinem Kopf. »Ich habe das Messer Derry gegeben.«

Die Welt war voll von Messern.

Wer war Derry?

O’Hara und Nash kamen gemeinsam aus dem Haus und sahen weniger finster aus, als ich befürchtet hatte.

»Ich habe die halbe Nacht hindurch mit Hollywood gesprochen«, erklärte O’Hara. »Ich habe sie daran erinnert, daß es fast zwangsläufig verheerende Kritiken einbringt, wenn man mitten in der Produktion einen Regisseur abschießt, weil die Rezensenten da erst mal einhaken und in ihrer Besprechung dann hauptsächlich darüber spekulieren, wieviel besser es gewesen wäre, die Sache laufen zu lassen.«

»Ob es stimmt oder nicht«, bemerkte Nash trocken.

»In unserem Fall«, meinte O’Hara streng zu ihm, »haben Sie, wenn ich mich recht entsinne, gesagt, Thomas’ Entlassung wäre auch Ihre Entlassung.«

»Ja. Wahnsinn.«

O’Hara nickte. »Jedenfalls werde ich den Standpunkt vertreten, daß der Angriff auf den Stuntman vorteilhafte und nicht abträgliche Publicity ist. Wenn der Film in den Verleih kommt, wird das Publikum darauf brennen, ihn zu sehen.«

Für mich hörte es sich an, als müsse er sich davon erst noch selbst überzeugen, aber ich dachte nicht daran, ihm zu widersprechen.

Statt dessen fragte ich: »Brauchen Sie mich hier in den nächsten Stunden?«

»Ich glaube nicht.«

Es klang halb fragend, nach unterdrückter Neugier.

»Der späte Samstagnachmittag«, erklärte ich, »ist eine ideale Zeit für Überraschungsbesuche bei Farmern.«

O’Hara knobelte es aus. »Jackson Wells!«

»Genau.«

Ich wandte mich an Nash. »Möchten Sie den Mann kennenlernen, den Sie darstellen?«

»Nein«, sagte er entschieden. »Ich will mir nicht die muffeligen Touren irgendeines verbitterten alten Griesgrams aneignen.«

Da ich ebensowenig wollte, daß er das tat, war ich eher erleichtert als enttäuscht. Ich sagte: »Heute abend um zehn bin ich zurück. Da steht eine Besprechung mit Moncrieff und Ziggy Keene an.«

»Ziggy wer?« fragte Nash.

»Stuntman«, sagte ich. »Unübertroffen zu Pferd.«

»Besser als Ivan?«

Ich lächelte. »Er kostet zehnmal soviel und ist das Zwanzigfache wert.«

»Diese Strandgeschichte?« fragte O’Hara.

Ich nickte.

»Was für eine Strandgeschichte?« wollte Nash wissen.

»Fragen Sie ihn nicht«, meinte O’Hara humorvoll zu ihm.

»Unser Freund hat Visionen. Manchmal bringen sie’s.«

»Was für eine Vision?« fragte mich Nash.

»Er kann Ihnen nichts drüber sagen«, antwortete O’Hara

für mich. »Aber wenn sie reif ist, bekommen wir sie auch zu sehen.«

Nash seufzte. O’Hara fuhr fort: »Apropos sehen, wann sind die Muster von heute fertig?«

»Morgen früh, wie sonst auch«, versicherte ich ihm. »Wenn der Transporter kommt.«

»Gut.«

Wir schickten unseren belichteten Film täglich per Kurier nach London, um ihn über Nacht in einem auf Technicolor spezialisierten Kopierwerk entwickeln zu lassen. Der Film wurde im Lieferwagen einer Londoner Firma hin und her befördert, der Fahrer und ein mitfahrender Wachmann verbrachten die Nächte in London und die Tage in Newmarket: Bisher hatte das Arrangement zum Glück reibungslos geklappt.

