Kapitel 14

Am frühen Freitagmorgen arbeitete ich von vier bis halb sieben im Vorführraum und schnitt Szenen in eine ungefähre Reihenfolge, ein Arbeitsgang, der mir von allem anderen abgesehen stets verriet, welche notwendigen Gesamtaufnahmen das Drehbuch nicht vorgegeben hatte. Außerdem konnte die eine oder andere 5-Sekunden-Aufnahme Dialogstellen ersetzen, die nicht gut gelaufen waren. Ich machte mir Notizen, spielte herum, summte zufrieden vor mich hin, begann klarer zu sehen.

Um halb sieben baute Moncrieff die Kameras im Stallhof auf, um sieben waren die (aus Huntingdon wieder eingetroffenen) Pferde zur Morgenarbeit auf der Heide, um halb acht begannen Maske und Garderobenabteilung ihr Tagewerk im Haus, und um halb neun fegte O’Haras Wagen hupend zum Tor herein.

Die Pfleger, die von der Heide zurück waren und ihre Schützlinge putzten und fütterten, gehorchten dem Ruf und kamen aus den halb offenen Boxen. Maske und Kostüm traten an. Die Kameracrews spitzten die Ohren. Schauspieler und Komparsen standen in Bereitschaft.

Zufrieden lieh O’Hara sich Eds Megaphon aus und verkündete, die Firma in Hollywood freue sich über den Gang der Dinge, und da er selbst nach Los Angeles abreisen

werde, trage Thomas Lyon jetzt die alleinige Verantwortung für die Produktion.

Er gab Ed das Megaphon zurück, bedeutete allen, wieder an die Arbeit zu gehen, und warf mir einen herausfordernden Blick zu.

»Also?« sagte er.

»Mir wäre es lieber, Sie blieben.«

»Es ist Ihr Film«, wehrte er ab. »Unternehmen Sie aber bitte nichts ohne Ihren Fahrer und Ihren Leibwächter.«

Er schaute sich um. »Wo sind die überhaupt?«

»Hier bin ich doch sicher«, sagte ich.

»Sie dürfen sich nirgends in Sicherheit wähnen, Thomas.«

Er gab mir einen Schlüssel und erklärte, es sei der Schlüssel für seine Hotelsuite. »Benutzen Sie bei Bedarf ruhig meine Zimmer. Die beiden Messer liegen dort im Safe. Die Kombination ist vier-fünf, vier-fünf. Okay?«

»Ja. aber wo kann ich Sie erreichen?«

»Rufen Sie meine Sekretärin in L. A. an. Sie weiß das.«

»Fahren Sie nicht!«

Er lächelte. »Mein Flieger geht um zwölf. Bis bald, Partner.«

Er stieg entschlossen in seinen Wagen und ließ sich davonfahren, und ich kam mir vor wie ein junger General, dem man mitten im Schlachtgetümmel das Kommando übertragen hat, ängstlich, ohne Selbstvertrauen, gefühlsmäßig nackt.

Auf dem Plan standen an diesem Morgen einige der ersten Szenen des Films: das Eintreffen der Polizei zur Untersuchung des Todesfalls. Moncrieff machte sich daran, die Akteure in Uniform und in Zivil auszuleuchten, und erklärte genau, wo sie stehenbleiben und sich zur Kamera drehen sollten. Sie hielten sich dabei an die Pläne und Schaubilder, die wir am Abend vorher nach meiner Rückkehr aus Cambridge angelegt hatten.

Ich überließ Ed die Aufsicht und fuhr zum Bedford Lodge, um in Ruhe zu frühstücken, stieß aber in der Halle auf meinen Fahrer und den Schwarzgürtel, die besorgt auf und ab gingen und befürchteten, ihren Job zu verlieren.

»Beruhigen Sie sich«, sagte ich. »Ihr Tag fängt erst in einer Stunde an.«

»Mr. O’Hara sagte.«

»In einer Stunde«, wiederholte ich und dachte auf dem Weg nach oben, wenn sie mich schon nicht vor dem Armadillo bewahrt hatten, könnte ich genausogut allein zurechtkommen.

Der Zimmerservice brachte mein Frühstück und einen Besucher, Robbie Gill.

»Eigentlich sollte ich Brustkörbe abhorchen und Hustentinktur verschreiben«, sagte er. »Meine Sprechstundenhilfe findet fast nur noch ungehaltene Patienten vor. Ziehen Sie sich aus.«

»Bitte was?«

»Pullover und Hemd aus«, wiederholte er. »Die Hose runter. Ich bin gekommen, um Ihr unnützes Leben zu retten.«

Geschäftig holte er Sachen aus seiner Tasche, schob mein Croissant und meinen Kaffee beiseite und aß meinen Schinken mit den Fingern.

»Sie haben hoffentlich keinen Hunger«, sagte er schmatzend.

»Wie ein Wolf.«

»Ach herrje. Machen Sie sich frei.« »Ehm. wozu?«

»Erstens für einen neuen Verband, zweitens für eine stichsichere Weste. Ich habe mich bemüht, eine reguläre kugel- und messersichere Weste zu bekommen, aber da weder die Polizei noch die Armee ohne Papierkrieg damit herausrücken wollten, müssen wir uns anders behelfen.«

Ich zog Pullover und Hemd aus, und er entfernte den Verband, hob zwar die Augenbrauen über das freigelegte Bild, schien aber nicht unzufrieden.

»Es heilt. Tut es weh?«

»Die gebrochene Rippe.«

»Das war vorauszusehen«, meinte er und erneuerte den Verband. »Also«, sagte er, »was wissen Sie über DeltaCast?«

»Nichts.«

»Das wird anstelle des alten Gipses bei Arm- und Beinbrüchen verwendet. Es ist genau gesagt ein Polymer, hart, aber porös, also juckt es nicht. Ein Messer geht da nicht durch.«

»Eine Kugel?«

»Das steht auf einem anderen Blatt.«

Er arbeitete eine halbe Stunde, und wir unterhielten uns dabei über Dorothea und Paul, ohne zu brauchbaren Schlüssen zu gelangen, aber ich erzählte ihm, daß ich jetzt dank Bill Robinson ein Heer von Kisten mit Valentines Büchern um mich hatte.

Als Robbie fertig war, steckte ich vom Kinn bis zur Taille in einer harten ärmellosen Schale, die ich in zwei Hälften an- und ausziehen und mit Klettbändern verschließen konnte.

Auf meinen Einwand, daß sie zu weit oben am Hals abschließe, sagte er lediglich: »Wollen Sie, daß man Ihnen die Kehle durchschneidet? Tragen Sie einen Rollkragenpullover. Ich habe Ihnen den dünnen weißen hier mitgebracht, falls Sie keinen dabeihaben.«

Er gab ihn mir, als wäre es nicht der Rede wert.

