Früh am Donnerstag morgen saß ich auf einer windigen Sanddüne und wartete darauf, daß über dem Strand von Happisburgh die Sonne aufging.
O’Hara, in panischem Schrecken aus L. A. zurückgekehrt, saß fröstelnd neben mir. Die etwa vierzig Personen der verschiedenen Crews am Drehort liefen zwischen den dicht hinter den Dünen abgestellten Fahrzeugen und dem Strand hin und her, und draußen auf dem nassen Streifen festen, makellosen Sandes, den die ablaufende Flut freigelegt hatte, richtete Moncrieff das Licht und den Kamerakran ein, beides auf ein riesiges oranges Raupenfahrzeug montiert, das sonst zur Strandreinigung diente und nötigenfalls auch Schiffswracks plattwalzen konnte.
Weit draußen auf der linken Seite wartete Ziggy mit den Fjordpferden. Zwischen ihm und uns kommandierte Ed eine zweite Kamera, die eine andere Perspektive liefern sollte.
Wir hatten während der Ebbe am Abend vorher geprobt und dabei den Sand so aufgewühlt, daß uns klar war, die Einstellung würde heute auf Anhieb sitzen müssen. Ziggy war zuversichtlich, Moncrieff war zuversichtlich, O’Hara war zuversichtlich ich war zapplig.
Wir brauchten einen guten Sonnenaufgang. Wir konnten ein eindrucksvolles Bild aus den Aufnahmen des entflamm-
ten Himmels von voriger Woche zusammenstoppeln; wir konnten Lichter setzen, um Glanz in die Augen der Pferde zu bringen, aber wir brauchten Glück und Sonnenaufgang live, um die Wirkung zu erzielen, um die es mir ging.
Ich dachte über die Ereignisse der letzten Tage nach. Ein Mikrochirurg im Krankenhaus von Cambridge hatte mir das Gesicht mit dünnem schwarzen Faden zusammengenäht, der im Augenblick aussah, als krabbelte mir ein Tausendfüßler vom Kinn zum Haaransatz empor, doch der Arzt hatte mir versichert, es werde kaum eine Narbe bleiben. Die Schnitte an meinem linken Arm hatten ihm und mir mehr Sorgen bereitet, aber sie waren wenigstens außer Sicht. Er nahm an, daß in einer Woche alles verheilt sei.
Robbie Gill kam Dienstag früh kurz ins Krankenhaus und nahm die Delta-Cast-Weste mit, die die Nachtschwestern am Abend vorher so verwirrt hatte. Statt zu erklären, warum ich sie getragen hatte, meinte er nur: »Ein Porositätstest - sehr interessant.«
Und er sagte mir, er habe seinem Polizeikollegen erzählt, daß Dorothea ihren Angreifer jetzt identifizieren könne, und vorgeschlagen, ihr doch einmal ein Foto vorzulegen, da es unwahrscheinlich sei, daß plötzlich zwei Messerstecher in Newmarket umgingen.
Ich verbrachte den Dienstagnachmittag im Gespräch mit der Polizei, nachdem ich mir am Montag abend zurechtgelegt hatte, was ich sagen würde und was nicht.
Später erfuhr ich, daß sie bereits Roddy Visboroughs Cottage in Leicestershire durchsucht und eine Unzahl ungewöhnlicher versteckter Messer entdeckt hatten. Sie fragten mich, ob ich eine Ahnung hätte, warum Roddy mich angegriffen habe.
»Er wollte den Film stoppen. Er glaubt, der Film schadet dem Ruf seiner Familie.«
Das genügte ihnen nicht als Grund für einen Mordversuch, und seufzend über die Merkwürdigkeiten des Lebens stimmte ich ihnen bei. Ob ich mir sonst noch einen Grund denken könne? Leider nein.
Roddy Visborough würde ihnen bestimmt keinen anderen Grund nennen. Roddy Visborough würde nicht sagen: »Ich hatte Angst, Thomas Lyon würde herausfinden, daß ich der vorgetäuschten Erhängung meiner Tante zugestimmt habe, um eine Sexorgie zu vertuschen.«
Roddy der Springreiter hatte zu viel zu verlieren gehabt. Roddy, Paul und Ridley mußten hellauf entsetzt gewesen sein, als ihr zu Grab getragenes Vergehen plötzlich wie ein Spuk wiederauferstand. Zuerst hatten sie versucht, mich mit Drohungen loszuwerden, und als das nicht gelang, mit tödlichen Mitteln.
