Kapitel 15

Der Wagen der Filmgesellschaft lieferte Ridley Wells am nächsten Morgen pünktlich und nüchtern am Stall ab. Wir schickten ihn in die Garderobenabteilung im Haus, und ich nutzte die Gelegenheit, Robbie Gill über mein Mobiltelefon anzurufen.

»Noch am Leben?« fragte er aufgeräumt.

»Ja, danke.«

»Und was kann ich für Sie tun?«

Robbie kam immer gleich zur Sache.

»Zunächst mal«, sagte ich, »von wem hatten Sie die Liste der Messerfachleute?«

»Von meinem Kollegen bei der Polizei«, sagte er prompt. »Dem Arzt, den sie hier bei Einsätzen hinzuziehen. Er hat früher Rugby gespielt und mag dreckige Witze, man kann in der Kneipe gut lachen und trinken mit ihm. Ich habe ihn nach Messerexperten gefragt. Er sagte, die Polizei hätte erst kürzlich so eine Liste zusammengestellt und ihn gefragt, ob er sie ergänzen könne. Konnte er nicht. Die Messernarren, die er kennt, sitzen zum großen Teil.«

»Hat er Dorothea behandelt?«

»Nein, da war er nicht im Dienst. Sonst noch was?«

»Wie geht’s ihr?«

»Dorothea? Sie steht noch unter Beruhigungsmitteln. Wollen Sie auch jetzt, wo Paul tot ist, noch für die Privatklinik aufkommen?»

»Ja, und ich möchte sie bald wieder besuchen, wenn es geht, heute nachmittag.«

»Kein Problem. Gehen Sie einfach hin. Sie liegt wegen Paul noch auf einer geschlossenen Station, aber körperlich erholt sie sich gut. Am Dienstag könnten wir sie, glaube ich, verlegen.«

»Gut«, sagte ich.

»Geben Sie auf sich acht.«

»Mach ich«, meinte ich trocken.

Im Stallhof sattelten die Pfleger ihre Pferde für die Morgenarbeit und legten ihnen Zaumzeug an. Da es Sonntag war, würden wir die Heide praktisch wieder für uns allein haben, sagte ich ihnen, aber wir würden nicht genau die gleichen Szenen wie in der Vorwoche drehen.

»Sie sollten heute ja alle genauso angezogen sein wie letzten Sonntag«, sagte ich. »Haben Sie beim Skriptgirl rückgefragt, wenn Sie es nicht mehr genau wußten?«

Einige nickten.

»Prima. Dann kantern Sie jetzt alle den Hang hinauf und halten da an, wo Sie vor acht Tagen stehengeblieben und im Kreis gegangen sind. Okay?«

Wieder Nicken.

»Wissen Sie noch, wie dann der Reiter plötzlich ankam und auf Ivan eingestochen hat?«

Sie lachten. Das würden sie nicht vergessen.

»Schön«, sagte ich, »Ivan ist zwar heute nicht da, aber wir inszenieren den Anschlag noch mal und nehmen ihn mit in den Film hinein. Heute wird das Ganze gespielt. Okay? Zum Einsatz kommt kein echtes Messer, sondern eins aus Holz von unserer Produktionsabteilung. Sie sollen sich genauso verhalten wie vorigen Sonntag - im Kreis gehen, reden, nicht weiter auf den Fremden achten. Klar?«

Sie verstanden ohne Mühe. Unser junger Reitmeister sagte: »Wer springt für Ivan ein?«

»Ich«, sagte ich. »Ich bin zwar um die Schultern nicht so breit wie er oder Nash, aber ich ziehe eine Jacke über, wie sie Nash als der Trainer immer anhat. Ich reite auch das Pferd von Ivan. Wenn die Kameras soweit sind, setzen wir den Mann, der den Messerstecher spielt, auf den langsamen alten Rappen, der in Huntingdon Letzter geworden ist. Der Pfleger, der ihn sonst reitet, steht hinter den Kameras und bleibt aus dem Bild. Noch Fragen?«

Einer sagte: »Verfolgen Sie ihn auch wieder mit dem Wagen ins Tal wie vor acht Tagen?«

»Nein«, sagte ich. »Er galoppiert allein davon. Die Kamera filmt ihn.«

Ich übergab das Kommando sozusagen dem Reitmeister, der das Aufsitzen und den Aufbruch des Lots organisierte. Ed und Moncrieff waren bereits auf der Heide. Ich ging in die Garderobe, um Nashs Jacke anzuziehen, und da auch Ridley fertig war, nahm ich ihn in meinem Wagen mit über die Landstraße zum Rand der Anhöhe. Wir stiegen aus, gingen zu den kreisenden Pferden hinüber und blieben beim Kamerawagen stehen.

»Ihre Aufgabe wird sein«, erklärte ich Ridley, »von irgendwo da drüben in die Gruppe hineinzureiten.«

Ich deutete hin. »Sie reiten in die Gruppe, ziehen ein Bühnenmesser aus der Scheide an Ihrem Gürtel, stechen auf einen aus der Gruppe ein, als wollten Sie ihn ernstlich verletzen, und in dem darauffolgenden Gedränge galoppieren Sie über den Kamm und fliehen das weite Trainingsgelände hinunter in Richtung Stadt. Okay?«

Ridley blickte starr aus dunklen, angespannten Augen.

»Sie stechen auf mich ein, okay? Ich double Nash.«

Ridley sagte nichts.

»Im fertigen Film«, erklärte ich ihm freundlich, »erscheint die Szene natürlich nicht so als ein glatter Ablauf. Da blitzt das Messer auf, es steigen Pferde, es gibt Hektik und Verwirrung. Man wird eine Wunde sehen. Man wird Blut sehen. Das tricksen wir alles nachher.«

Ed kam mit diversen Requisiten zu mir und Ridley herüber und gab sie ihm der Reihe nach.