Jeden Tag nach Prüfung der Muster vom Vortag trug ich auf einer komplizierten Tafel die Szenen und Einstellungen ein, die wir meiner Ansicht nach auf der Leinwand verwenden sollten, und »schnitt« dabei im groben schon den Film. Das half mir, über meine Absichten klarzuwerden, und kürzte auch wesentlich die Zeit ab, die wir nachher für die Bearbeitung brauchten. Manche Regisseure haben immer gern den Cutter zur Seite und lassen ihn über die Muster entscheiden, aber ich machte das lieber selbst, auch wenn es mitunter die halbe Nacht dauerte, denn so hatte ich mehr Einfluß auf das Endergebnis. Der Rohschnitt, Gerüst und Gestalt des fertigen Films, waren auf diese Weise mein Werk.

Mein Werk, ob es stand oder fiel. Leben auf dem schiefen Turm.

Ich hatte, als ich von Newmarket nach Westen aufbrach, nur eine vage Vorstellung davon, wo ich hinfuhr, und noch weniger ahnte ich, was ich sagen sollte, wenn ich ankam.

Vielleicht, um den Augenblick hinauszuschieben, aber auch, weil es am Weg lag, fuhr ich zuerst nach Cambridge und zu dem Krankenhaus, in dem Dorothea untergebracht war. Am Telefon hatte ich immer nur zu hören bekommen: »Es geht ihr gut«, aber das konnte auch bedeuten, daß sie im Sterben lag oder mit Drogen vollgepumpt war, und wie vorauszusehen bewog mein persönliches Erscheinen die Schwestern nicht, mich zu ihrer Patientin vorzulassen.

»Tut uns leid, kein Besuch.«

Nichts konnte sie umstimmen. Keinerlei Besuch, mit Ausnahme ihres Sohnes. Ihn könne ich wohl sprechen, wenn ich wollte.

»Ist er hier?« fragte ich und wußte selbst nicht, warum mich das erstaunte. Nichts auf der Welt hätte Paul von einer ausgewachsenen Krise ferngehalten.

Eine der Schwestern war so nett, ihn von meiner Anwesenheit zu unterrichten, und kam mit ihm im Schlepptau wieder.

»Mutter ist nicht in der Verfassung, Sie zu empfangen«, verkündete er, als wäre sie sein Eigentum. »Außerdem schläft sie.«

Wir musterten uns mit gegenseitigem Mißfallen.

»Wie geht’s ihr?« fragte ich. »Was sagen die Ärzte?«

»Sie liegt auf der Intensivstation.«

Pauls offiziöser Ton klang selbst für seine Verhältnisse übertrieben.

Ich wartete. Schließlich erläuterte er: »Wenn keine Komplikationen eintreten, kommt sie durch.«

Großartig, dachte ich. »Hat sie gesagt, wer sie angegriffen hat?«

»Sie ist geistig noch nicht klar.«

Ich wartete wieder, aber diesmal ohne Erfolg. Als er sich anschickte, mich einfach stehenzulassen, um das Gespräch zu beenden, sagte ich: »Haben Sie gesehen, in welchem Zustand ihr Haus ist?«

Er antwortete stirnrunzelnd: »Ich war heute morgen da. Die Polizei hat meine Fingerabdrücke genommen!«

Er klang empört.

»Meine auch«, sagte ich ruhig. »Geben Sie mir bitte meine Bücher zurück.«

»Was war das?«

»Sie sollen Valentines Bücher und Unterlagen herausgeben.«

Er starrte mich mit einer Mischung aus Entrüstung und Haß an. »Ich habe Valentines Bücher nicht. Die haben Sie kassiert.«

»Habe ich nicht.«

Ein böser, selbstgerechter Blick. »Mutter hat die Tür abgesperrt und sich geweigert - geweigert -, mir den Schlüssel zu geben. Ihrem eigenen Sohn!«

»Gestern abend hat der Schlüssel in der offenen Tür gesteckt«, sagte ich. »Und die Bücher waren fort.«

»Weil Sie sie abgestaubt haben. Ich habe sie jedenfalls nicht

Ich fing an, seinen Unschuldsbeteuerungen zu glauben, so unwahrscheinlich sie auch waren.

Aber wenn er die Sachen nicht weggeholt hatte, wer in aller Welt dann? Der Schaden im Haus und der Angriff auf Dorothea zeugten von Gewalt und Eile. Das Leerräumen einer Bücherwand und etlicher Schränke voll Unterlagen zeugte von Gründlichkeit und Zeit. Und Robbie Gill war sicher, daß die Randale dem Angriff auf Dorothea vorausgegangen war.

