Valentine war tot.
Als ich zu seinem Haus kam, fand ich nicht den gedämpften, stillen Kummer vor, den ich erwartet hatte, sondern sah einen protzigen Wagen, der weder dem Arzt noch einem Priester gehörte, am Straßenrand stehen, und im Haus waren alle Fenster hinter den Vorhängen hell erleuchtet.
Ich ging den Betonweg hinauf zu der geschlossenen Vordertür und klingelte.
Nach einiger Zeit wurde die Tür geöffnet, aber nicht von Dorothea. Der Mann, der im Eingang stand, war groß, dick und unfreundlich. Er musterte mich mit geübter Hochnäsigkeit und sagte beinah abschätzig: »Sind Sie der Arzt?«
»Ehm. nein.«
»Was wollen Sie dann so früh hier?«
Ein kleiner Beamter, diagnostizierte ich: einer von denen, die gern nein sagten. Seine Aussprache war entfernt die von Norfolk, vorwiegend Londoner Vorstadt und insgesamt sorgfältig.
»Mrs. Pannier bat mich zu kommen. Sie hat angerufen.«
»Um diese Zeit? Das kann ja wohl nicht sein.«
»Ich würde gern mit ihr sprechen«, sagte ich.
»Ich sage ihr, daß jemand da war.«
Am Ende der Diele hinter ihm tauchte Dorothea aus ihrem Bad auf und eilte, als sie mich sah, auf die Haustür zu.
»Thomas! Kommen Sie rein, mein Lieber.«
Sie bedeutete mir, um die Sperre herumzugehen. »Das ist mein Sohn Paul«, erklärte sie. »Und Paul, das ist Valentines Freund Thomas, von dem ich dir erzählt habe.«
»Wie geht’s ihm?« fragte ich. »Valentine?«
Ihr Gesicht verriet es mir.
»Er ist eingeschlafen, Thomas. Kommen Sie doch rein. Ich brauche Ihre Hilfe.«
Sie war verwirrt durch diesen Sohn, den sie als wichtigtuerisch und herrisch bezeichnet hatte, ohne damit im mindesten zu übertreiben. Außer seinem harten Machtblick wies er einen dünnen, dunklen Schnurrbart auf und eine hochragende Nase, deren Nüstern man von vorne sah. Das vorgereckte Kinn sollte einschüchtern, und selbst so früh am Morgen trug er einen überkorrekten dunkelblauen Dreiteiler mit gestreifter Krawatte. Knapp einsachtzig groß, wog er mit Sicherheit seine neunzig Kilo.
»Mutter«, sagte er zurechtweisend, »du brauchst außer mir keine Hilfe. Ich packe das sehr gut allein.«
Er bedeutete mir zu gehen, aber ich drängte mich, die Aufforderung höflich ignorierend, an ihm vorbei, küßte Dorothea auf die traurige Wange und fragte sie, was sie von einer Tasse Tee hielte.
»Natürlich, Thomas. Wo habe ich nur meinen Kopf? Kommen Sie in die Küche.«
Sie trug den grünen Rock und den Pullover von gestern, und ich nahm an, sie war nicht zu Bett gegangen. Die dunklen Ringe der Müdigkeit um ihre Augen hatten sich verstärkt, und ihr fülliger Körper wirkte schwach und zittrig.
»Ich hatte Paul später noch angerufen, nachdem Sie fort waren«, sagte sie fast entschuldigend, während sie Wasser in einen Elektrokessel laufen ließ. »Ich habe mich so allein gefühlt, verstehen Sie? Ich wollte ihm wenigstens sagen, daß es mit seinem Onkel zu Ende geht.«
»Und so spät es auch war, da bin ich natürlich gleich los«, sagte Paul großspurig. »Es war nur recht so. Meine Pflicht. Du hättest nie mit einem Sterbenden hier allein sein dürfen, Mutter. Er hätte ins Krankenhaus gehört.«
Ich nahm Dorothea den Kessel aus der Hand und bat sie, sich hinzusetzen; Tassen, Untertassen und das alles würde ich schon zusammensuchen. Dankbar ließ sie sich von mir ablösen, während der große Ausputzer weiter auf den Fersen wippte und sich über seine Tugenden verbreitete.
»Valentine war schon gestorben, als ich herkam.«
Er hörte sich gekränkt an. »Natürlich bestand ich darauf, sofort den Arzt zu rufen, obwohl Mutter ihn törichterweise schlafen lassen wollte! Ich bitte Sie! Wozu sind Ärzte denn da?«
Dorothea verdrehte leicht verzweifelt die Augen.