»Bühnenmesser mit Scheide und Gürtel«, sagte Ed, als läse er von einer Liste ab. »Legen Sie bitte den Gürtel an.«

Wie hypnotisiert gehorchte Ridley.

»Ziehen Sie mal probehalber das Messer«, sagte ich.

Ridley zog das Messer und schaute es entsetzt an. Die Produktionsabteilung hatte das amerikanische Nahkampfmesser anhand meiner Skizze getreu nachgebaut, und wenngleich Ridley nur ein bemaltes leichtes Holzding in der Hand hielt, sah es auf drei Schritt Entfernung doch aus wie ein massiver Schlagring mit einer langen, von der Innenseite ausgehenden Klinge.

»Gut«, sagte ich nur. »Stecken Sie es wieder in die Scheide.«

Fahrig steckte Ridley das Messer weg.

»Kappe«, sagte Ed und hielt sie ihm hin.

Ridley schnallte sich die Kappe um.

»Brille«, offerierte Ed.

Ridley setzte sie langsam auf.

»Handschuhe.«

Ridley zögerte.

»Ist was?« fragte ich.

Ridley sagte heiser: »Nein«, und ließ sich auf unseren langsamsten Gaul werfen.

»Prima«, sagte ich, »also, dann los. Wenn Ed >Und bitte< ruft, traben Sie einfach auf mich zu, ziehen das Messer, stechen zu und galoppieren schnell in Richtung Newmarket davon. Sollen wir das proben, oder meinen Sie, Sie schaffen es auf Anhieb?«

Die Gestalt mit Kappe, Brille und Handschuhen antwortete nicht.

»Jede Wette, daß Sie es schaffen«, sagte ich.

Ridley schien unfähig zu handeln. Ich bat den Pfleger, dessen Pferd er ritt, ihn zum Ausgangspunkt zu führen, dann loszulassen und aus dem Bild zu gehen. Während der Pfleger geschickt die Anweisung befolgte, sprang der auf Nashs Pferd sitzende Bursche ab und warf mich rauf. Ein Schmerz zuckte durch die gebrochene Rippe. Ich paßte die Bügellänge an. Moncrieff öffnete seine Fluter, um das Tageslicht für die Szene zu verstärken.

Ed rief: »Und bitte.«

Ridley Wells ließ sein Pferd kantern, nicht traben. Er riß mit der Rechten das Messer heraus, während er mit der Linken die Zügel hielt. Experte, der er war, lenkte er sein Pferd mit den Beinen, und er schoß direkt auf mich zu, so mörderisch entschlossen, wie man es sich nur wünschen konnte.

Das »Messer« traf meine Jacke und den Panzer darunter, und weil das Klingenimitat stumpf war, flog die Waffe durch die Wucht des Aufpralls Ridley aus der Hand.

»Ich hab’s fallen lassen«, rief er, und ich wies auf den Hügelkamm und brüllte: »Macht nichts. Türmen Sie.«

Er türmte. Er duckte sich tief über den Sattel und galoppierte, als wäre es eine echte Flucht.

Die berittenen Pfleger drängten sich wie zuvor am Rand der Anhöhe zusammen, um alles mitzubekommen, und diesmal verfolgte ich den Ausreißer zu Pferd, nicht mit dem Wagen.

Der Wagen fuhr die Straße entlang, die Kamera surrte. Die Sequenz, die ich für den Film schließlich zusammenschnitt, zeigte »Nash« seinem Angreifer dicht auf den Fersen; Nash mit einer klaffenden, blutenden Wunde; Nash wie er zurückfiel, allzuviel Blut verlor; Nash unter Schmerzen.

»Ein Augenschmaus!« hauchte O’Hara, als er das sah. »Herrgott, Thomas.«

An diesem Sonntagmorgen floß jedoch kein Blut. Ich hatte das wesentlich schnellere Pferd und holte Ridley ein, bevor er in den Straßen Newmarkets verschwinden konnte.

Wütend hielt er sein Pferd an, riß sich die Handschuhe, die Brille, die Kappe herunter und warf sie auf den Boden. Er kämpfte sich aus dem Anorak, den wir ihm angezogen hatten, und schleuderte ihn von sich.

»Ich bringe Sie um«, sagte er.

Ich sagte: »Ich schicke Ihnen Ihre Gage.«

Sein aufgedunsenes Gesicht bebte vor Unentschlossenheit, als schwankte er, ob er mich auf der Stelle anfallen sollte oder nicht, aber Vernunft oder Feigheit siegten, und mit geübtem Schwung hob er den rechten Fuß über den Hals des Pferdes und glitt auf der mir zugewandten Seite aus dem Sattel. Er ließ die Zügel los, kehrte mir den Rük-ken und ging wackligen Schrittes auf Newmarket zu, als spürte er den Boden nicht unter den Füßen.

Ich beugte mich vor, nahm die herunterhängenden Zügel auf und brachte beide Pferde zum Stall zurück.

Die Pfleger kamen mit großen Augen von der Heide wieder, zwitschernd wie die Spatzen.

»Der Mann sah ganz genauso aus!« - »Der war das!« -»Er hat ausgesehen wie der Mann vor acht Tagen.« - »Sah er nicht ganz genauso aus?«

»Doch«, sagte ich.

Von der Garderobenabteilung, wo ich Nashs Jacke und Kappe abgab, ging ich kurz in den ersten Stock hinauf, wo die Arbeiter die Athenäumkulisse zur Seite räumten und statt dessen die Nachbildung einer Stallbox errichteten.

Da eine normale Box viel zu klein war für Kamera, Crew, Scheinwerfer und Techniker und dazu noch zwei Schauspieler, erstellten wir unsere eigene Version. Es war, als hätten wir eine Box dreigeteilt und sie dann auseinandergezogen, um in der Mitte genügend Spielraum für die Kamera zu bekommen. Der eine Boxenabschnitt enthielt die oben aufklappbare Tür zur Außenwelt (mit einer Hintergrundprojektion des Stallhofs), der zweite Krippe und Trinkeimer. Der dritte und größte Abschnitt umfaßte den Platz, wo normalerweise das Pferd stand.