»Danke, Robbie«, sagte ich, und er hörte auch, daß ich es ehrlich meinte.

Er nickte kurz. »Ich schaue jetzt besser nach der hustenden Mehrheit, sonst lynchen die mich noch.«

Er packte zusammen. »Glauben Sie, Ihre Erhängte ist gelyncht worden?«

»Nein.«

»Haben Sie bei Professor Derry war rausgekriegt?«

»Das Messer, das mir die Rippe geknackt hat, nennt sich Armadillo. Das mit den Fingerringen, von der Heide, ist einer Waffe aus dem Ersten Weltkrieg nachgebildet. Die Polizei hatte den Professor schon danach gefragt.«

»Wau.«

»Der Professor ist Mitte Achtzig. Er hat mich gebeten, nicht >wau< zu sagen.«

»Hört sich stark an.«

»Wir haben uns gut verstanden, aber wem das Armadillo gehört, weiß er auch nicht.«

»Passen Sie auf sich auf«, sagte er im Gehen. »Wenn Sie mich brauchen, melden Sie sich.«

Ich aß, was von meinem Frühstück übrig war, zog mich gemächlich an und gewöhnte mich nach und nach daran, wie die Schildkröte im Panzer zu leben.

Als ich fast wieder aufbruchbereit war, rief mich die Rezeption an, um mir zu sagen, daß eine junge Frau nach mir gefragt habe. Sie sei der Meinung, ich erwarte sie. Eine Miss Lucy Wells.

»Ach ja.«

Ich hatte sie zwischenzeitlich vergessen. »Schicken Sie sie bitte hoch.«

Lucy erschien in Jeans, Pullover, Turnschuhen und mit Pferdeschwanz und kehrte die kühle, achtzehn Jahre junge Dame heraus, wenn ihr die Verlegenheit nicht gerade wieder einmal die Sprache raubte. Sie sah ausdruckslos auf die vielen Kisten und fragte, wo sie anfangen solle.

Ich gab ihr einen Laptop-Computer, einen Notizblock, einen Kuli und einen dicken schwarzen Filzstift.

»Geben Sie jeder Kiste eine Nummer«, sagte ich und schrieb mit dem Filzstift eine 1 auf den Mikrowellenherd-Karton. »Packen Sie sie aus. Listen Sie den Inhalt auf dem Block auf, geben Sie die Liste in den Computer ein, packen Sie die Bücher wieder zurück und legen Sie das Inhaltsverzeichnis dazu. Auf ein anderes Blatt schreiben Sie mir eine allgemeine Übersicht, zum Beispiel: >Kiste 1, Bücher, Biographien von Besitzern und Trainern.«

Okay?«

»Ja.«

»Schütteln Sie die Bücher für den Fall, daß lose Blätter eingelegt sind, und werfen Sie nichts weg, auch keine sinnlosen Papierschnipsel.«

»In Ordnung.«

Sie sah verwirrt aus, aber ich erläuterte nichts.

»Bestellen Sie sich beim Zimmerservice was zu Mittag«, sagte ich. »Lassen Sie keine Papiere oder Bücher herumliegen, wenn die Bedienung kommt. Okay?«

»Ja, aber warum?«

»Tun Sie’s einfach, Lucy. Hier ist der Schlüssel für die Suite.«

Ich gab ihn ihr. »Wenn Sie rausgehen, können Sie damit wieder aufschließen. Und wenn ich wiederkomme, bringe ich Nash Rourke auf einen Drink mit.«

Ihre blauen Augen wurden groß. Sie war nicht dumm. Sie blickte auf die Kartons und nahm das Geschäft, das ich ihr offeriert hatte, an.

Ich fuhr gestärkt zurück zur Arbeit, mit einer neuen Zuversicht, die weniger auf dem Fahrer und dem Leibwächter gründete als auf dem Delta-Cast. Wir verbrachten den ganzen Morgen auf dem Stallhof, wo Nash (de facto und laut Drehbuch) viel Nachsicht mit den Darstellern der Polizei bewies.

Die vom Skript verlangten anfänglichen Zweifel der Beamten kamen erst nach einer Ewigkeit rüber. »Die Polizisten sollen nicht blöd wirken«, plädierte ich, kam aber zu dem Schluß, daß ihre Darsteller schwer von Begriff waren. Auf die Besetzung der kleinen Rollen hatte ich keinen Einfluß gehabt; das Kunststück bestand darin, auch den dämlichsten Pudel dazu zu bringen, daß er durch die Reifen sprang.

Moncrieff schimpfte unentwegt. Nash konnte sich umdrehen und das Licht jedesmal richtig mit der Stirn einfangen, aber Nash, so erinnerte ich meinen wütenden Kameramann, war nicht umsonst ein Megastar.

In dem Kuddelmuddel half es wenig, daß die echte Polizei eintraf und wissen wollte, wieso meine frischen Fingerabdrücke überall in Dorotheas Haus zu finden waren. Wir hätten darüber lachen können, aber niemand war zu Scherzen aufgelegt. Es stellte sich heraus, daß ich ein Alibi hatte für die Zeit, um die Paul gestorben war (die Beamten konnten oder wollten mir nicht genau sagen, wann), jedenfalls verschlang die Unterbrechung meine Mittagspause.

Wieder an der Arbeit, kamen wir schließlich zu Cibbers (motorisierter) Ankunft auf dem Schauplatz und zu seinen Bemühungen, Nash im Bewußtsein der (fiktiven) Polizei suspekt erscheinen zu lassen. Cibber war ein guter Profi, neigte aber immer noch dazu, unangebrachte Partywitze zu erzählen und Zeit zu verschwenden. »Pardon, pardon«, meinte er nur ohne jede Reue, wenn er sich wieder mal versprach.

Ich übte mich grimmig in Geduld und ging zweimal hinaus auf die Heide, um trotz Rippenweh tief durchzuatmen, während Moncrieffs Leute Material für den achten Durchlauf einer eigentlich simplen Sequenz einlegten. Ich rief in Wrigley’s Werkstatt an und fragte, ob Bill Robinson den Nachmittag frei bekommen könne, und ich sprach mit Bill Robinson selbst, dankte ihm für die zweite Ladung heil abgelieferter Bücher und bat ihn, zu Hause vor seiner Garage ein paar Motorradteile in der Zufahrt aufzubauen.

»Wir haben uns entschlossen, Ihre Szene im Dunkeln zu drehen«, sagte ich. »Hätten Sie heute abend Zeit für uns? Und bringen Sie Ihre große Maschine mit heim?«

Na klar! Natürlich! Aber immer! und Mann! sagte er.

Müde und ein wenig mutlos machte ich um halb sechs Feierabend und lud Nash auf eine Stärkung in meine Suite im Bedford Lodge ein.