»Der Kerl war unwirsch zu mir«, beklagte sich Paul. »Dem sollte man die Lizenz entziehen. Er meinte, Valentine hätte ins Krankenhaus gehört und er komme um sieben, vorher nicht.«
»Aber er konnte doch gar nichts mehr tun«, sagte Dorothea unglücklich. »Valentine hat sich gewünscht, hier zu sterben. Das war ganz in Ordnung.«
Paul wiederholte stur seine gegenteiligen Auffassungen. Von ihm angeödet fragte ich Dorothea, ob ich Valentine sehen dürfe.
»Gehen Sie nur rein, Thomas«, sagte sie nickend. »Er liegt ganz friedlich da.«
Während sie pflichtschuldig weiter dem Vortrag ihres Sprößlings zuhörte, betrat ich Valentines Schlafzimmer, das von einer zentralen Deckenlampe mit unzureichendem Schirm hell und brutal beleuchtet wurde. Eine freundlichere Lampe stand uneingeschaltet auf dem Nachttisch, und ich ging hinüber und knipste sie an.
Valentines altes Gesicht war bleich und vom Tod geglättet, seine Stirn fühlte sich bereits kühler an als im Leben. Die mühsame Atmung war ewigem Schweigen gewichen. Seine Augen waren fest geschlossen. Sein halb geöffneter Mund war, vermutlich von Dorothea, mit einem Laken bedeckt worden. Er sah wirklich bemerkenswert friedlich aus.
Ich ging zur Tür und schaltete die kalte Deckenbeleuchtung aus. Dorothea kam von der Küche herüber, trat an mir vorbei in Valentines Zimmer und sah zärtlich auf ihren toten Bruder hinab.
»Er ist im Dunkeln gestorben«, sagte sie unglücklich.
»Das hätte ihn nicht gestört.«
»Nein. aber, ich habe die Nachttischlampe ausgeknipst, damit keiner von draußen reinsieht, und dann saß ich da im Sessel und habe auf Paul gewartet und auf Valentines Atem gehört und bin eingeschlafen. Einfach eingenickt.«
Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich wußte ja nicht. ich meine, ich konnte nichts dafür.«
»Sie waren sehr müde.«
»Ja, aber als ich dann aufwachte, war es so dunkel. und völlig still, und ich merkte. es war schrecklich, Thomas. Mir wurde klar, daß Valentine nicht mehr atmete. und daß er gestorben war, während ich schlief, statt daß ich bei ihm gesessen und ihm die Hand gehalten hätte oder so etwas.«
Ihre Stimme kippte in ein Schluchzen um, und sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
Ich legte einen Arm um ihre Schultern, während wir an Valentines Bett standen. Alles in allem fand ich es gut, daß sie den Ruck, mit dem das Herz ihres Bruders stehengeblieben war, nicht gesehen und auch seinen letzten röchelnden Atemzug nicht gehört hatte. Ich war dabeigewesen, als meine Mutter starb, und würde das nie vergessen.
»Wann ist Ihr Sohn gekommen?«
»Ach, das muß so gegen drei gewesen sein. Er wohnt in Surrey, verstehen Sie? Es ist eine ziemlich lange Fahrt, und er hatte gerade ins Bett gehen wollen. Ich sagte ihm, er müsse nicht herkommen. ich wollte eigentlich nur mit jemandem reden, als ich ihn anrief, aber er bestand darauf, zu kommen. Schon sehr nett von ihm, Thomas.«
»Ja«, sagte ich.
»Er hat dann gleich die Vorhänge zugezogen und überall Licht gemacht. Er war ziemlich böse mit mir, weil ich im Dunkeln gesessen und Robbie Gill nicht gerufen hatte. Ich meine, Robbie konnte ja doch nur amtlich bestätigen, daß Valentine tot war. Paul hat nicht verstanden, daß ich mit Valentine so im Dunkeln sein wollte. Es war irgendwie tröstlich, Thomas, verstehen Sie? Eine Art Abschied. Nur wir beide, wie als Kinder damals.«
»Ja«, sagte ich.
»Paul meint es gut«, betonte sie, »aber ich finde ihn schon anstrengend. Entschuldigen Sie, daß ich Sie so früh geweckt habe. Aber Paul war so böse mit mir. da habe ich Sie angerufen, als er im Bad war, sonst hätte er mich vielleicht davon abgehalten. Ich bin irgendwie nicht ganz beieinander, ich fühle mich so schwach.«
»Ich bin gern gekommen«, versicherte ich ihr. »Sie sollten sich ins Bett legen.«
»Oh, das könnte ich nicht. Ich muß aufbleiben, bis Robbie kommt. Ich hab solche Angst, daß Paul unhöflich zu ihm ist.«
Ist er bestimmt, dachte ich.