Echte, weiß getünchte Hüttensteine bildeten die Wände der Box, mit einer offenen Decke aus schweren Dachsparren. Die im Augenblick noch ordentlich gestapelten Heuballen würden auf eine von den Dachsparren getragene Plattform über der Szene verfrachtet werden. Der Boden der einzelnen Boxenabschnitte wurde gerade mit strohbedeckten Betonplatten ausgelegt. Kunstvolle Hufspuren und andere Be- und Abnutzungserscheinungen zeigten, daß es eine vielbeanspruchte Box war.

»Wie steht’s?« fragte ich und sah mich beifällig um.

»Morgen früh sind wir fertig«, versicherten sie mir. »Dann ist alles bombenfest, wie Sie es haben wollten.«

»Wunderbar.«

Dorotheas Wangen waren ganz leicht rosa; ein großer Fortschritt.

Bei meiner Ankunft hatte es ein paar Tränen gegeben, aber ohne die quälende Verzweiflung von vor zwei Tagen. Da ihre physische Verfassung sich gebessert hatte, war auch ihre Willenskraft zurückgekehrt. Sie dankte mir für die mitgebrachten Blumen und sagte, sie sei die ewige Tomatensuppe leid.

»Sie soll ja gut für mich sein, aber allmählich hängt sie mir zum Hals heraus. Fleisch und Salat kann ich zwar nicht essen - haben Sie je einen Krankenhaussalat probiert? -, aber warum nicht mal Steinpilz- oder Hühnersuppe? Und hausgemacht ist das alles sowieso nicht.«

Sie sehne sich nach der Privatklinik, die ihr der gute Robbie Gill empfohlen habe, sagte sie, und sie hoffe, ihre Schwiegertochter werde bald wieder heim nach Surrey fahren.

»Wir mögen uns nicht«, gestand Dorothea seufzend. »So schade es auch ist.«

»Mhm«, stimmte ich zu. »Möchten Sie, wenn Sie wieder gesund sind, in Ihr Haus zurück?«

Tränen zitterten in ihren Augen. »Paul ist da gestorben.«

Valentine auch, dachte ich.

»Thomas. ich habe mich an etwas erinnert.«

Es schien ihr sehr wichtig zu sein. »An dem Abend, als ich überfallen worden bin.«

»Ja?« hakte ich nach. »Was ist Ihnen eingefallen?«

»Paul hat geschrien.«

»Ja, Sie haben es erzählt.«

Ich zog den Besucherstuhl an ihr Bett, setzte mich ruhig neben sie und hielt ihre Hand, um ihr die Angst zu nehmen und meine eigenen brennenden Fragen zurückzudrängen.

»Erinnern Sie sich, wie er ausgesehen hat?« fragte ich sanft.

»Ich kannte ihn nicht. Er war mit Paul da, als ich von Mona wiederkam - bei der hatte ich ferngesehen, aber weil uns das Programm nicht gefiel, bin ich zeitig nach Hause. Ich bin zur Küchentür rein wie gewohnt und war überrascht - freudig überrascht -, Paul vor mir zu sehen, aber er war so seltsam, Thomas, erschrocken fast, aber dazu hatte er doch gar keinen Grund. Warum hätte er erschrocken sein sollen?«

»Vielleicht weil Sie heimgekommen sind, als er und der andere gerade Ihr Haus durchstöbert haben.«

»Paul hat dann geschrien, wo Valentines Fotoalbum sei, und ich hab gesagt, er hätte doch gar keins gehabt; bloß so ein paar alte Schnappschüsse in einer Pralinenschachtel, genau wie ich, aber Paul hat mir nicht geglaubt, sondern weiter danach gefragt.«

»Hat Valentine denn noch nie eins gehabt?« fragte ich.

»Nein, bestimmt nicht, Thomas. Wir waren zu Hause nicht so wild auf Fotos, im Gegensatz zu manchen anderen Familien, für die etwas erst wirklich passiert ist, wenn sie es geknipst haben. Valentine hat zig Fotos von Pferden, aber Pferde waren ja auch sein Leben. Immer nur Pferde. Er hat keine Kinder, weil seine Cathy keine kriegen konnte. Als Familienvater hätte er vielleicht mehr Wert auf Fotos gelegt. Ich habe eine ganze Menge Fotos in einer Schachtel bei mir im Schlafzimmer. Fotos von uns allen, vor langer Zeit. Bilder von Paul.«

Wieder flossen Tränen, und ich verschwieg ihr, daß ich die kläglich wenigen Andenken, die sie im Schlafzimmer verwahrte, nicht hatte finden können. Ich würde ihr dafür Valentines Pralinenschachtel geben.

»Hat Paul gesagt, weshalb er das Fotoalbum haben wollte?« fragte ich.

»Ich glaube nicht. Es ging alles so schnell, und der andere Mann war so wütend und hat so getobt, daß Paul sagte -mir wurde richtig angst, Thomas, aber er sagte: >Sag ihm, wo das Album ist, er hat ein Messer.<«

Ich fragte ruhig: »Wissen Sie das genau?«

»Ich dachte, ich hätte es geträumt.«

»Und jetzt?«

»Also. jetzt meine ich, er muß es gesagt haben. Ich habe Pauls Stimme im Ohr. ach herrje. ach, mein kleiner Liebling.«

Ich hielt sie im Arm, während sie schluchzte.