All das reimte sich nicht.

»Weshalb«, fragte ich, »waren Sie derart erpicht darauf, die Bücher an sich zu bringen?«

Irgendwo in seinem Hirn läuteten Alarmglocken. Ich hatte mit zu vielen Schauspielern gearbeitet, als daß ich das so oft schon ausgelöste Zucken in den Augenmuskeln nicht erkannt hätte. Paul, dachte ich, handelt nicht einfach aus Habgier, aber wenn ich auch merkte, daß es da ein stärkeres Motiv gab, blieb mir doch unklar, worin es bestand.

»Familieneigentum bleibt immer am besten in der Familie«, dozierte er und setzte, bevor er davonstolzierte, noch eins drauf: »Wegen des Zustands meiner Mutter ist die für morgen früh geplante Einäscherung Valentines auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Bitte verschonen Sie uns künftig mit Ihren Besuchen. Mutter ist alt und gebrechlich, und ich werde mich um sie kümmern.«

Ich sah zu, wie sein massiger Rücken enteilte, Großspurigkeit in jedem Schritt, und die Schöße seiner Anzugsjak-ke im Gehen nach außen schwangen.

»Paul!« rief ich laut hinter ihm her.

Er hielt zögernd an und drehte sich um, blieb aber breit im Krankenhausflur stehen, statt zurückzukommen. »Was ist denn noch?«

Ein Meter Taillenumfang mindestens, dachte ich. Ein schwerer Ledergürtel hielt die dunkelgraue Hose. Cremefarbenes Hemd, schräggestreifter Schlips. Das dicke Kinn streitlustig vorgereckt.

»Was wollen Sie?«

»Nichts«, sagte ich. »Schon gut.«

Er zuckte verärgert mit den schweren Schultern, und ich ging nachdenklich zu meinem Wagen und sann über Telefone nach. Ich trug mein Mobiltelefon jederzeit einsatzbereit am Gürtel. Paul hatte genauso ein Gerät, war mir aufgefallen, und trug es ebenfalls an seinem breiten Gürtel.

Gestern abend war ich Dorotheas wegen froh gewesen, daß Paul daheim in Surrey ans Telefon gegangen war, als ich ihn von dem Überfall auf seine Mutter verständigt hatte. Surrey war ein felsenfestes Alibi.

Hätte ich Paul gemocht oder ihm auch nur getraut, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, der Sache nachzugehen. So aber versuchte ich mich an die Nummer zu erinnern, die ich angerufen hatte, bekam aber nur die ersten vier und die zwei letzten Ziffern zusammen, und damit war keine Verbindung herzustellen.

Ich rief das Amt an und fragte, ob die vierstellige Zahl am Anfang eine Ortsvorwahl in Surrey sei.

»Nein, Sir«, sagte eine muntere Frauenstimme, »das ist ein Code für Mobiltelefone.«

Erstarrt fragte ich, ob sie mir die Nummer von Paul Panniers Funkanschluß heraussuchen könne; er lebe in der Nähe von Godalming; die beiden letzten Ziffern seien zweimal die Sieben. Nach kurzer Pause nannte sie mir entgegenkommend die Nummer, die ich vergessen hatte, und ich schrieb sie auf und tätigte meinen Anruf.

Paul meldete sich knapp: »Ja?«

Ich sagte nichts.

Paul sagte: »Wer ist da? Was wollen Sie?«

Ich schwieg.

»Ich kann Sie nicht hören«, sagte er verärgert und schaltete sein Gerät ab.

Soviel zu Surrey, dachte ich grimmig. Aber nicht einmal Paul - nicht einmal Paul hätte seine eigene Mutter aufschlitzen können.

Es war schon vorgekommen, daß Söhne ihre Mütter umgebracht hatten. Aber kein dicker Mittvierziger, der allzusehr von sich überzeugt war.

Beunruhigt fuhr ich westwärts nach Oxfordshire und machte mich auf die Suche nach Jackson Wells.