Die Polizisten fragten mich, ob ich wisse, daß Mr. Visboroughs Fingerabdrücke überall in Mrs. Panniers Haus gefunden worden seien, genau wie meine auch? »Wie seltsam!« sagte ich; ich hätte Mr. Visborough niemals in ihrem Haus gesehen.
Sie sagten, auf Grund von Hinweisen hätten sie an diesem Morgen Mrs. Pannier befragt, die Mr. Visborough auf einem Polizeifoto als den Mann identifiziert habe, der sie überfallen hatte.
»Das gibt’s doch nicht«, sagte ich.
Sie fragten mich, ob ich gewußt hätte, daß Mrs. Pannier von Mr. Visborough überfallen worden sei. Nein, antwortete ich.
Welche Verbindung bestand zwischen ihr und mir?
»Ich habe ihrem blinden Bruder vorgelesen«, sagte ich. »Er ist an Krebs gestorben.«
Das wußten sie.
Sie fragten sich, ob das Messer, das ich auf der Heide gefunden hatte und das sich jetzt in Polizeibesitz befand, etwas mit dem zu tun hatte, was mir zugestoßen war.
»Wir haben das alle für einen Versuch gehalten, uns von dem Film abzubringen«, sagte ich. »Weiter nichts.«
Außerdem glaubte ich, auch wenn ich es nicht sagte, daß Roddy Ridley das Nahkampfmesser gegeben und ihn aufgefordert hatte, Nash und damit den Film zum Teufel zu jagen.
Ich glaubte, daß Roddy Paul gezwungen hatte, mit ihm zusammen Dorotheas Haus nach irgendwelchen verräterischen Hinweisen auf Sonias Tod zu durchsuchen, die Valentine hinterlassen haben mochte.
Roddy war der Stärkste von den dreien gewesen und derjenige mit der meisten Angst.
Von Lucy informiert, hatte Ridley die Kombination meines Safes entgegenkommend an Roddy weitergegeben und ihm gesagt, ich wüßte viel zu viel.
Roddy hatte meine Hoffnungen erfüllt und sich und seine Verwicklung zu erkennen gegeben, als er wie der Hecht zum ausgeworfenen Köder gekommen war. Ich hatte ihn angelockt, hatte gehofft, er werde wieder ein ausgefallenes Messer mitbringen, aber ich hatte dabei nicht so zugerichtet werden wollen.
Die Polizisten gingen scheinbar unzufrieden von dannen, aber zumindest hatten sie doch den Beweis für zweifache schwere Körperverletzung, und wenn sie mit der ganzen verfügbaren Palette moderner Kriminaltechnik nicht nachweisen konnten, daß Roddy Visborough der Mörder von Paul Pannier war, dann hatten sie Pech gehabt. Als Motiv würden sie vielleicht annehmen, Paul habe aus Reue gedroht, Roddy wegen des Angriffs auf Dorothea anzuzeigen, das kam der Wahrheit nah und klang plausibel. Jedenfalls so plausibel, daß auch Dorothea es glauben und Trost daraus schöpfen konnte.
Mittwoch früh entließ ich mich aus dem Krankenhaus und kehrte nach Newmarket zurück, wo ich einem wütenden Howard und einer äußerst aufgebrachten Alison Visborough in die Arme lief.
»Ich habe Ihnen ja gesagt, Sie hätten an meinem Buch nichts ändern sollen«, tobte Howard. »Sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben! Roddy kommt ins Gefängnis!«
Alison sah ungläubig auf die Tausendfüßlerspur in meinem Gesicht. »Das hätte Rodbury niemals getan!«
»Rodbury hat«, sagte ich trocken. »Hat er immer schon Messer gesammelt?«
Sie zögerte. Trotz ihrer Empörung war sie gerecht. »Es kann. es könnte sein. Er hat geheim getan.«
»Und er hat Sie von seinen Spielen ausgeschlossen.«
Sie sagte verdutzt: »Oh« und begann die Psyche ihres Bruders neu einzuschätzen.