»Gern«, meinte er ohne weiteres - und begrüßte Lucy so herzlich, daß sie weiche Knie und einen Knoten in die Zunge bekam.

»Kommen Sie gut voran?« fragte ich sie und erklärte Nash kurz, womit sie beschäftigt war. Sie entschuldigte sich, daß sie langsam sei und erst fünf Kartons geschafft habe. Sie habe gerade entdeckt, daß ein Karton Zeitungsausschnitte über Sonias Tod enthalte; ob das nicht erstaunlich sei. Karton Nummer 6, sagte sie. Sie habe noch keine Zeit gehabt, sie durchzusehen.

»Das macht nichts«, sagte ich. »Kommen Sie morgen wieder, ja? Fahren Sie abends nach Hause? Oder übernachten Sie bei Ridley?«

Sie schnitt ein Gesicht. »Bei dem doch nicht. Nein«, sie wurde sichtlich rot, »ich wohne hier im Hotel. Die hatten ein Zimmer frei, und Pa war einverstanden. Das geht doch hoffentlich in Ordnung?«

»Selbstverständlich«, sagte ich zurückhaltend, da ich wußte, daß jeder Überschwang sie ängstigen würde. »Was ist mit Sonntag - übermorgen?«

»Ich kann bleiben, bis alles erledigt ist«, sagte sie. »Papa findet das auch besser.«

»Guter Papa«, lächelte Nash.

»Das Ganze interessiert ihn schwer«, sagte Lucy und fügte nach einer Pause hinzu: »Es ist wirklich seltsam, Mr. Rourke, mir Sie als meinen Papa vorzustellen.«

Nash lächelte, und seine Augenlider kräuselten sich. Trotz seiner schwangeren Frau sah er keineswegs nach einem Papa aus, schon gar nicht nach Lucys.

Wir tranken etwas zusammen und trennten uns, wobei Nash gähnend sagte, der Sklaventreiber (T. Lyon) wolle ihn in ein paar Stunden schon wieder bei der Arbeit sehen. Lucy ging bei dieser Gelegenheit dann auch gleich. So gab sie mir zu verstehen, daß sie nur aus praktischen Gründen im Hotel wohnte.

Als sie fort war, sah ich mir ihr Gesamtverzeichnis der Bücherkisten an. Da sie auf den Etappen ihrer Reise gehörig durcheinandergebracht worden waren, und da Lucy systematisch vorgegangen war, enthielten die fünf Kartons, die sie katalogisiert hatte, aufs Geratewohl gemischte Bestände.

Kiste 1 Rennberichte, Flachrennen

Kiste 2 Biographien: Trainer, Besitzer und Jockeys

Kiste 3 Rennberichte, Hindernis

Kiste 4 Wöchentliche Kommentare, Racing Gazette

Kiste 5 Bücher, Jahrbücher, Rennsportgeschichte

Mit unbezähmbarer Neugier kniete ich mich auf den Boden, öffnete Kiste 3, die Hindernis-Rennberichte, und sah zu meiner Freude, daß sie die Berichte zweier Jahre enthielt, in denen ich als Jockey aktiv gewesen war.

Die britischen Rennberichte, eine Woche für Woche ergänzte, in weiches Leder gebundene Loseblattsammlung, enthalten genaue Angaben über sämtliche Rennen einer Saison, führen jeden Starter mit Namen, Trainer, Jockey, getragenem Gewicht, Alter und Geschlecht auf und bieten eine kurze Schilderung des Rennverlaufs vom Start bis zum Ziel.

Über die Rennberichte ließ sich nicht streiten. Hieß es in den Rennberichten, daß Mr. T. Lyon (den das »Mr.« als Amateur auswies) weit abgeschlagen als Fünfter geendet hatte, nützte es Mr. T. Lyon gar nichts, wenn er sich zu erinnern meinte, er sei in einem knappen Finish um eine halbe Länge geschlagen worden. Mr. T. Lyon, las ich wehmütig, hatte ein 3-Meilen-Jagdrennen in Newbury mit zwei Längen gewonnen, das Pferd trug 66,2 kg. Der Boden war an dem Tag als »schwer« eingestuft worden, und die Eventualquote betrug 100 zu 6; Mr. T. Lyons Pferd hatte völlig unerwartet den hohen Favoriten besiegt (der, erfolgsgestraft, 10 Kilo mehr tragen mußte). Mr. T. Lyon, ich wußte es noch, war überglücklich. Das Publikum, das zum großen Teil seine Wetten verloren hatte, war weniger begeistert.

Ich lächelte. Hier war ich nun, zwölf Jahre später, eingegossen in Delta-Cast, und hoffte, nicht umgebracht zu werden. Wahrscheinlich würde ich niemals glücklicher sein als an jenem kalten, lang vergangenen Nachmittag.

Valentine hatte meinen Sieg mit einem roten Ausrufezeichen gekennzeichnet, das hieß, er selbst hatte meinem Pferd die speziellen Renneisen aufgeschlagen, vermutlich am Morgen des Wettkampfs.

Zum Rennen treten Pferde mit Aluminiumbeschlägen an, die viel leichter und dünner sind als die Stahlbeschläge, die sie im Stall und im Training brauchen. Der Hufbeschlagschmied wechselt die Eisen regelmäßig vor und nach dem Rennen aus.

Wie es der Zufall wollte, reichten die Rennberichte in Kiste 3 nur bis zu meinem siebzehnten Geburtstag zurück. Um an Mr. T. Lyons Debüt mit sechzehn heranzukommen, würde ich auf Lucy warten müssen.

Ich öffnete Kiste 1, die Flachrennberichte, und stellte fest, daß die Bände hier älter waren. Sie umfaßten die wenigen Jahre, die Jackson Wells in Newmarket trainiert hatte: Ein Band umfaßte das Jahr von Sonias Tod.

Fasziniert hielt ich nach Valentines roten Punkten (Starter) und roten Ausrufezeichen (Sieger) Ausschau und stieß immer wieder auf den Namen meines Großvaters als Trainer. Vor sechsundzwanzig Jahren, ich war gerade vier. Vor einer ganzen Generation. So viele von ihnen waren tot. So viele Pferde, so viele Rennen vorbei und vergessen.

Jackson Wells hatte nicht viele Starter gehabt und, soweit ich sehen konnte, herzlich wenig Sieger. Jackson Wells hatte auch keinen eigenen Jockey gehabt; nur erfolgreiche, gutgehende Ställe konnten es sich leisten, einen Spitzenmann vertraglich zu verpflichten. Mehrere

Wells-Pferde waren von einem P. Falmouth geritten worden, mehrere andere von D. Carsington, und von beiden hatte ich nie gehört, aber das war nicht verwunderlich.