Wieder mit Hilfe der Telefonauskunft fand ich heraus, in welcher Gegend er wohnte, und indem ich Tankwarte und Spaziergänger mit Hund zu Rate zog, gelangte ich schließlich zur Batwillow Farm südlich von Abingdon, südlich von Oxford, verschlafen und friedvoll am späten Sonntagnachmittag.

Ich rumpelte langsam einen ausgefahrenen, unbefestigten Weg entlang, der in einem ungepflegten Platz vor einem mit Kletterpflanzen bewachsenen Haus endete. Unkraut gedieh. Ein Satz alter Reifen lehnte an einem baufälligen Holzschuppen. Ein wacklig anmutender Stapel Zaunlatten schien vor sich hin zu gammeln. Ein muffeliger alter Griesgram lehnte am Eingangstor und starrte mich ungnädig an.

Schon beim Aussteigen deprimiert, fragte ich: »Mr. Wells?«

»Hä?«

Er war schwerhörig.

»Mr. Wells«, rief ich.

»Ja.«

»Kann ich Sie mal sprechen?« rief ich.

Aussichtslos, dachte ich.

Der Alte hatte mich nicht verstanden. Ich versuchte es noch einmal. Er schaute mich nur gleichmütig an und zeigte dann aufs Haus.

Ich wußte zwar nicht genau, was er damit meinte, ging aber vom Tor zur Tür und drückte auf eine unübersehbare Klingel.

Es gab kein leises Dingdong wie bei Dorothea: der Lärm der Klingel auf der Batwillow Farm ging einem durch Mark und Bein. Bald darauf öffnete ein hübsches, blondes junges Mädchen mit Pferdeschwanz und Pfirsichhaut die Tür.

Ich sagte: »Ich würde gern Mr. Jackson Wells sprechen.«

»Okay«, nickte sie. »Sekunde.«

Sie ging die Diele entlang, bog nach links aus meinem Blickfeld, und schon tauchte ein schlanker, schlaksiger blonder Mann auf, der aussah, als wäre er noch keine Fünfzig.

»Sie wollten mich sprechen?« fragte er.

Ich blickte zum Tor, wo noch der schwerhörige alte Griesgram stand.

»Mein Vater«, sagte der blonde Mann, meinem Blick folgend.

»Mr. Jackson Wells?«

»Der bin ich«, sagte er.

»Oh!«

Er grinste über meine Erleichterung mit einer unbeschwerten Fröhlichkeit, die kilometerweit von meinen Erwartungen entfernt war. Er wartete ruhig darauf, daß ich mich vorstellte, und sagte schließlich: »Habe ich Sie schon mal irgendwo gesehen?«

»Glaube ich nicht.«

»Im Fernsehen«, meinte er unsicher.

»Ach so. Tja - haben Sie sich gestern das Lincoln angeschaut?«

»Ja, schon, aber.«

Er runzelte die Stirn, konnte sich nicht genau entsinnen.

»Mein Name«, sagte ich, »ist Thomas Lyon, und ich war ein Freund von Valentine Clark.«

Eine Wolke zog über Jackson Wells’ sonnige Gesichtslandschaft.

»Der arme Kerl ist diese Woche gestorben«, sagte er. Endlich drang mein Name zu ihm durch. »Thomas Lyon. Etwa der, der den Film dreht?«

»Derselbe«, stimmte ich zu.

»Dann hab ich Sie gestern im Fernsehen gesehen, mit Nash Rourke.«

Er schätzte mich schweigend ab und rieb dann unschlüssig die Nase an seinem Handrücken.

Ich sagte: »Ich möchte Ihnen mit dem Film in keiner Weise schaden. Deshalb bin ich hier. Ich wollte fragen, ob es etwas Bestimmtes gibt, das in dem Film nicht ausgesprochen werden soll. Denn manchmal«, erklärte ich, »erfindet man Sachen - oder glaubt sie zu erfinden -, die sich als unangebrachte Wahrheiten entpuppen.«

Er überlegte und sagte schließlich: »Es ist wohl besser, Sie kommen mal rein.«

»Danke.«

Er führte mich in ein kleines Zimmer nahe der Tür; ein unbewohnter Raum, dessen ganze Einrichtung aus Klavier und Klavierhocker, einem einfachen Holzstuhl und einem geschlossenen Schrank bestand. Er setzte sich auf den Klavierhocker und teilte mir den Stuhl zu.