Der große Paul persönlich kam ins Zimmer und knipste die Deckenbeleuchtung wieder an.
»Was macht ihr zwei hier drin?« wollte er wissen. »Mutter, komm raus und hör auf, dich zu quälen. Wir wissen doch alle, daß es für den alten Mann eine gnädige Erlösung war. Jetzt müssen wir über deine Zukunft reden, und dafür habe ich auch schon Pläne.«
Dorothea erstarrte unter meinem Arm. Ich ließ ihre Schultern los und ging mit ihr von Valentines Zimmer zurück in die Küche, nicht ohne das grelle Licht wieder auszuschalten und noch einmal das stille alte Gesicht in dem Halbdunkel zu betrachten. Ewiges zeitloses Dunkel.
»Natürlich mußt du hier ausziehen«, erklärte Paul seiner Mutter in der Küche. »Du bist ja fast achtzig. Ich kann mich nicht richtig um dich kümmern, wenn du so weit von mir entfernt lebst. Ich habe schon mit einem Altenheim vereinbart, daß du da ein Zimmer nimmst, wenn Valentine tot ist. Jetzt sage ich Bescheid, daß du innerhalb von acht Tagen einziehst. Das ist keine zwei Kilometer von mir, da kann Janet jeden Tag mal reinschauen.«
Dorothea sah geradezu erschrocken aus. »Ich gehe nicht weg, Paul«, widersprach sie. »Ich bleibe hier.«
Ohne ihren Einwurf zu beachten, sagte Paul: »Du kannst eigentlich gleich mit Packen anfangen. Wozu Zeit verlieren? Ich bringe das Haus morgen auf den Markt, und sofort nach der Beerdigung nehme ich dich mit.«
»Nein«, sagte Dorothea.
»Solange ich hier bin, helfe ich dir«, sagte ihr Sohn großzügig. »Valentines ganze Habe muß ja sortiert und untergebracht werden. Einen Teil der Bücher kann ich bei der Gelegenheit gleich mitnehmen. Ich habe ein paar leere Kartons dabei.«
»Nicht die Bücher«, sagte ich entschieden. »Die Bücher hat er mir vermacht.«
»Was?«
Pauls Kinnlade klappte unschön herunter. »Das ist unmöglich«, sagte er heftig. »Er hat alles meiner Mutter hinterlassen. Das wissen wir doch.«
»Alles mit Ausnahme der Bücher.«
Dorothea nickte. »Vor zwei Monaten hat Valentine sein Testament durch einen Nachtrag ergänzt und seine Bücher Thomas zugesprochen.«
»Der Alte war doch verkalkt. Das fechte ich an.«
»Sie können es nicht anfechten«, stellte ich sachlich fest. »Valentine hat bis auf die Bücher alles Ihrer Mutter vermacht und nicht Ihnen.«
»Dann ficht Mutter es eben an!«
»Nein, mein Lieber«, sagte Dorothea unsanft. »Als Valentine mich fragte, was ich davon halte, wenn er seine Bücher und Unterlagen Thomas vermacht, habe ich ihm gesagt, das fände ich sehr nett. Ich würde sie ja doch kaum lesen oder auch nur reinsehen, und weil Valentine wußte, daß Thomas sie schätzen würde, hat er den Zusatz von unserem Anwalt anfügen lassen, und meine Freundin Betty und Robbie Gill, unser Arzt, haben im Beisein des Anwalts als Zeugen fungiert. Er hat hier in seinem eigenen Wohnzimmer unterschrieben, und es kann keine Rede davon sein, daß er verkalkt war, das werden der Anwalt und der Arzt dir einmütig bestätigen. Ich verstehe auch gar nicht, weshalb du dich so aufregst, das sind doch bloß ein Haufen alter Rennberichte, Erinnerungsalben und Bücher über Rennsport.«
Paul schien mir ganz unverhältnismäßig aus der Fassung gebracht. Und offenbar bemerkte er auch mein Erstaunen, denn er ging in sich und sann auf eine fadenscheinige Erklärung, die er dann mit einer Stinkwut auf mich vorbrachte.
»Valentine hat mir einmal gesagt, seine Sammlung könnte einiges wert sein«, sagte er. »Ich möchte sie schätzen und verkaufen lassen. natürlich zu Mutters Gunsten.«
»Die Bücher sind für Thomas«, wiederholte Dorothea beherzt, »und ich habe nie gehört, daß Valentine behauptet hätte, sie seien was wert. Er wollte sie Thomas um der alten Zeiten willen überlassen und weil Thomas freundlicherweise immer vorbeigekommen ist, um ihm vorzulesen.«
»Aahaa!« stieß Paul triumphierend hervor. »Dann dürfte Valentines Nachtrag ungültig sein, da er nicht sehen konnte, was er da unterschrieben hat.«
»Er wußte aber doch, was es war«, wandte Dorothea ein.