An dem Tag, als seine Frau starb, war Jackson Wells zu einem Meeting nach York gefahren, an dem ein Pferd aus seinem Stall teilnehmen sollte. Ich schaute den Wettkampftag selbst nach und sah, daß sein Pferd dann doch als Nichtstarter aufgeführt war. Trainer Wells war auf dem Rückweg nach Newmarket gewesen, und das Rennen hatte ohne ihn stattgefunden.

Ich blätterte weiter vor. Valentines Punkte für Jackson Wells waren dünn gesät und wurden weniger. Es kam nur noch ein Ausrufezeichen, ein kleines Rennen auf einer kleinen Bahn, gewonnen von dem kleinen Jockey D. Carsington.

»Ein Sieg ist ein Sieg«, hatte mein Großvater immer gesagt. »Kein Sieg ist zu verachten.«

Ich legte die Rennberichte wieder in die Kiste, holte pflichtschuldig meine Schutzengel in der Halle ab und fuhr zu Betty, um zu fragen, ob sie vielleicht Dorotheas Schlüssel habe. Sie schüttelte den Kopf. Die arme Dorothea; der arme Paul.

Bettys Mann trauerte nicht um Paul. Wenn ich anfangen wolle, bei Dorothea aufzuräumen, sagte er, könne er mir die Tür im Handumdrehen aufmachen. Bettys Mann war ein Allround-Heimwerker. Mit Geduld und Spucke, sagte er, könne man die meisten Schlösser überlisten, und so zogen er und ich dann auch bald von einem verwüsteten Zimmer zum nächsten und schafften Ordnung, so gut wir konnten. Die Polizei, sagte er, habe fotografiert und Fingerabdrücke gesammelt und sich empfohlen. Jetzt wartete das Haus, so wie es war und vollgestopft mit bösen Erinnerungen, auf Dorotheas Heimkehr.

Ich verbrachte die meiste Zeit in ihrem Schlafzimmer und suchte die von ihr erwähnte Schachtel mit den Fotos. Ich konnte sie nicht finden. Ich sagte Bettys Mann, wonach ich suchte - Dorotheas einzige Erinnerungsstücke an Paul, als er jung war -, aber wir hatten beide kein Glück.

»Die Ärmste«, meinte Bettys Mann, »ihr Sohn war ein Walroß, aber man durfte ja nichts gegen ihn sagen. Im Vertrauen, um den ist es nicht schade.«

»Nein. aber wer hat ihn umgebracht?«

»Klar, ich verstehe schon. Gibt einem ein ungutes Gefühl, daß da weiß ich wer mit einem Messer rumrennt, hm?«

»Mhm«, sagte ich.

Ich stand auf der dunklen Straße draußen vor Bill Robinsons Garage, während der Schwarzgürtel hinter mir die Leute im Auge behielt, die sich unvermeidlicherweise versammelt hatten. In der hell erleuchteten Garage stand Bill Robinson selbst in seiner gewohnten schwarzen, silberbeschlagenen Lederkluft und sah befangen aus. Die ungeheure Harley Davidson stand auf der Seite. Teile einer zweiten, die Bill gerade neu zusammenbaute, lagen auf der Zufahrt verstreut. Moncrieff richtete Bogenlampen und Scheinwerfer aus, um dramatische Licht- und Schatteneffekte zu erzielen, und Nashs Double ging zur vorgesehenen Stelle und blickte auf die Garage. Moncrieff leuchtete ihn erst im Profil, dann im Halbprofil aus, die eine Gesichtshälfte hell, die andere im Dunkeln, so daß man nur den feuchten Schimmer eines Auges sah.

Nash kam, stellte sich neben mich und schaute zu.

»Sie bleiben stehen«, sagte ich. »Sie fragen sich, wie Sie aus der Klemme, in der Sie stecken, je wieder rauskommen sollen. Sie rüsten sich, okay?«

Er nickte. Er winkte zu der Szene hin. »Eindrucksvoll ist es ja«, sagte er, »aber wieso ein Motorrad?«

»Darum geht es in unserem Film.«

»Wie meinen Sie das? Er handelt doch nicht von Motorrädern, oder?«

»Phantasie«, sagte ich. »Von der Notwendigkeit der Phantasie handelt unser Film.«

»Die Traumliebhaber?« meinte er zweifelnd.

»Die Phantasie beschert, was das Leben entbehrt«, sagte ich beiläufig. »Der Junge da mit seinem Motorrad ist achtzehn, grundgütig, hat eine geregelte Arbeit, trägt seiner betagten Nachbarin die Einkäufe nach Hause, und in seiner Phantasiewelt ist er ein Höllenfürst mit dem röhrenden Motor zwischen seinen Schenkeln und der scharfen, metallbeschlagenen Kluft. Er spielt, was er im Grunde gar nicht sein möchte, aber die Vorstellung, es zu sein, erfüllt und befriedigt ihn.«

Nash stand bewegungslos. »Das hört sich an, als ob Sie es gut finden«, sagte er.

»Tu ich auch. Ein ausgeprägtes Phantasieleben bewahrt sicher unzählige Leute vor Langeweile und Depressionen. Es gibt ihnen das Gefühl, jemand Besonderes zu sein. Man erfindet sich selbst.

Sie kennen das sehr gut. Sie sind für die meisten Leute eine Phantasievorstellung.«

»Was ist mit Serienmördern? Sind das nicht auch Phantasten?«

»Wo ein Himmel ist, da ist auch eine Hölle.«

Moncrieff rief: »Fertig, Thomas«, und Nash ging wortlos zu der Stelle, von der aus er ins Bild kommen, anhalten, sich umdrehen und Bill Robinson in seiner Zuversicht stiftenden Traumwelt beobachten sollte.

Ed lief herum und erklärte den versammelten Nachbarn, daß sie still sein müßten. Er rief: »Kamera ab.«

Die Kameras liefen. Ed rief: »Und bitte!«

Nash ging los, blieb stehen, wandte den Kopf. Perfekt. Bill Robinson ließ aus Nervosität ein Stück Auspuffrohr fallen und sagte: »Tschuldigung.«

»Aus«, sagte Ed aufgebracht.

»Entschuldigen Sie sich nicht«, bat ich Bill Robinson und ging zu ihm in die Garage.«Es macht nichts, wenn Ihnen was runterfällt. Sie können auch ruhig fluchen. Das ist normal. Nur sagen Sie nicht Entschuldigung^«:

Er grinste. Wir filmten die Szene noch einmal, und er steckte zwei glänzende Metallteile zusammen, als wären die fünfzig Leute, die ihm zusahen, gar nicht da.

»Und aus«, kommandierte Ed zufrieden, und die Nachbarn spendeten Beifall. Nash drückte Bill Robinson die Hand und gab Autogramme. Wir verkauften eine Menge zukünftiger Kinokarten, und niemand jagte mir ein Messer in den Rücken. Alles in allem kein schlechter Abend.