Während ich jetzt in Norfolk auf den Dünen saß, dachte ich über Alisons Vater und seine abgebrochene politische Laufbahn nach. Ich war mir beinah sicher, daß nicht der Skandal um den ungeklärten Tod seiner Schwägerin ihn zum Rückzug aus der Politik bewogen hatte, sondern die Erkenntnis -vielleicht hatte er es von Valentine, vielleicht auch von Jackson Wells erfahren -, daß sein Sohn an dem Vertuschungsmanöver der vormittäglichen Erhängung beteiligt gewesen war, nachdem er mit der eigenen Tante hatte schlafen wollen. Der rechtschaffene Rupert hatte seinem Sohn Springpferde geschenkt, damit er seine Verfehlung wiedergutmachen konnte, hatte ihm aber doch nicht endgültig verziehen, sondern den Familiensitz seiner Tochter vermacht. Armer Rupert Visborough. er hatte nicht verdient, ein Cibber zu werden, aber wenigstens würde er es nie erfahren.
O’Hara kuschelte sich in seine wattierte Fliegerjacke und sagte, er habe sich am Abend vorher, während ich am Strand probte, die Muster von der Erhängung zeigen lassen.
»Sind wir damit jugendfrei?« fragte ich. »Ab zwölf wäre ideal.«
»Kommt auf den Schnitt an. Wie sind Sie auf diese Version ihres Todes gekommen?«
»Howard schwört auf die kathartische Wirkung des Urschreis.«
»Quatsch, Thomas. Dieser Tod war keine Therapie. Die wird gehängt, daß sich einem der Magen umdreht.«
»Gut.«
O’Hara blies sich auf die Finger. »Ich hoffe, die verdammten Pferde sind die Affenkälte wert.«
Der Himmel im Osten wechselte von Schwarz zu Grau. Ich griff zum Walkie-Talkie und sprach noch einmal mit Ed und auch mit Ziggy. Alles klar. Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen. Alles würde gutgehen.
Ich dachte über Valentines einst so gewaltige Kräfte nach.
Ich hatte seine Beichte für mich behalten. Niemand würde sein Geheimnis je von mir erfahren.
Das Messer habe ich Derry gegeben...
Valentine hatte mit seinen starken Armen ein einzigartiges Messer zur Bereicherung der Sammlung seines Freundes Professor Derry geschaffen: ein Stahlmesser mit Speerspitze und Zuckerbäckergriff, eine Waffe ganz ungewöhnlicher Art.
Ich habe den Jungen aus Cornwall umgebracht...
Einer von der »Gang«, vielleicht sogar Pig Falmouth selbst, hatte Valentine erzählt, wie Sonia gestorben war, und in einer übermächtigen Aufwallung von Wut, Kummer und Schuldbewußtsein hatte er den Spieß gepackt und ihn tief in den Körper des Jockeys gestoßen.
So oder so ähnlich mußte es passiert sein. Valentine hatte Sonia heimlich geliebt. Er hatte sich über perverse Lustmittel informiert, um Derrys Potenzschwäche abzuhelfen, und er hatte den Lexikonartikel auch Pig gezeigt, sicher leichten Herzens sieh mal hier, Pig -, und Pig hatte es seinen Freunden erzählt.
Ich habe ihrer aller Leben zerstört... Vermutlich hatte er damit sagen wollen, er habe ihr Leben ruiniert, indem er sie auf die Idee zu ihrem tödlichen Spiel gebracht hatte. Sie hatten ihr Leben selbst zerstört, aber Schuldgefühle entbehrten mitunter der Logik.
Valentine hatte Pig Falmouth in dem gleichen wilden, unbändigen Zorn umgebracht, der Jackson Wells dazu getrieben hatte, seinen Bruder Ridley halbtot zu schlagen. Und Valentine selbst hatte die Zeitungsnotiz verfaßt, die von Pigs Übersiedlung nach Australien berichtete und die alle geglaubt hatten.
Pig Falmouth lag wahrscheinlich seit sechsundzwanzig Jahren auf dem Grund des Brunnens, den Valentine von einem Bauunternehmen hatte auffüllen lassen, um ihn kindersicher zu machen. Valentine hatte mit Jackson Wells dabeigestanden und zugesehen, wie sie den Schutt von Jahren in den Schacht hineinwarfen und jede Spur des leichtsinnigen Jungen tilgten, der sein Goldmädchen geküßt und getötet hatte.