»Spielen Sie?« fragte ich höflich, auf das Klavier deutend.

»Meine Tochter, Lucy, Sie haben sie gesehen.«

»Mhm«, nickte ich. Ich holte tief Luft und sagte: »Eigentlich bin ich gekommen, um Sie nach Yvonne zu fragen.« »Nach wem?«

»Yvonne. Ihrer Frau.«

»Sonia«, sagte er mit schwerer Stimme. »Sie hieß Sonia.«

»In Howard Tylers Buch hieß sie Yvonne.«

»Ja«, stimmte er zu. »Yvonne. Hab ich gelesen, das Buch.«

Da er weder Zorn noch Kummer zu empfinden schien, fragte ich: »Wie fanden Sie’s?«

Unerwarteterweise lachte er. »Bescheuert. Traumliebhaber! Und dann der Oberschichtenhampel in dem Buch, der ich sein sollte! Pfft.«

»In Film sind Sie ganz bestimmt kein Hampel.«

»Es stimmt also? Nash Rourke spielt mich

»Er spielt den Mann, dessen Frau erhängt aufgefunden wird, ja.«

»Wissen Sie, was?«

Er strahlte wie die Sonne, und das Lächeln in seinen Augen konnte schwerlich unecht ein. »Das ist alles so verdammt lange her. Mir ist es piepegal, was Sie in dem Film erzählen. Ich kann mich an Sonia jedenfalls kaum erinnern. Das war ein anderes Leben. Ich hab es hinter mir gelassen. Ich hatte die Nase voll von der ganzen Angelegenheit. Ich war ja erst zweiundzwanzig, als ich Sonia heiratete, und noch keine fünfundzwanzig, als sie starb, und eigentlich war ich noch ein Kind. Ein Kind, das den großen Newmarketer Trainer spielte. Nach der Geschichte holten die Leute ihre Pferde weg, also hab ich eingepackt und bin hierhergezogen, und hier lebt sich’s ganz gut, Kollege, ich kann nicht klagen.«

Da er mir recht unbefangen darüber zu reden schien, fragte ich: »Weshalb, ehm. weshalb ist Ihre Frau gestorben?«

»Sagen Sie Sonia. Ich betrachte sie nicht als meine Frau. Meine Frau ist hier im Haus. Lucys Mutter. Wir sind jetzt dreiundzwanzig Jahre verheiratet, und wir bleiben es auch.«

Sein ganzes Auftreten war geprägt von einer offensichtlichen Zufriedenheit. Er hatte den wettergegerbten Teint und die geäderten Wangen eines Mannes, der im Freien arbeitet, seine blonden Brauen hoben sich auffallend gegen die braune Haut ab. Blaue Augen ohne Falsch. Seine Zähne sahen gesund aus, ebenmäßig und weiß. Weder in den langen Gliedern noch an dem drahtigen Hals war Spannung auszumachen. Ich hielt ihn für kein großes Licht, aber für einen jener Glücklichen, die mit wenig zufrieden sein konnten.

»Darf ich Sie nach ihr fragen?« sagte ich.

»Nach Sonia? Bitte sehr. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, weshalb sie gestorben ist, denn das weiß ich nicht.«

Jetzt, dachte ich, hat er mich zum erstenmal belogen.

»Die Polizei hat mich verhört«, meinte er lächelnd. »Ich sei bei den Ermittlungen behilflich, teilte sie der Presse mit. Da dachten natürlich alle, der war’s. Fragen über Fragen! Tagelang. Ich sagte nur, ich wüßte nicht, warum sie gestorben sei. Immer und immer wieder. Sie waren ziemlich sauer. Sie dachten nämlich, sie könnten mir ein Geständnis abringen.«

Er lachte. »Anscheinend finden sie manchmal Dummköpfe, die Sachen zugeben, die sie nicht getan haben. Also mir ist das unbegreiflich. Wenn man etwas nicht getan hat, dann sagt man das und bleibt dabei. Mal wenigstens in England. Gibt ja hier keine Daumenschrauben mehr, oder?«