»Der andere Mann hat mich geschlagen«, sagte sie schluckend. »Auf den Kopf geschlagen hat er mich, und Paul schrie: >Sag’s ihm, sag’s ihm<. und dann sah ich, daß er wirklich ein Messer hatte, der Mann. oder vielmehr irgendwas Glänzendes, aber ein richtiges Messer war es auch nicht, seine Finger gingen durch. Dreckige Nägel. es war schrecklich. und Paul schrie: >Nein, nein. nicht!<, und dann bin ich im Krankenhaus aufgewacht und habe nicht mehr gewußt, was passiert war. aber vergangene Nacht. heute morgen beim Aufwachen, Thomas, mußte ich an Paul denken, und da ist mir alles irgendwie eingefallen.«

»Ja«, sagte ich. Schweigend zählte ich eins zum anderen. »Liebste Dorothea«, sagte ich, »ich glaube, Paul hat Ihnen das Leben gerettet.«

»Oh! Oh!«

Sie weinte noch immer, aber nach einiger Zeit aus reiner Freude, nicht mehr aus bitterem Kummer.

»Ich glaube«, sagte ich, »als er mitansehen mußte, wie Sie mit dem Messer zugerichtet wurden, war Paul so entsetzt, daß er einen tödlichen Stoß abgewendet hat. Für

Robbie Gill sah der Überfall auf Sie nach einem verhinderten Mord aus. Er meinte, Leute, die so schrecklich zustechen, seien meistens außer sich und könnten nicht aufhören. Ich glaube, Paul hat ihn aufgehalten.«

»O Thomas!«

»Aber leider«, sagte ich bedauernd, »ergibt sich daraus auch, daß Paul Ihren Angreifer gekannt hat, und er hat ihn nicht angezeigt. Im Gegenteil, Paul hat vorgegeben, zum Zeitpunkt des Überfalls in Surrey gewesen zu sein.«

Dorotheas Freude trübte sich ein wenig, blieb aber dennoch bestehen.

»Er hat sich gewandelt«, sagte ich. »Ich glaube, einmal war er nah dran, mir etwas zu sagen, bloß weiß ich nicht, was. Ich nehme aber an, daß er wegen dem, was Ihnen zugestoßen ist, Gewissensbisse hatte.«

»Aber Thomas, das will ich doch hoffen.«

»Bestimmt«, sagte ich mit mehr Gewißheit, als ich empfand.

Sie überlegte eine Weile schweigend und sagte dann: »Paul ist manchmal mit seinen Meinungen herausgeplatzt, als könnte er damit einfach nicht mehr an sich halten.«

»So?«

»Er sagte. ich wollte Ihnen das nicht sagen, Thomas, aber neulich - als er hier bei mir war - hat er auf einmal getobt: >Warum muß der auch bloß diesen Film drehen?< Er war erbittert. Er sagte, mir hätte keiner ein Haar gekrümmt, wenn Sie nicht alles wieder aufgerührt hätten. Was denn aufgerührt? habe ich natürlich gefragt, und da meinte er, das stünde alles im Drumbeat, aber ich solle vergessen, was er gesagt habe; wenn Ihnen was zustieße, seien Sie jedenfalls selbst schuld. Er sagte. es tut mir ehrlich leid, aber er sagte, wenn man Sie so aufschlitzte wie mich, würde er sich freuen. Das war sonst nicht seine Art, wirklich nicht.«

»Ich habe ihn ja aus Ihrer Wohnung ausgesperrt«, erinnerte ich sie. »Schon weil ich ihn so in Verlegenheit gebracht habe, konnte er mich nicht leiden.«

»Nein, aber. also irgendwas hat ihn bedrückt, da bin ich mir sicher.«

Ich stand auf, ging ans Fenster und schaute müßig auf die gleichmäßigen Fensterreihen des Klinikgebäudes gegenüber und auf das karge Gartenviereck dazwischen. Zwei Leute in Weiß gingen langsam, ins Gespräch vertieft, einen Weg entlang. Ärzte spielende Komparsen, dachte ich unwillkürlich - und merkte wieder einmal, wie oft ich das Leben selbst als Film wahrnahm. Ich drehte mich um und fragte Dorothea: »Hat Paul Sie auch hier im Krankenhaus nach einem Fotoalbum gefragt?«

»Ich glaube nicht, Thomas. Aber es ist alles so verworren.«

Sie schwieg. »Er hat davon geredet, daß Sie Valentines Bücher abgeholt hätten; und ich habe ihm nicht widersprochen. Ich wollte nicht streiten, verstehen Sie, Thomas? Ich war zu müde.«

Ich sagte ihr, daß ich bei Bill Robinson, ihrem netten jungen Freund, Valentines Sachen abgeholt und ein Foto darunter gefunden hätte, mir aber nicht vorstellen könne, daß seinetwegen sie und ihr Haus so zugerichtet worden seien.

»Sagen Sie mir, wer darauf ist, wenn ich es Ihnen zeige?«

»Natürlich, Thomas, wenn ich kann.«

Ich nahm das »Gang«-Foto aus der Tasche und legte es ihr in die Hand.

»Da brauche ich meine Lesebrille«, sagte sie, die Augen zusammenkneifend. »Das rote Etui auf dem Nachttisch.«

Ich gab ihr die Brille, und sie betrachtete das Foto ohne sonderliche Erregung.

»Hat einer von diesen Leuten Sie angegriffen?« fragte ich. »Ach, von denen doch nicht. Er war viel älter. Die hier sind alle blutjung. Nanu!« rief sie aus, »Das ist ja Paul. Der ganz außen, ist das nicht Paul? Wie jung er da noch war! Ein hübscher Kerl.«

Sie ließ die Hand, die das Foto hielt, aufs Bettuch sinken. »Die anderen kenne ich nicht. Ich wünschte, Paul wäre hier.«

Seufzend nahm ich das Foto wieder an mich, steckte es ein und zog den kleinen Notizblock hervor, den ich immer bei mir trug. Ich sagte: »Ich will Sie nicht beunruhigen, aber wenn ich Ihnen ein Messer aufzeichne, würden Sie mir dann sagen, ob es das sein könnte, mit dem Sie verletzt worden sind?«

»Das will ich nicht sehen.«

»Bitte, Dorothea.«

»Paul ist mit einem Messer umgebracht worden«, wimmerte sie und weinte um ihren Sohn.