Valentine hatte seine Seele schließlich von der Last des Mordes befreit.
Ich ließ sie beide ruhen.
Das eintönige Grau des Himmels wurde im Osten langsam von einem matten, zarten Rot durchtränkt.
Moncrieff hielt einen Belichtungsmesser hoch, um alle paar Minuten die fortschreitende Helligkeit zu messen, und er tat es mit der Hingabe, die ihm für seine Kamera den zweiten auf Unsichere Zeiten entfallenen Oscar eingebracht hatte. Howard, nominiert für das beste Drehbuch nach Vorlage, verfehlte ebenso wie unser vierter Kandidat, der Architekt, die Auszeichnung ganz knapp. O’Hara und die Bosse waren allerdings zufrieden, und ich bekam ein gut kalkuliertes Epos mit Megastar Nash zugeteilt.
Über dem Strand von Happisburgh wurde das Purpur im Himmel zu Scharlachrot, das die Wellen rosa färbte. Die Wolkenstreifen waren spärlicher als in der Woche davor, ebenso der Goldstich im Rot. Wir würden die beiden Sonnenaufgänge überblenden, dachte ich.
Rechts von uns, weit hinter Moncrieff und seinen Kameras, hatte der Trainer der Fjordpferde auf dem Sand große Rationen Preßfutter verteilt: Die Wildpferde würden auf unser Zeichen, wie sie es gelernt hatten, losrennen, um zu ihrem Frühstück zu gelangen.
Moncrieff hielt die Belichtungsmesser hoch und begrüßte den Tagesanbruch wie ein alter Prophet. Wenn er die Arme senkte, sollte die Aufnahme beginnen.
Die blendende Sonne tauchte auf. Moncrieffs Arme fuhren nieder.
Ich sagte: »Bitte, Ed«, und: »Jetzt, Ziggy« in mein Walkie-Talkie, und unten am Strand liefen die Pferde los.
Wir hatten Ziggy in ein Ganzkörpertrikot aus grauem Lycra gesteckt, an das er sich, ballettgeschult, sofort gewöhnt hatte. Über dem Trikot trug er ein fließendes, formloses Gewand aus durchscheinendem weißem Seidenvoile und auf dem Kopf die blonde Perücke. Seine dunklen Gesichtszüge hatte die Maskenabteilung aufgehellt, und er ritt wie angekündigt ohne Schuhe, Sattel und Zaumzeug.
Die Pferde beschleunigten und platzten mit dem Schlag und dem Schnalzen ihrer galoppierenden Hufe in die stille Weite der Meerlandschaft.
Ziggy kniete auf dem Widerrist seines Pferdes, den Kopf über den nach vorn geworfenen Hals des Tieres gebeugt. Gewand und Haare flatterten im Wind und zogen alles Licht auf sich, der graugekleidete Mann im Innern war nahezu unsichtbar, ein Schatten nur.
Moncrieff bediente zwei Totalen-Kameras, die eine eingestellt auf sechsunddreißig Bilder pro Sekunde - Zeitlupe.
Die aufgehende Sonne schien den Pferden in die Augen. Licht blitzte auf fliegenden Mähnen. Die Köpfe der wilden Herde waren vorgereckt in der Hitze des Rennens, im unbändigen Drang, vornweg zu sein, die Gruppe anzuführen.
Die Herde teilte sich und fegte um Moncrieff herum, die dahinstürzenden Leiber so nah, die Wikingerköpfe wild und frei.
Ziggy ritt zwischen Moncrieff und dem stärksten Licht. Auf dem fertigen Film sah es aus, als hätte die fliegende Gestalt sich dort in Luft, in Licht, in Leuchten aufgelöst; als sei sie ein Teil der Sonne geworden.
»Herr im Himmel«, sagte O’Hara, als er das sah.
Für den Schluß des Films schnitt ich einige Bilder von der Erhängung in die Wildpferdesequenzen hinein.
Yvonnes Schrei ging in dem dünnen, schrillen, verlorenen Schrei einer Möwe auf.
Die junge Frau mit den Phantasiegeliebten träumte, sie ritte die wilden Pferde, während sie dem Tod entgegenschwang.