»Und woher? Verrat mir das mal.«
»Verzeihen Sie«, sagte ich, meine aufkommende schlechte Laune zügelnd. »Ich kann mir kaum vorstellen, daß Valentines Nachtrag ungültig ist, wenn sein Anwalt ihn aufgesetzt und die Unterschrift beglaubigt hat, aber wenn er es sein sollte, dann gehören die Bücher Dorothea, und sie allein kann entscheiden, was damit geschieht.«
»Oh, danke, mein Lieber«, sagte sie, und ihr Gesichtsau sdruck entspannte sich, »wenn sie also mir gehören, dann schenke ich sie Ihnen, Thomas, weil ich weiß, daß Valentine es so gewollt hat.«
Paul sah entgeistert aus. »Das darfst du nicht.«
»Warum nicht, Paul?«
»Sie. sie könnten wertvoll sein.«
»Ich werde sie schätzen lassen«, sagte ich, »und wenn sie wirklich auf einen nennenswerten Betrag kommen, dann gebe ich Dorothea das Geld dafür.«
»Nein, Thomas«, sie schüttelte heftig den Kopf.
»Still«, sagte ich zu ihr. »Lassen wir es damit erst mal gut sein.«
Paul ging wütend in der Küche auf und ab, blieb vor dem Tisch stehen, an dem Dorothea und ich saßen, und fragte energisch:
»Wer sind Sie denn überhaupt, daß Sie hier antanzen und sich bei einem hilflosen, todkranken alten Mann einschmeicheln? Ich meine, das ist doch kriminell.«
Ich hielt es nicht für nötig, ihm etwas zu erklären, doch Dorothea setzte ihn müde ins Bild. »Der Großvater von Thomas hat Pferde trainiert, die Valentine beschlagen hat. Valentine hat Thomas über zwanzig Jahre gekannt und ihn immer gemocht, das hat er mir gesagt.«
Als könne er sich nicht mehr beherrschen, marschierte Paul schweren Schrittes weg von dieser unliebsamen Neuigkeit, verließ abrupt die Küche und verschwand im Flur. Man hätte ihn als wichtigtuerischen Esel abtun können, wäre da nicht auch der unterschwellige Eindruck eines massigen, rasch durchs Unterholz streifenden Raubtiers gewesen. Ich möchte ihm gegenüber ungern im Nachteil sein, dachte ich.
Dorothea sagte verzweifelt: »Ich will nicht in Pauls Nähe wohnen. Es wäre mir unerträglich, jeden Tag Besuch von Janet zu bekommen. Ich verstehe mich nicht mit ihr. Sie kommandiert mich herum.« »Sie müssen ja nicht von hier weggehen«, sagte ich. »Paul kann das Haus nicht zum Verkauf annoncieren, weil es nicht ihm gehört. Aber, liebste Dorothea.«
Ich hielt zögernd inne.
»Aber was, Thomas?«
»Nun ja, unterschreiben Sie nichts.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, unterschreiben Sie gar nichts. Fragen Sie erst Ihren Freund, den Anwalt.«
Sie blickte mich ernst an. »Ich werde einiges unterschreiben müssen, jetzt wo Valentine tot ist.«
»Ja, aber. unterschreiben Sie nichts, nur weil Paul es will.«
»In Ordnung«, meinte sie zweifelnd.
Ich fragte sie: »Wissen Sie, was eine Vollmacht ist?«
»Wenn man andere ermächtigt, für einen selbst zu handeln?«
Ich nickte.
Sie dachte kurz nach und sagte: »Sie meinen, ich soll kein Papier unterschreiben, das Paul gestattet, dieses Haus zu verkaufen. Ist es das?«
»Aber ja.«
Sie tätschelte mir die Hand. »Danke, Thomas. Ich verspreche Ihnen, nichts Derartiges zu unterschreiben. Ich werde alles genau durchlesen. So ungern ich es sage, Paul ist manchmal zu sehr darauf aus, seinen Willen durchzusetzen.«
Paul hatte sich für meine Begriffe verdächtig lange still verhalten. Ich stand auf und verließ die Küche, um nach ihm zu sehen, und er war in Valentines Wohnzimmer damit beschäftigt, Bücher aus den Regalen zu räumen und sie auf dem Boden zu stapeln.