»Liebste Dorothea«, sagte ich nach einer Weile, »sehen Sie sich meine Zeichnung an, wenn die Möglichkeit besteht, daß sie zu Pauls Mörder führt?«

Sie schüttelte den Kopf. Ich legte die Zeichnung dicht neben ihre Hand, und eine lange Minute verging, ehe sie danach griff.

»Wie furchtbar«, sagte sie, das Bild betrachtend. »So ein Messer habe ich nicht gesehen.«

Sie klang ungemein erleichtert. »Es war nichts in der Art.«

Ich hatte ihr das amerikanische Nahkampfmesser aufgezeichnet. Ich drehte das Blatt um und zeichnete das unheimliche Armadillo mit Sägezähnen und allem Drum und Dran.

Dorothea sah es sich an, wurde blaß und schwieg.

»Es tut mir sehr leid«, sagte ich hilflos. »Aber Sie sind wenigstens nicht gestorben. Paul hat Sie geliebt. Er hat Ihnen das Leben gerettet.«

Ich dachte an den Ausdruck tiefsten Entsetzens auf Pauls Gesicht, als er zu Dorothea nach Hause gekommen war und das Armadillo auf dem Küchentisch hatte liegen sehen. Als er mich davor hatte sitzen sehen - lebendig.

Er war aus dem Haus gestolpert und davongefahren, und es war sinnlos, jetzt darüber zu spekulieren, daß er, wenn wir ihn aufgehalten, ihn zurückgeholt und zum Reden gebracht hätten, vielleicht am Leben geblieben wäre. Paul war einmal nahe dran gewesen zu reden. Paul, dachte ich, war zu einem Schwachpunkt geworden, zu jemandem, der leicht zusammenbrechen, leicht geständig werden konnte. Paul, anmaßend, großtuerisch, unsympathisch, hatte den Mut verloren und war als Büßer gestorben.

Den Schwarzgürtel neben sich, lenkte mein Fahrer den Wagen in Richtung Oxfordshire und warf hin und wieder einen Blick auf meine schriftliche Wegbeschreibung, während ich im Fond saß, mir noch einmal das »Gang«-Foto ansah und daran denken mußte, was sowohl Dorothea als auch Lucy dazu gesagt hatten.

»Sie sind so jung.«

Jung.

Jackson Wells, Ridley Wells, Paul Pannier, sie alle waren auf dem Foto mindestens sechsundzwanzig Jahre jünger als die Männer, die ich persönlich kennengelernt hatte. Sonia war vor sechsundzwanzig Jahren gestorben, und auf dem Foto lebte sie.

Ich war vier gewesen, als sie starb, und hatte nichts von ihr gehört, und jetzt mit dreißig war ich da und wollte wissen, warum sie gestorben war. Ich hatte gesagt, daß ich der Frage vielleicht nachgehen würde, und damit eine Kettenreaktion ausgelöst, die Dorothea ins Krankenhaus und Paul ins Grab gebracht und mir - bis auf weiteres - eine Stichwunde zwischen den Rippen eingetragen hatte.

Ich hatte nicht gewußt, daß ein Geist in der Flasche war, aber einmal befreit, ließen Geister sich nicht wieder einsperren.

Mein Fahrer fand die Batwillow Farm und setzte mich vor Jackson Wells’ Tür ab.

Wieder öffnete Lucy auf das Läuten der überlauten Glocke hin und riß erstaunt die blauen Augen auf.

»Na, so was«, sagte sie, »war es falsch von mir, nach Hause zu fahren? Schleifen Sie mich jetzt am Pferdeschwanz wieder zurück?«

»Nein.«

Ich lächelte. »Ich wollte eigentlich mit Ihrem Vater sprechen.«

»Ach so. Kommen Sie rein.«

Ich schüttelte den Kopf. »Könnte er vielleicht rauskommen?«

»Hm? Ich frag ihn mal.«

Etwas verwirrt verschwand sie im Haus und erschien bald mit ihrem blonden, schlanken, sonnengebräunten Vater wieder, der mich fragend ansah und genauso dastand wie acht Tage zuvor.

»Kommen Sie rein«, begrüßte er mich und winkte einladend.

»Gehen wir ein Stück.«

Er zuckte die Achseln. »Wenn Sie wollen.«

Er kam aus dem Haus, und Lucy blieb unsicher in der Tür stehen.

Jackson musterte die beiden drahtigen Männer in meinem Wagen und fragte: »Freunde?«

»Ein Fahrer und ein Leibwächter«, erwiderte ich. »Gestellt von der Filmgesellschaft.«

»Oh.«

Wir gingen über den Hof und blieben an dem fünfstäbi-gen Gittertor stehen, an dem vor einer Woche der schwerhörige alte Wells senior gelehnt hatte.

»Lucy macht ihre Sache gut«, sagte ich. »Hat sie’s Ihnen erzählt?«

»Sie unterhält sich gern mit Nash Rourke.«

»Die zwei verstehen sich«, stimmte ich zu.

»Ich habe ihr gesagt, sie soll sich vorsehen.«

Ich lächelte. »Das haben Sie ihr gut beigebracht.«

Zu gut, dachte ich. Ich sagte: »Hat sie was von einem Foto erzählt?«

Er sah aus, als wüßte er nicht, ob er ja oder nein antworten sollte, und sagte schließlich: »Von was für einem Foto?«

»Von dem hier.«

Ich zog es aus meiner Tasche und gab es ihm.

Er betrachtete kurz die Bild- und die Rückseite und sah mich ausdruckslos an.

»Lucy sagt, das sei Ihre Handschrift«, meinte ich und nahm das Bild wieder an mich.