Wieder lachte er über seinen kleinen Scherz. »Ich sagte ihnen, sie sollten die Kurve kratzen und rausfinden, wer sie wirklich umgebracht hat, aber das haben sie nicht hingekriegt. Sie wollten nur eins, mein Geständnis. Ich meine, das war doch doof. Würden Sie einen Mord gestehen, den Sie nicht begangen haben?«

»Ich glaube nicht.«

»Eben. Aber die - stundenlang, tagelang! Ich habe gar nicht mehr hingehört. Ich wollte mich von denen nicht verrücktmachen lassen. Ich habe nur dagesessen wie ein Stein und regelmäßig gesagt, sie könnten mich mal.«

»Die waren sicher begeistert«, meinte ich trocken.

»Sie machen sich über mich lustig!«

»Aber nein«, versicherte ich ihm. »Ich finde, Sie waren großartig.«

»Ich war jung«, sagte er vergnügt. »Dauernd haben sie mich nachts rausgeklingelt. Die Trottel haben nicht akzeptiert, daß ich oft die halbe Nacht wegen kranker Pferde auf war. Koliken und so was. Ich bin einfach eingenickt, wenn die sich da über Sonia ereifert haben. Die waren restlos geschafft.«

»Mhm«, meinte ich und fragte zögernd: »Haben Sie Sonia gesehen. ich meine, ehm.?«

»Ob ich sie hängen gesehen habe? Nein. Ich habe sie im Leichenschauhaus gesehen, Stunden nachdem sie sie losgeschnitten hatten. Da sah sie dann friedlich aus.«

»Sie haben sie also nicht gefunden?«

»Nein. Da hatte ich wohl Glück. Einer von meinen Stallangestellten fand sie, als ich unterwegs nach York zum Pferderennen war. Die Polizei hat mich abgeholt, und schon da stand für sie fest, daß ich Sonia umgebracht hatte. Sie war in einer Box, die damals leerstand. Dem armen Burschen, der sie gefunden hat, kam acht Tage lang das Essen hoch.« »Dachten Sie, sie habe sich selbst erhängt?«

»Dafür war sie nicht der Typ.«

Langgehegte Zweifel sprachen aus seiner Miene. »Da war ein Stapel Heuballen, von dem könnte sie runtergesprungen sein.«

Er schüttelte den Kopf. »Die Wahrheit hat nie jemand herausgebracht, und wenn ich ganz ehrlich sein soll, das ist auch besser so. Ich habe in diesem Drumbeat gelesen, daß Sie der Sache nachgehen. Mir wäre es offen gestanden lieber, Sie ließen das sein. Ich will nicht, daß meine Frau und Lucy beunruhigt werden. Das wäre ihnen gegenüber nicht anständig. Erfinden Sie doch Ihre Filmstory, wie Sie sie brauchen. Solange Sie’s nicht hinstellen, als hätte ich sie umgebracht, soll es mir recht sein.«

»In dem Film bringen Sie sie nicht um«, sagte ich.

»Dann ist es ja gut.«

»Aber ich muß plausibel machen, warum sie gestorben ist.«

Er sagte ruhig:«Sie haben ja gehört, ich weiß nicht, warum.«

»Ja, gut, aber Sie haben doch sicher darüber nachgedacht.«

Er schenkte mir ein waschechtes unbekümmertes Lächeln und schwieg, und ich bekam ein klares Bild davon, wie er sich seinerzeit den Ermittlungsbeamten präsentiert hatte: als fröhliche, undurchdringliche Backsteinmauer.

»In Howard Tylers Buch«, sagte ich, »phantasiert Yvonne von Jockeys als Liebhabern. Wieso, ich meine, haben Sie eine Ahnung, wie er darauf gekommen ist?«

Diesmal schien Jackson Wells innerlich zu lachen. »Howard Tyler hat mich nicht danach gefragt.«

»Nein«, stimmte ich zu. »Er sagte mir, er sei überhaupt nicht an Sie herangetreten.« »Ist er auch nicht. Ich erfuhr erst davon, als die Leute meinten, in dem Buch Unsichere Zeiten ginge es um Sonia und mich.«

»Und hat sie. hm. phantasiert?«

Wieder die starke innere Belustigung. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Kann schon sein. Die ganze Ehe war ja ein So-tun-als-ob. Wir waren Kinder, die Erwachsene spielten. Der Literat hat sich völlig in uns vertan. Wohlgemerkt, ich beklage mich nicht.«

»Aber die Traumliebhaber sind so ungewöhnlich«, be-harrte ich. »Wo hat er das her?«

Jackson Wells dachte ohne erkennbare Anspannung darüber nach.