Zurück im Bedford Lodge, ließen Nash und ich uns das Essen wieder aufs Zimmer bringen.

»Erzählen Sie weiter«, sagte er, »vom Nutzen der Phantasie.«

»Also. ehm.«, ich zögerte und brach ab, da ich nicht wie ein Narr klingen wollte.

»Na los«, drängte er. »Man sagt doch - ich behaupte es sogar selbst -, daß Schauspielern keine geeignete Beschäftigung für ernsthafte Menschen sei. Sagen Sie mir also, warum es doch eine ist.«

»Das brauche ich Ihnen doch nicht zu sagen.«

»Dann erzählen Sie mir, warum Sie Träume herstellen.«

»Möchten Sie Wein?«

»Weichen Sie mir nicht aus, verdammt noch mal.«

»Nun ja«, sagte ich, verschwenderisch einschenkend, »ich wollte Jockey werden, aber ich wurde zu groß dafür. Jedenfalls mußte ich eines Tages wegen einer bei einem Sturz im Rennen verletzten Schulter zum Arzt, und die Ärztin fragte mich, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Ich sagte >Rennen reiten<, und sie setzte mir grimmig auseinander, daß das eine leichtfertige Verschwendung meiner Zeit auf Erden sei. Ich fragte sie, welchen Beruf sie mir denn empfehle, und sie sagte mir streng, das einzig wirklich nützliche und lohnende Betätigungsfeld sei die Medizin.«

»Quatsch!«

»Sie mokierte sich darüber, daß ich bloß Leute unterhalten wollte.«

Nash schüttelte den Kopf.

»Darum habe ich das wahrscheinlich rationalisiert. Ich bin immer noch Unterhalter und werde es wohl auch bleiben, und ich rede mir ein, daß ich mindestens soviel Gutes tue wie ein Beruhigungsmittel. Jeder kann sich von seiner Vorstellung leiten lassen. Man kann an imaginäre Orte reisen, ohne echten Schrecken, echten Schmerz dabei zu erleiden. Ich liefere die Kulisse. Ich öffne die Tür. Ich kann mitreißen. kann heilen. kann trösten. kann Verständnis wecken. und merken Sie sich um Gottes willen kein Wort von all dem. Ich habe mir das nur zu Ihrer Unterhaltung ausgedacht.«

Er trank nachdenklich seinen Wein.

»Und in dem Film, den wir drehen«, sagte ich, »machen die Traumliebhaber das Leben der verschmähten Frau erträglicher.

Durch sie kann sie am ehesten die Affäre ihres Mannes mit der eigenen Schwester verkraften. Sie sind ihre Zuflucht. und ihre Rache.«

Er lächelte schief. »Der Typ, den ich spiele, ist ein Scheißkerl, ja?«

»Menschlich«, sagte ich.

»Und meinen Sie, Sie können Howard für ihren Selbstmord erwärmen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie hat sich bestimmt nicht umgebracht. Aber keine Sorge, Sie werden ihren Tod rächen und blütenrein aus dem Ganzen hervorgehen.«

»Hat Howard die Szenen dafür geschrieben?«

»Noch nicht.«

»Sie sind ein Schlitzohr, Thomas, wissen Sie das?«

Wir aßen friedlich zu Ende und machten zusammen mit Moncrieff die Auflösungen für die Szenen vom nächsten Tag, die in dem mittlerweile glücklich nachgebauten Athenäum-Speisesaal gedreht werden sollten.

Nach dieser Besprechung riß ich mir erleichtert die beengende Messerabwehr herunter, wusch mich, ohne den Verband zu durchnässen, und entschloß mich, schon in Pyjamashorts, schnell einmal die Zeitungsausschnitte zu Sonias Tod durchzusehen, bevor ich ins Bett kroch: Und zwei Stunden später saß ich, in einen Bademantel gehüllt, immer noch im Sessel, las abwechselnd belustigt und entgeistert und begann zu verstehen, warum Paul unbedingt Valentines Bücher hatte abschleppen wollen, und vielleicht auch, warum Valentine nicht wollte, daß er sie bekam. Indem er sie mir, einem vergleichsweise Fremden, überließ, hatte der alte Mann das in ihnen enthaltene Wissen schützen wollen. Als jemand, der mit den Zeitungsausschnitten nichts anfangen konnte, hätte ich sie ja vielleicht einfach weggeworfen, wie er es selbst hätte tun sollen; aber das hatte er so lange hinausgeschoben, bis die fortschreitende Krankheit es ihm unmöglich machte.

Paul hatte Valentines Bücher und Papiere an sich bringen wollen, und Paul war tot. Ich sah auf den Delta-CastPanzer, der stumm und leer auf dem Tisch stand, und verspürte den starken Drang, ihn wieder anzulegen, auch wenn es zwei Uhr früh war.

Als er mir Sonia beschrieb, hatte Valentine sie eine graue Maus genannt, aber so konnte er sie nicht gesehen haben, als er noch lebte. Die Mappe mit den Zeitungsausschnitten über sie enthielt zwei großformatige Aufnahmen von einer ausgesprochen hübschen jungen Frau, die wenig Sorgen und, wie mir schien, viel sexuelle Erfahrung hatte.

Die eine Aufnahme war ein 20 x 25 cm großer schwarzweißer Glanzabzug des Farbfotos von »Sonia und Pig«, das Lucy mir geliehen hatte. Auf Valentines Abzug fehlte der junge Mann. Sonia lächelte allein.

Das zweite Foto zeigte Sonia im Hochzeitskleid, wieder allein und wieder mit nichts Jungfräulichem um die Augen. Ausgerechnet meine Mutter hatte mir den Unterschied mal erklärt: Habe eine Frau einmal mit einem Mann geschlafen, bekomme sie unter den Augen kleine Hautfältchen, die hervorträten, wenn sie lächle. Sonia lächelte auf beiden Fotos, und die Fältchen waren nicht zu übersehen.

Valentine hatte gesagt, im Buch werde Sonia, >das arme Ludere, soweit er gehört habe, halb als Hure dargestellt, und mit dieser Bemerkung hatte er mich irreführen wollen. Die Mappe enthielt Nachrichten über ihren Tod aus zig Zeitungen, und in den abfälligsten dieser Berichte, in denjenigen, die ganz offen über die eheliche Treue von Mrs. Wells spekulierten, hatte jemand - aber wer, wenn nicht Valentine selbst? - mit einem roten Kuli kreuz und quer herumgestrichen und Nein! Nein! dazugeschrieben, als schmerzte ihn das Gerede.

Ich nahm alles aus der Mappe heraus und sah, daß sie neben den Fotos und dem Stoß Zeitungsausschnitte zwei brüchige getrocknete Rosen enthielt, einen kurzen Brief über einen Hufbeschlag, der mit den Worten »Liebster Valentine« anfing, und ein hauchdünnes cremefarbenes Spitzenhöschen.