»Und wenn sie es ist?«

»Ich bin nicht die Polizei«, sagte ich, »und ich habe keine Daumenschrauben bei mir.«

Er lachte, aber die heitere Unbeschwertheit von vor acht Tagen war von Vorsicht unterminiert.

Ich sagte: »Sie haben mir vorige Woche erzählt, daß niemand sich erklären konnte, warum Sonia gestorben war.«

»Ganz recht.«

Die blauen Augen leuchteten unschuldig wie eh und je.

Ich schüttelte den Kopf. »Jeder auf diesem Foto hat gewußt, warum Sonia gestorben ist.«

Er schwieg, bis es ihm gelang, ein Lächeln und eine angemessen verächtliche Miene aufzusetzen.

»Sonia ist doch selbst auf dem Foto. Sie reden Blödsinn.«

»Sonia hat es auch gewußt«, sagte ich.

»Wollen Sie sagen, sie hat Selbstmord begangen?«

Er sagte es fast hoffnungsvoll, und ich konnte ihn verstehen.

»Nicht direkt. Sie hatte nicht vorgehabt, zu sterben. Niemand hatte vor, sie umzubringen. Sie starb durch einen Unfall.«

»Sie haben doch keine Ahnung, wovon Sie reden.«

Ich wußte es nur zu gut. Ich wollte nicht noch mehr Schaden anrichten, ich wollte nicht ums Leben kommen, aber der Tod von Paul Pannier durfte nicht einfach übergangen werden, und von Gerechtigkeitserwägungen ganz abgesehen, würde ich mit Delta-Cast herumlaufen, bis sein Mörder gefaßt war.

»Sie sehen auf dem Foto alle so jung aus«, sagte ich. »Goldmädchen, Goldjungen, die lächeln und das Leben noch vor sich haben. Sie waren noch Kinder, das haben Sie selbst gesagt. Sie wollten Spaß, für Sie war alles ein Spiel.«

Ich nannte die unbekümmerten jungen Leute auf dem Foto bei ihren Namen. »Da sind Sie und Sonia und Ihr jüngerer Bruder Ridley. Dann Paul Pannier, der Neffe Ihres Hufschmieds. Dann Roddy Visborough, der Sohn von Sonias Schwester - Sonia war also effektiv seine Tante. Und dazu kommt Ihr Jockey P. Falmouth, genannt Pig.«

Ich hielt inne. »Sie waren der Älteste, zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig. Ridley, Paul, Roddy und Pig waren alle achtzehn, neunzehn oder zwanzig, als Sonia starb, und sie war erst einundzwanzig.«

Jackson Wells sagte verblüfft: »Woher wissen Sie das?«

»Zeitungsberichte. Ein wenig Kopfrechnen. Es spielt ja auch weiter keine Rolle. Entscheidend ist, wie unreif Sie alle waren und daß manche Leute in dem Alter meinen, die Jugend währe ewig, Vorsicht sei was für Greise und Verantwortung ein schmutziges Wort. Sie sind nach York gefahren, und die anderen haben ein Spiel gespielt. und ich glaube, die ganze Gruppe, die ganze Gang außer Ihnen war dabei, als sie starb.«

»Nein«, sagte er scharf. »Das war keine Gemeinschaftssache. Sie reden von einer Gruppenvergewaltigung. Die ist nicht passiert.«

»Das weiß ich schon. Die Autopsie hat eindeutig ergeben, daß kein Geschlechtsverkehr stattgefunden hatte. Das wurde in allen Zeitungen hervorgehoben.«

»Na also.«

Ich sagte vorsichtig: »Ich glaube, einer von den Jungen hat sie irgendwie erdrosselt, obwohl er ihr gar nichts Böses tun wollte, und sie waren alle so erschrocken, daß sie versucht haben, es wie einen Selbstmord aussehen zu lassen, indem sie sie aufgehängt haben. Und dann sind sie einfach - weggelaufen.«

»Nein«, sagte Jackson dumpf.

»Ich glaube«, sagte ich, »Sie haben anfangs wirklich nicht gewußt, was passiert war. Als die Polizei mit Ihnen sprach und Sie zum Geständnis bewegen wollte, konnten Sie unbekümmert auf alle Fragen eingehen, weil Sie wußten, daß Sie keine Schuld traf. Sie hatten zu dem Zeitpunkt wirklich keine Ahnung, ob sie sich erhängt hatte oder nicht, wenngleich Sie wußten, daß es ihr nicht ähnlich sah, und der Polizei das auch gesagt haben. Ich glaube, eine ganze Zeitlang war Ihnen das wirklich ein Rätsel, aber genauso klar ist auch, daß es Sie nicht psychisch zerstört hat. Kein einziger Zeitungsbericht - und inzwischen habe ich sehr viele gelesen - sagt etwas von einem verzweifelten jungen Ehemann.«

»Nun, ich.«

»Sie wußten inzwischen«, vermutete ich, »daß sie Liebhaber hatte. Keine Traumliebhaber, sondern echte. Die Gang. Ganz zwanglos. Nur so zum Spaß. Als Spiel. Ich nehme an, sie hat im Sexualakt nie mehr als ein flüchtiges Vergnügen gesehen, wie Eiskrem, und das geht vielen Leuten so, wenn auch immer nur die Gefühlsmenschen und die Eifersüchtler in die Zeitung kommen. Als Sonia starb, waren Sie mit Ihrem Ehespiel schon fertig. Das haben Sie mir gesagt. Sie haben vielleicht Kummer und Bestürzung über ihren Tod empfunden, aber Sie waren jung und gesund und mit Kraft gesegnet, und Ihre Trauer war kurz.«

»Das können Sie doch nicht wissen.«

»Habe ich bis dahin recht?«

»Nun.«

»Erzählen Sie mir, wie es weiterging«, sagte ich. »Ich verspreche Ihnen auch, nichts, was Sie sagen, im Film zu verwenden. Wir bleiben dann mit unserer Story auf Abstand. Es wäre aber besser, ich würde die Wahrheit kennen, denn wie ich schon sagte, kann es sonst passieren, daß ich durch bloßes Herumraten Ihre bestgehüteten Geheimnisse aufdecke. Reden Sie also. und Sie werden nichts, was Ihnen angst macht, auf der Leinwand wiederfinden.«

Jackson Wells betrachtete sein efeubewachsenes Haus, den Hof und die ungepflegte Zufahrt und dachte zweifellos an die Annehmlichkeiten des Lebens mit seiner zweiten Frau und an Lucy, die sein Stolz war.