»Ich glaube«, sagte er mir schließlich, »da sollten Sie mal ihre eingebildete Schwester fragen.«

»Schwester. meinen Sie die Witwe von Rupert Visbo-rough?«

Er nickte. »Audrey. Sonias Schwester. Audrey war mit einem Mitglied des Jockey Clubs verheiratet und hat mich das immer spüren lassen. Audrey hat Sonia gesagt, sie solle sich nicht an mich wegwerfen. Ich war ihr nicht gut genug, verstehen Sie?«

Er grinste unbekümmert. »Als ich das Buch las, hatte ich die ganze Zeit Audreys zickige Stimme im Ohr.«

Beeindruckt von der schlichten Schärfe dieser Wahrnehmung saß ich schweigend da und überlegte, was ich als nächstes fragen sollte; ob ich ihn fragen sollte oder konnte, wieso der gewaltsame Tod einer namenlosen jungen Schwägerin ein für allemal Rupert Visboroughs Chancen in der Politik verdorben hatte.

Waren auf rätselhafte Weise verstorbene Angehörige wirklich so verpönt in Westminster? Schwarze Schafe in der Familie mochten sich als peinlich erweisen, aber wenn schon die Sünden der Söhne und Töchter verziehen wurden, hätte der ungeklärte Tod einer entfernten Verwandten doch nicht so ins Gewicht fallen dürfen.

Ehe ich die Worte fand, öffnete sich die Tür, und Lucy erschien, sonnig wie ihr Vater.

»Mama möchte wissen, ob sie etwas anbieten kann, zum Beispiel was zu trinken?«

Ich nahm es als Rauswurf, den Mama damit beabsichtigt hatte, und stand auf.

Jackson Wells stellte mich seiner Tochter mit den Worten vor. »Lucy, das ist Thomas Lyon, die Personifizierung des bösen Filmemachers, wie gestern im Drumbeat zu lesen war.«

Ihre Augen weiteten sich, und mit der leisen Schalkhaftigkeit ihres Vaters sagte sie: »Im Fernsehen haben Sie die Hörner und den Pferdefuß ja gut versteckt! Ziemlich cool, mit Nash Rourke einen Film zu drehen.«

»Wollen Sie mitspielen?«

»Wie meinen Sie das?«

Ich erklärte, daß wir die Einwohner von Huntingdon als Publikum für unsere Aufnahme eines Renntages auf der Bahn anwarben.

»Wir brauchen Leute, die >Ooh< und >Aaah< rufen.«

»Und schreien: >Beweg deinen müden Arsch

»Genau.«

»Papa?«

Ihr Vater war instinktiv dagegen. Als er den Kopf schüttelte, sagte ich: »Es braucht ja niemand zu wissen, wer Sie sind. Sagen Sie, Sie heißen Batwillow - und übrigens, was ist die Batwillow für ein Baum?« »Na, die Weide, aus der man Kricketschläger macht«, sagte sie, als hätte ich eine ziemlich dumme Frage gestellt.

»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

»Überhaupt nicht«, sagte ihr Vater. »Was glauben Sie denn, wo Kricketschläger herkommen? Die wachsen auf Bäumen.«

Sie beobachteten mein Gesicht. »Wir ziehen die Weiden am Ufer des Bachs«, sagte er. »Auf der Farm hier werden sie seit Generationen angepflanzt.«

Daß er Kricketschläger wachsen ließ, schien mir voll und ganz seinem Wesen zu entsprechen: Breite Schultern, mit denen er lockere Sechser über den Spielfeldrand schlug und schnelle Bälle zuverlässig abblockte, damit sie den Dreistab nicht trafen.