Valentine habe zugegeben, daß junge Frauen ihn allzuleicht erregten, hatte Professor Derry gesagt. Nach Valentines eigener Andenkensammlung war Sonia Wells eine dieser jungen Frauen gewesen.

Armer alter Kerl, dachte ich. Er war fast sechzig gewesen, als sie starb. Ich war jung genug, um anzunehmen, mit sechzig sei man über akute sexuelle Obsessionen hinaus: Valentine belehrte mich noch von jenseits des Grabes.

Die emotionsgeladene dicke Sonia-Akte machte mich lange Zeit blind für die dünne Mappe, die darunter, auf dem Boden des Kartons, lag - aber diese Mappe erwies sich, als ich ihren Inhalt sorgfältig durchlas, als reiner Sprengstoff auf der Suche nach einem Zünder.

Auf der Suche nach mir selbst.

Ich schlief fünf Stunden, legte den Panzer an, fuhr wieder zur Arbeit. Samstag morgen. Auf meinem inneren Kalender hakte ich ihn als Tag 19 der Produktion ab, fast am Ende des ersten Drittels der mir zugestandenen Zeit.

Es regnete den ganzen Tag, aber das spielte keine Rolle, da wir die Szene im Speisesaal des Athenäum drehten, in der Cibbers Verdacht, daß seine Frau fremdging, zur unausweichlichen Gewißheit wurde. Cibber und Silva sagten pausenlos »Ja, bitte« und »Nein, danke« zu Kellnerinnen, kauten endlos auf Essen herum - und spuckten es (in Silvas Fall) aus, sobald ich »Aus« sagte; tranken zahllose Schlucke weinfarbenen Wassers, winkten (in

Cibbers Fall) namenlosen Bekannten im Saal zu; führten ein durch und durch gehässiges Gespräch mit starr lächelnden Lippen und lebhaftem Bewußtsein ihrer sozialen Stellung. Ein Jockey-Club-Mitglied wie Cibber ohrfeigte nicht öffentlich im konservativsten Speisesaal Londons seine Frau.

Howard, dachte ich, als ich zuhörte und zusah, hatte sich im Verständnis und in der Wiedergabe der Klassenzwänge und des potentiell gefährlichen Egos eines zurückgewiesenen Mannes selbst übertroffen.

Silva verhöhnte Cibber mit den Augen, ihrem honigsüßen Mund. Sie sagte ihm, sie könne seine Hände auf ihren Brüsten nicht ertragen. Ins Mark getroffen, blickte Cibber sich um, ob die Bedienung auch nichts gehört hatte. Beide Darsteller boten filmisch beste Qualität für ihr Geld.

In der Mittagspause, vor den Nahaufnahmen am Nachmittag, kehrte ich zum Ausspannen ins Bedford Lodge zurück und fand Nash ausgestreckt auf einem Sessel in meiner Suite, im Gespräch mit einer ebenso entspannten Lucy. Sie hatte an diesem Morgen dann auch erst anderthalb Kartons katalogisiert.

»Oh, hallo«, begrüßte sie mich im Knien, »was soll ich denn mit der riesigen alten Enzyklopädie in den drei Kartons hier machen?«

»Wie alt?«

Sie zog einen der dicken Bände hervor uns sah nach. »Vierzig Jahre!«

Ihr Tonfall ließ vierzig Jahre unvorstellbar klingen. Nash zuckte unwillkürlich zusammen.

»Kleben Sie ein Schild drauf und fertig«, sagte ich.

»Gut. Ach ja. ich sollte doch auf Fotoalben achten, und das war bis jetzt Fehlanzeige, aber ich habe einen Haufen

Bilder in einer alten Pralinenschachtel gefunden. Was soll ich damit machen?«

»In einer Pralinenschachtel.?«

»Ja. So mit Blumen auf dem Deckel. Ziemlich alt.«

»Ehm. wo ist die Schachtel?«

Sie öffnete einen Karton, der einmal ein Faxgerät enthalten hatte, und holte mehrere Karteikästen mit alten Rennprogrammen und Zeitungsausschnitten über Sieger, die Valentine regelmäßig beschlagen hatte, daraus hervor. »Hier ist die Pralinenschachtel«, sagte Lucy und reichte mir eine verblaßte und verbeulte goldfarbene Pappschachtel mit dahlienähnlichen Blumen auf dem Deckel. »Die Fotos habe ich nicht aufgelistet. Soll ich?«

»Nein«, sagte ich zerstreut, nahm den Deckel ab und sah lauter kleine Fotos vor mir, viele mit längst verblaßten Farben und eingerollten Ecken. Bilder von Valentine und seiner Frau, Bilder von Dorothea und ihrem Mann, ein Foto von Meredith Deny und seiner Frau und mehrere von Dorothea mit ihrem Kind: mit ihrem hübschen kleinen Paul. Bilder vom guten Leben, das die Zeit noch nicht verdorben hatte.

»Sollen wir uns was zu Mittag bestellen?« sagte ich.

Nash gab die Bestellung durch. »Was möchten Sie trinken, Thomas?«

»Lethe«, sagte ich.

»Erst wenn Sie den Film fertighaben.«

»Was ist denn Lethe?« fragte Lucy.

Nash sagte: »Der Fluß in der Unterwelt, der alle, die von seinem Wasser trinken, einschlafen und ihr Leben vergessen läßt.«

»Oh.«

»Endgültig«, setzte Nash hinzu. »Aber so hat Thomas das nicht gemeint.«

Lucy schrieb eifrig mit dem Filzstift, um zu verbergen, daß sie nicht ganz mitkam.

Auf dem Boden der Pralinenschachtel stieß ich auf einen größeren Abzug in Farbe, auch er nicht gestochen scharf, aber besser erhalten als die anderen. Das Foto zeigte eine Gruppe von jungen Leuten, alle um die Zwanzig. Auf der Rückseite standen nur zwei Wörter - »Die Gang«.

Die Gang.

Die Gang bestand aus fünf jungen Männern und einem Mädchen.

Ich starrte so lange auf das Bild, daß es den anderen auffiel.

»Was ist?« fragte Nash. »Was haben Sie entdeckt?«

Ich gab das Foto Lucy, die einen Blick darauf warf, stutzte und mit Spätzündung rief: »Aber das ist doch Papa! Wie jung er aussieht.«

Sie drehte das Foto um. »Die Gang«, las sie laut. »Das ist doch seine Handschrift, oder?«

»Das müßten Sie besser wissen als ich.«

»Ich bin mir ganz sicher.«

»Und wer sind die Leute bei ihm? Wer ist die Gang?« fragte ich.