»Sie haben recht.«

Er seufzte schwer. »Sie waren alle dabei, und ich kam erst nach Wochen dahinter.«

Ich ließ ihm Zeit. Er hatte den ersten großen Schritt getan: Alles andere würde folgen.

»Wochen danach rückten sie langsam mit der Wahrheit heraus«, sagte er schließlich. »Sie hatten sich geschworen, kein Sterbenswort darüber zu sagen. Niemals. Aber es ging ihnen zu nah. Pig ist nach Australien abgehauen, und ich hatte außer Derek Carsington keinen Reiter mehr für meine Gäule, obwohl es darauf kaum noch ankam - die Besitzer sind mir weggelaufen, als hätte ich die Pest -, und dann hat Ridley...«:

Er hielt inne. »Ridley hat sich betrunken, das war schon damals keine Seltenheit, und dann hat er sich im doppelten Sinn des Wortes ausgekotzt. Ridley widert mich an, aber Lucy findet ihn lustig, wenn auch bestimmt nicht mehr lange, denn hätte ich ihr nicht gesagt, daß sie immer Jeans tragen soll, hätte er ihr inzwischen längst mal unter den Rock gefaßt. Ein Mädchen hat wenig zu lachen heute; wenn ich da an Sonia denke, die ist in knöchellangen Rök-ken und meistens ohne BH und mit einem grünen Bürstenhaarschnitt herumgelaufen - aber warum, zum Teufel, erzähle ich Ihnen das?«

Ich dachte bei mir, daß er vielleicht sechsundzwanzig Jahre zu spät um Sonia trauerte, aber möglicherweise ist es für so etwas nie zu spät.

»Sie war lustig. Immer für einen Spaß zu haben.«

»Ja.«

»Ridley hat mir gesagt, was sie getan hatten.«

Der Schmerz der Enthüllung spiegelte sich deutlich auf dem sonnigen Gesicht. »Ich hätte ihn fast umgebracht. Ich habe ihn geschlagen. Ihn getreten. Ihn mit einer Reitpeitsche verprügelt. Mit allem, was mir in die Finger kam. Ich habe ihn bewußtlos geschlagen.«

»Das war die Trauer«, sagte ich.

»Die Wut.«

»Beides dasselbe.«

Jackson starrte mit leerem Blick in die Vergangenheit.

»Ich bin zu Valentine gegangen und habe ihn gefragt, was ich tun soll«, sagte er. »Valentine war für uns alle wie ein Vater. Ein besserer Vater, als wir von Haus aus hatten. Valentine hat Sonia wie eine Tochter geliebt.«

Ich sagte nichts. Valentines Liebe zu Sonia war keineswegs väterlich zu nennen.

»Was hat Valentine gesagt?« fragte ich.

»Er wußte es schon! Paul hätte es ihm erzählt, sagte er. Paul war genauso am Boden zerstört wie Ridley. Er hatte seinem Onkel alles gebeichtet. Valentine sagte, sie sollten entweder mit dem, was sie getan hatten, leben oder zur Polizei gehen. und er hat ihnen die Entscheidung nicht abgenommen.«

»Wußte Valentine auch, daß Roddy Visborough dabeigewesen war?«

»Das habe ich ihm gesagt«, bekannte Jackson freimütig.

»Sonia war Roddys Tante. Und egal, was für eine Sexorgie die alle im Sinn hatten - der Ausdruck trifft’s natürlich nicht, vergessen Sie, daß ich’s gesagt habe -, Roddy durfte da nicht hineingezogen werden, auf gar keinen Fall, meinten sie. Sie war ja seine Tante!«

»Sie alle haben Valentine gut gekannt«, sagte ich.

»Klar. Seine alte Schmiede lag ja gleich neben meinem Stall. Er kam dauernd wegen der Pferde vorbei, und wir haben ihn auch besucht, alle miteinander. Wie ich schon sagte, er war wie ein Vater für uns. Besser als ein Vater. Aber alles ging in die Binsen. Ich mußte das Trainieren aufgeben, und Paul zog mit seinen Eltern aus Newmarket weg, und Roddy, der Hilfstrainer werden wollte, aber noch keine Stelle gefunden hatte, schloß sich dem Springreiterzirkus an - und Pig hatte sich wie gesagt schon abgesetzt. Und dann zog auch Valentine fort. Die alte Schmiede hätte ein unwahrscheinlich teures neues Dach gebraucht, deshalb hat er sie abgerissen und das Grundstück als Bauland verkauft. Eines Tages kam ich rüber, da hat er zugesehen, wie die Bauunternehmer den Schutt von Jahrzehnten in den alten Brunnen hinter seinem Haus kippten, der aufgefüllt werden sollte, weil er für Kinder gefährlich war, und ich sagte noch zu ihm, nichts würde mehr wie früher sein. Und das stimmte natürlich.«

»Aber für Sie ist es doch gut ausgegangen.«

»Ja, das ist wahr.«

Er konnte sein Lächeln nicht lange zurückhalten. »Und Valentine wurde zum großen alten Mann des Rennsports, und Roddy Visborough ist mit Pokalen nur so überschüttet worden. Ridley gammelt nach wie vor herum, und ich greife ihm gelegentlich unter die Arme, und Paul hat geheiratet.«

Er verstummte unsicher.