Lucys Mutter erschien neugierig an der Tür, eine freundliche Frau in rehbrauner Hose und einem riesigen braunen Pullover über einem cremefarbenen Rolli. Unbewußter Stil, dachte ich, genau wie die Tochter.

Jackson Wells erklärte meine Anwesenheit. Seiner Frau gefiel die Geschichte.

»Wir kommen natürlich alle«, sagte sie entschieden, »wenn Sie uns versprechen, daß wir Nash Rourke sehen!«

»Wie kann man nur so verkitscht sein?« meinte Lucy.

Ich sagte: »Morgen um zwei proben wir die Massenszenen. Daß Nash Rourke da ist, kann ich nicht versprechen. Dienstag und Mittwoch drehen wir die Massenszenen. Jeder, der mitmacht, bekommt von uns Frühstück, Lunch und Spesen, und auf jeden Fall ist dann auch Nash Rourke da.«

»Es sind fast zwei Autostunden von hier bis zur Rennbahn von Huntingdon«, wandte Jackson Wells ein.

»Du bist überstimmt, Pa«, erklärte ihm Lucy. »Wann am Dienstag? Wären Sie einverstanden, wenn wir die Probe morgen auslassen?«

Ich gab ihnen meine Karte und schrieb Ehrengäste. Familie Batwillow auf die Rückseite. »Dienstag früh um neun«, sagte ich. »Laufen Sie einfach den Leuten nach. Die wissen, was zu tun ist. In der Frühstückspause zeigen Sie dann die Karte vor und kommen zu mir.«

»Wau«, sagte Lucy.

Sie hatte Sommersprossen auf der Nase. Spöttische blaue Augen. Man fragte sich, wie reif wohl ihr Klavierspiel war.

Ich sagte zu ihrem Vater: »Können Sie sich vorstellen, warum jemand versuchen sollte, den Film mit Gewalt zu verhindern?«

Er antwortete leichthin: »Wie ich das im Radio gehört habe? Jemand wollte mit dem Messer auf Ihren Star los? Ein Irrer. Soviel ich weiß, hat keiner Angst vor Ihrem Film.«

Ich dachte, jetzt hat er mich wahrscheinlich zum zweiten Mal belogen, oder wenigstens ist es das zweite Mal, daß ich ihn dabei ertappe.

Lucy sagte: »Kann Pas Bruder auch mitkommen?«

Ihr Vater machte eine wegwerfende Geste. »Der würde doch gar nicht wollen.«

»Na, und ob.«

Zu mir sagte sie: »Mein Onkel Ridley wohnt in Newmarket. Er geht dauernd ins Kino, und er wäre von den Socken, wenn er in einem Nash-Rourke-Film mitspielen dürfte.«

»Dann bringen Sie ihn mit«, willigte ich ein. »Wir brauchen soviel Publikum wie möglich.«

Ihre Eltern, sah ich, teilten ihre Begeisterung für Onkel Ridley nicht.

»Hat er denn Zeit?« fragte ich, sondierend, »am Dienstag oder Mittwoch einen Tag in Huntingdon zu verbringen?«

Lucy antwortete arglos: »Onkel Ridley gammelt rum, wie Papa sagt.«

Ihr Vater schüttelte den Kopf über ihre mangelnde Weltklugheit und erklärte: »Mein Bruder Ridley reitet Pferde ein und macht alle möglichen Gelegenheitsjobs im Pferdesport. Er ist nicht gerade der Dynamischste, aber er schlägt sich durch.«

Ich lächelte halb interessiert. »Es wäre mir ein Vergnügen, ihn kennenzulernen.«

Ich schwieg, und wandte mich wieder dem Thema zu, das mir mehr am Herzen lag. »Könnten Sie mir ein Foto von, ehm. Sonia borgen? Nur damit wir die Yvonne im Film ihr nicht zu ähnlich machen.«

»Ich besitze keins«, sagte Jackson Wells prompt.

»Nicht mal. Verzeihen Sie«, sagte ich entschuldigend zu Mrs. Wells, ».nicht mal ein Hochzeitsfoto?«

»Nein«, sagte Jackson Wells. »Die sind verlorengegangen, als wir hierhergezogen sind.«

Seine Augen waren die Unschuld selbst, und zum dritten Mal glaubte ich ihm nicht.

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