Sie betrachtete die Aufnahme. »Ist das nicht Sonia? Bestimmt.«

Nash nahm Lucy das Foto aus der Hand, schaute es selbst an und nickte. »Das ist eindeutig Ihr Vater, und das Mädchen sieht aus wie auf dem Foto, das Sie uns geliehen haben. und der Junge neben ihr, der war auf dem Foto auch drauf. das ist mit Sicherheit >Pig<.«

»Wahrscheinlich«, meinte Lucy zweifelnd. »Und der an der Seite sieht aus wie.«

Sie schwieg unsicher, aber auch beunruhigt.

»Wie wer?« fragte ich.

»So ist er jetzt nicht mehr. Er ist, na ja, aufgedunsen. Das ist mein Onkel Ridley. Da sieht er lieb aus. Schrecklich, was die Zeit den Leuten antut.«

»Ja.«

Nash und ich sagten es wie aus einem Mund. In Hollywood lebte eine Unzahl kaum noch wiederzuerkennender alter Schauspieler und Schauspielerinnen in arg verbrauchten Hüllen, an denen nichts mehr frisch war außer der Erinnerung an den Ruhm, und die von ihren ewig jungen Spiegelbildern per Videoband oder TV-Spielfilm erbarmungslos verspottet wurden.

»Wer sind die anderen?« fragte ich.

»Die kenne ich nicht«, sagte Lucy und gab mir das Foto zurück.

Ich sagte: »Sie sehen wie Leute Ihres Alters aus.«

»Ja, stimmt.«

Sie fand daran nichts Besonderes. »Soll ich die Kiste wieder einpacken?«

»Ja, bitte. Aber lassen Sie die Pralinenschachtel draußen.«

»Okay.«

Der Lunch kam, und wir aßen. Ziggy rief aus Norwegen im Hotel an.

»Ich kann O’Hara nicht erreichen«, beklagte er sich.

»Er ist zurück nach L. A.«, sagte ich. »Was machen die Pferde?«

»Sie arbeiten fleißig.«

»Gut. Die Produktionsabteilung hat einen leerstehenden Stall für sie aufgetan, nur zehn Meilen von unserem Strand entfernt.«

Ich kramte ein Stück Papier aus der Tasche und buchstabierte ihm geduldig die Adresse. »Rufen Sie mich nach der Ankunft in Immingham am Montag an, wenn sich Probleme ergeben.«

»Ja, Thomas.«

»Vielen Dank, Ziggy.«

Er lachte erfreut und legte auf.

Ich ließ Nash und Lucy allein Kaffee trinken, nahm das »Gang«-Foto und die dünne Mappe, die ich am Abend vorher studiert hatte, ging über den Gang zu O’Haras Suite, schloß auf und verstaute Valentines Erinnerungsstücke dort im Safe, neben den Messern. Alle Zimmer im Hotel waren mit einem kleinen Privattresor ausgestattet, den die Gäste auf eine Kombination ihrer Wahl einstellen konnten. Ich mochte mir das verstärkte Sicherheitsbedürfnis kaum eingestehen, das mich veranlaßte, O’Haras Safe statt des meinen zu benutzen, aber jedenfalls schien es mir besser so.

Noch in O’Haras Suite, schlug ich die Nummer von Ridley Wells im Telefonbuch nach und wählte sie, aber niemand meldete sich.

Als ich in meine Suite zurückkam, war Nash gerade im Aufbruch und erklärte, er wolle sich am Nachmittag die Rennsportübertragungen im Fernsehen anschauen und bei einem Buchmacher, den ich ihm vermittelt hatte, per Telefon wetten.

»Bleibt es bei heute abend?« fragte er, schon an der Tür.

»Klar, wenn wie vorhergesagt der Regen aufhört.«

»Aber wie soll ich denn im Stockfinsteren ein Pferd reiten?«

»Der Mond scheint. Moncrieff macht das schon.«

»Wie ist es mit Kaninchenlöchern?« »Auf dem Trainingsgelände von Newmarket gibt es keine Kaninchenlöcher«, versicherte ich ihm.

»Und wenn ich runterfalle?«

»Dann heben wir Sie auf und setzen Sie wieder in den Sattel.«

»Manchmal hasse ich Sie, Thomas.«

Er grinste und ging seines Wegs. Während Lucy noch mit Jahrzehnten von Rennberichten rang, las ich meine Aufpasser in der Halle auf und ließ mich die knappe Meile zu den Ställen kutschieren.

Auf dem Weg zum »Athenäum« schaute ich kurz in das hauptsächlich von Ed benutzte Büro im Erdgeschoß, wo wir die Telefone, Faxgeräte und einen Großkopierer stehen hatten, und bat die junge Frau, die dort alles in Gang hielt, sie solle regelmäßig die Nummer von Ridley Wells für mich wählen und ihn, sobald er sich meldete, zu mir nach oben durchstellen.

»Aber das haben Sie mir doch ausdrücklich verboten, damit es nicht während der Aufnahmen klingelt.«

»Aufnehmen können wir neu«, sagte ich. »Ich will den Mann erwischen. Okay?«

Sie nickte beruhigt, und ich ging nach oben, um Cibber und Silva wieder ihre giftigsten Gesichter zu entlocken.

Ridley Wells meldete sich um halb vier am Telefon, und er hörte sich betrunken an.

Ich sagte: »Erinnern Sie sich, daß Sie unseren Produzenten O’Hara gefragt haben, ob wir in unserem Film für Sie noch was zu reiten hätten?«

»Er hat nein gesagt.«

»Stimmt. Aber jetzt hätten wir was. Sind Sie noch interessiert?«

Ich nannte ein Honorar für einen halben Tag Arbeit, mit dem man auch einen größeren Fisch als Ridley geködert hätte, und er fragte noch nicht einmal nach Einzelheiten.

Ich sagte: »Wir lassen Sie morgen früh um sieben mit dem Wagen abholen. Der bringt Sie zu dem Stall, wo unsere Pferde stehen. Sie brauchen nichts mitzubringen. Wir kleiden Sie in unserer Garderobenabteilung ein. Wir stellen auch das Pferd, das Sie reiten. Sie sollen nichts Ungewöhnliches oder Gefährliches mit dem Pferd abziehen. Uns fehlt nur ein Reiter für eine Szene, die wir morgen drehen.«

»Alles klar«, tönte er.

»Denken Sie dran«, beharrte ich.

»Jawohl, Herr Generaldirektor.«

»Nein«, sagte ich. »Lassen Sie den Generaldirektor. Wenn Sie morgen früh nicht nüchtern sind, gibt es keine Arbeit und kein Honorar.«

Nach einer Pause sagte er noch einmal: »Alles klar«, und ich hoffte, er meinte es auch so.