»Und Paul ist umgebracht worden«, sagte ich unverblümt.

Er schwieg.

»Wissen Sie, wer ihn umgebracht hat?« fragte ich.

»Nein.«

Er starrte mich an. »Wissen Sie es?«

Ich antwortete nicht direkt. Ich sagte: »Hat irgend jemand Valentine - oder Ihnen - gesagt, wer von den vieren Sonia erwürgt hat?«

»Das war ein Unfall.«

»Wessen Unfall?«

»Sie hat gesagt, sie dürften ihr die Hände um den Hals legen. Und sie hat dabei gelacht, da waren sich alle einig. Sie waren wie berauscht, aber nicht von Drogen.«

»Vor Erregung«, sagte ich.

Seine blauen Augen weiteten sich. »Sie sollten der Reihe nach. deswegen waren sie so aufgedreht. mit ihr bumsen, und sie wollte es. sie hat mit ihnen gewettet, daß sie es nicht alle schaffen, nicht so aus dem Stand in einer Stunde, bevor die Pfleger, die gerade mit dem zweiten Lot ausgeritten waren, wiederkamen, und nicht wenn die restliche Gang dabei zusah und sie anfeuerte, und nicht in einer Stallbox auf einem Bett aus Heu. Die waren alle verrückt, und sie war es auch. Dann hat Pig ihr die Hände um den Hals gelegt und sie geküßt. und zugedrückt. und sie bekam keine Luft mehr. er hat zu lange zugedrückt. und ihr Gesicht verfärbte sich. sie lief blau an. und als sie begriffen, was los war. konnten sie sie nicht mehr wiederbeleben.«

Seine Stimme erstarb, und nach einer Weile sagte er: »Sie sind nicht überrascht, oder?«

»Es wird im Film nicht vorkommen.« »Ich war so wütend«, sagte er. »Wie konnten sie nur? Und wie konnte sie das zulassen? Da waren keine Drogen im Spiel.«

»Wußten Sie«, fragte ich, »daß fast ausschließlich Männer bei Erstickungsversuchen dieser Art ums Leben kommen?«

»O Gott. die wollten sehen, ob es auch bei Frauen wirkt.«

Diese bodenlose Dummheit ließ uns beide verstummen.

Ich holte Luft. Ich sagte: »Im Drumbeat stand, ich könnte das Rätsel um Sonias Tod nicht lösen, aber ich habe es gelöst. Jetzt werde ich auch herausfinden, wer Paul Pannier ermordet hat.«

Er stieß sich mit Wucht vom Tor weg und schrie mich an: »Wie denn? Lassen Sie die Finger davon. Lassen Sie uns endlich in Ruhe. Schminken Sie sich den blöden Film ab.«

Seine erhobene Stimme veranlaßte meinen lebenden Schutzschild, wie ein Aal aus dem Wagen hervorzuschnellen. Überrascht und erschrocken sah Jackson zu, wie ich die Hand hob, um die Reflexe meines Aufpassers zu beruhigen.

»Mein Bodyguard ist wie ein knurrender Hund«, sagte ich zu Jackson. »Beachten Sie ihn nicht. Die Filmgesellschaft hat ihn mir aufgenötigt, weil außer Ihnen noch andere unseren Film verhindern wollen.«

»Zum Beispiel Sonias Schwester, Audrey mit der spitzen Zunge, die bestimmt.«

»Die vor allem«, gab ich zu.

Lucy erschien wieder an der Haustür und rief ihrem Vater zu: »Papa, Onkel Ridley ist am Telefon.«

»Sag ihm, ich komme gleich.«

Als sie verschwunden war, sagte ich: »Ihr Bruder ist heute morgen für den Film über die Heide geritten. Er wird nicht gut auf mich zu sprechen sein.«

»Wieso nicht?«

»Das sagt er Ihnen schon.«

»Ich wünschte, Sie wären nie hierhergekommen«, sagte er bitter und ging mit langen Schritten auf sein Haus zu, seinen sicheren Hafen mit seinen beiden netten, unneurotischen Frauen.

Ich machte mir auf der Rückfahrt nach Newmarket klar, daß ich es an Vorsicht hatte fehlen lassen, und dennoch bereute ich nichts. Und wenn ich auch zu wissen meinte, wer Paul umgebracht hatte - es zu beweisen war etwas ganz anderes. Den Beweis würde die Polizei führen müssen, aber ich konnte ihr zumindest die Richtung weisen.

Ich dachte an einen bestimmten Zeitungsausschnitt, den ich in der Mappe gefunden hatte, die jetzt in O’Haras Safe lag.

Valentine hatte die Notiz für seine unregelmäßig erscheinende Klatschspalte geschrieben. Sie war auf sechs Wochen nach Sonias Tod datiert und nahm keinen Bezug darauf.

Sie lautete:

Aus Newmarket erfahre ich, daß der Jockey P. G. Falmouth (19), Spitzname »Pig«, nach Australien gegangen ist und in der Hoffnung, sich dort niederlassen zu können, eine Reiterlaubnis beantragt hat. Geboren und aufgewachsen nahe der Stadt seines Namens in Cornwall, kam Pig Falmouth vor zwei Jahren nach Newmarket, wo sein einnehmendes Wesen und sein Siegeswille ihm schon bald viele Freunde bescherten. Zweifellos hätte er es mit seiner wachsenden Erfahrung in England noch weit gebracht, aber wir wünschen ihm viel Erfolg mit seinem großen Sprung nach Übersee.

Der Notiz war das Foto eines lächelnden, gesunden, hübschen jungen Mannes in Reitkappe und Rennfarben beigefügt, aber es war die Titelzeile, die mir die Augen geöffnet hatte wie ein eisiger Wind.

»Abgang des Jungen aus Cornwall«, lautete sie.

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