Als wir die Nahaufnahmen fertig hatten und die Tagesarbeit zum Kopieren unterwegs nach London war, ließ ich die Muster vom Vortag im Projektionsraum laufen und freute mich für Bill Robinson, daß er und seine Monstermaschine regelrecht pulsierten vor blitzender Kraft und die von Nash dargestellte Figur genau mit der Entschlossenheit erfüllten, die sie brauchte, um zu handeln.

Mut durch Phantasie, dachte ich. Der Film sollte diesen alten Gedanken veranschaulichen, ohne ihn jemandem aufzudrängen. Die Leute sollten sehen, daß sie es schon immer gewußt hatten. Die offene Tür. Türen öffnen - das war meine Funktion.

Wunderbarerweise hörte es mehr oder minder um die vorhergesagte Zeit zu regnen auf, und Moncrieff über-wachte im Stallhof das Verladen der Kameras, Filme, Lampen und Leute auf Lkws für die »Mondschein«-Aufnahmen von Nash auf der Heide.

Nash erschien auf die Minute pünktlich - wie üblich -und kam eine halbe Stunde später in Reitkleidung und Nachtmaske aus dem Haus, schwang die Reitkappe und verlangte ein absolut ruhiggestelltes Tier.

»Könnten Ihre Fans Sie doch nur hören«, bemerkte ich trocken.

»Gehen Sie erst mal mit 6 G im Tiefflug in die Kurve, Thomas«, meinte er lächelnd.

Ich schüttelte den Kopf. Nash konnte Düsenmaschinen fliegen, wenn es ihm nicht gerade durch einen Filmvertrag untersagt war, und das konnte ich nicht. Daß Nash, bevor er zum Megastar wurde, unter anderem Kampfflieger der Luftwaffe gewesen war, trug zu seinem geheimnisvollen Nimbus bei.

»Die Szene kommt ein paar Abende vor den Motorrädern«, sagte ich. »Sie sind beschuldigt worden. Sie sind besorgt. Okay?«

Er nickte. Die Abends-zu-Pferd-Szene hatte von Anfang an im Drehbuch gestanden, und er war darauf vorbereitet.

Wir fuhren im Kamerawagen langsam auf der Straße bergan, neben uns Nash im Sattel (das Pferd im schwachen »Mondlicht«), besorgt und nachdenklich. Dann filmten wir ihn auf dem Boden sitzend, mit dem Rücken an einen windschiefen Baum gelehnt, während das Pferd in der Nähe graste. Wir waren mehr oder minder fertig, als sich die dicken Wolken unverhofft teilten und in dramatischem Flug über den echten Vollmond hinsegelten, und Moncrieff richtete die Kamera mehr als sechzig Sekunden himmelwärts und strahlte mich triumphierend durch seinen Zottelbart an.

Der lange Tag ging zu Ende. Als ich wieder ins Bedford Lodge kam, fand ich drei weitere Kisten katalogisiert vor, dazu eine Notiz von Lucy, ich hätte hoffentlich nichts dagegen, daß ihre Eltern sie doch über Sonntag zu Hause haben wollten. Bin Montag zurück, schrieb sie.

Kiste 8 Rennberichte, Flachrennen

Kiste 9 Hufeisen

Kiste 10 Enzyklopädie, A-F

Die Hufeisen waren tatsächlich Hufeisen, jedes für sich in einer Plastiktüte mit dem Namen des Pferdes, das es getragen hatte, bei welchem Sieg, auf welcher Bahn, an welchem Tag. Valentine war ein echter Sammler gewesen, und er hatte seine Erfolge gut verwahrt.

Ich zog ohne bestimmte Absicht den ersten Band der Enzyklopädie heraus und schlug ihn da auf, wo ein Streifen Papier als Lesezeichen eingelegt war. Autodafe: Ketzerverbrennung, Bücherverbrennung. Historische Beispiele folgten.

Ich klappte das Buch zu, legte den Kopf gegen die Rük-kenlehne meines Sessels, fand, daß es an der Zeit sei, den Delta-Cast abzulegen, und döste halb ein.

Der Gedanke, der mich schlagartig wieder hellwach werden ließ, schien aus dem Nichts zu kommen, rührte aber von einem unbewußt aus dem Augenwinkel wahrgenommenen Wort.

Autodafe.

Weiter unten auf der Seite stand Autoerotik.

Ich nahm den Band aus der Kiste und las den langen Eintrag. Dabei erfuhr ich mehr als genug über verschiedene Formen der Masturbation, fand aber eigentlich nichts von Bedeutung. Irgendwie enttäuscht, wollte ich das Lesezeichen wieder zurücklegen, warf aber einen Blick darauf und behielt es in der Hand. Auf Valentines Lesezeichen stand das Wort »Paraphilie«.

Ich wußte nicht, was Paraphilie war, schaute aber mehrere ungeöffnete Kisten durch, bis ich Band P der Enzyklopädie gefunden hatte, und ging Valentines Hinweis nach.

Auch im Band P lag ein Lesezeichen, diesmal zwischen den Seiten mit dem Stichwort Paraphilie.

Paraphilie, las ich, umfaßte viele Spielarten perverser Liebe. Eine davon war aufgeführt als »erotische Strangulation - die sexuell erregende Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr zum Gehirn.«

Valentines Wissen von der Selbsterstickung, dem Vorgang, den er Professor Derry beschrieben hatte, stammte aus diesem Buch.

»1791, zur Zeit Haydns«, las ich, »fand in London ein bekannter Musiker bei der Befriedigung seiner paraphilen Neigungen den Tod. Eines Freitag nachmittags ließ er sich von einer Prostituierten eine Schnur so um den Hals legen, daß er sie nach eigenem Gutdünken straffziehen konnte. Versehentlich ging er dabei zu weit und erdrosselte sich. Die Prostituierte zeigte den Todesfall an und wurde des Mordes angeklagt, jedoch nicht für schuldig befunden, da die Perversion des Musikanten allgemein bekannt war. Der Richter untersagte die Publikation der Prozeßakten im Interesse des öffentlichen Anstandes.«

Man lernt nicht aus, dachte ich nachsichtig und legte die Enzyklopädie in den Karton zurück. Armer alter Professor Derry. Vielleicht war es ganz gut, daß er Valentines Tip nicht in die Tat umgesetzt hatte.

Bevor ich sie beide wegwarf, fiel mein Blick noch einmal auf Valentines zweites Lesezeichen. »Was für Derry« hatte er auf den weißen Papierstreifen geschrieben, und weiter unten »Habe das Piggy gezeigt«.

Ich ging in O’Haras Suite hinüber, nahm die Mappe und das »Gang«-Foto aus dem Safe, sah mir in seinem Sessel sitzend beides an und dachte lange und angestrengt nach.

Schließlich übernachtete ich in seinem Bett, weil das sicherer war.

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