»Was machen Sie denn?« fragte ich. »Bitte lassen Sie das.«
Paul sagte: »Ich suche nach einem Buch, das ich Valentine geliehen habe. Das möchte ich zurück.«
»Wie heißt es denn?«
Pauls Stegreiflüge war bis zu einem Titel nicht gediehen. »Das weiß ich, wenn ich’s sehe«, sagte er.
»Wenn in einem der Bücher Ihr Name steht«, sagte ich höflich, »sorge ich dafür, daß Sie es zurückbekommen.«
»Das genügt mir nicht.«
Dorothea erschien an der Tür, sah die am Boden gestapelten Bücher und sah entgeistert und zugleich verärgert aus.
»Paul! Hör auf damit! Das sind Thomas’ Bücher. Wenn du sie wegnimmst, ist das Diebstahl.«
Paul machte nicht den Eindruck, als kümmerte ihn ein so geringfügiger Vorwurf.
»Er nimmt sie nicht mit«, versicherte ich ihr.
Paul sah mich mit gekräuselter Lippe an, schob sich an mir vorbei und öffnete die Haustür.
»Was hat er vor, Thomas?« fragte Dorothea verblüfft, als sie den Rücken ihres Sohnes so zielbewußt über den Fußweg entschwinden sah.
»Mir scheint«, sagte ich, »er will einen von seinen Kartons holen, um die Bücher einzupacken.«
Ich schloß die Haustür und legte die Riegel vor, oben und unten. Dann eilte ich in die Küche, sperrte dort in gleicher Weise die Außentür ab und kontrollierte rasch in sämtlichen Räumen und beiden Badezimmern, ob die Fenster geschlossen und verriegelt waren.
»Aber Paul ist mein Sohn«, protestierte Dorothea.
»Und er versucht Valentines Bücher zu stehlen.«
»Herrje noch mal.«
Paul begann an die Haustür zu hämmern. »Mutter, laß mich sofort rein.«
»Vielleicht sollte ich«, sorgte sich Dorothea.
»Ihm passiert schon nichts da draußen. Es friert nicht, und er kann sich ja in sein Auto setzen. Oder natürlich heimfahren.«
»Manchmal ist Paul unausstehlich«, sagte Dorothea traurig.
Ich stellte die Bücher wieder zurück in Valentines Regale. Paul hatte sich zuerst die Titel mit den schicksten Umschlägen gegriffen, die neueren Rennsportbiographien, deren Wiederverkaufswert ganz unerheblich war. Vermutlich wollte Paul in erster Linie aus Eitelkeit nicht zulassen, daß seine Mutter und ich seine Pläne durchkreuzten.
Ich unterschätzte die Bösartigkeit verletzter Eitelkeit keinesfalls, seit ich einmal einen beunruhigenden, auf Tatsachen beruhenden Film über einen Bodybuilder gedreht hatte, der seine Freundin umbrachte, weil sie ihn wegen eines Schwächlings verließ. Ich hatte ihn verstehen, mich in ihn hineinversetzen müssen, was mir zutiefst zuwider war.
Pauls schwere Hand schlug wiederholt gegen die Tür, und er drückte unablässig auf die Klingel. Das Schellen war allerdings kein nervenaufreibender, schriller Dauerton, sondern ein etwas erträglicheres, anhaltendes leises Dingdong; leise, weil Dorothea es so eingestellt hatte, um den zusehends schwächer werdenden Valentine nicht zu stören.
Ich sah auf meine Uhr: fünf vor sechs. Vielleicht noch eine Stunde, bis wir mit dem Arzt rechnen konnten, aber nur dreißig Minuten, bis ich mit meinem Tagewerk beginnen sollte.
»Ach herrje«, sagte Dorothea ungefähr zum zehntenmal, »ich wünschte, er würde aufhören.«
»Sagen Sie ihm, daß er reinkommen kann, wenn er verspricht, die Finger von den Büchern zu lassen.«
»Ob er darauf eingeht?« fragte sie unsicher.
»Gut möglich«, meinte ich.
Er legte sicher keinen gesteigerten Wert darauf, vor den aufwachenden Nachbarn das Gesicht zu verlieren: Nur ein Narr ließ sich erwischen, wenn seine alte Mutter ihn wie einen ungezogenen Jungen aussperrte.
Sichtlich erleichtert trug sie die Bedingungen vor, die ihr Sohn widerwillig annahm. Sie sperrte die Tür auf und ließ ihn herein, während ich bewußt woandershin sah, denn er hätte das leiseste Lächeln meinerseits als Hohnlächeln interpretiert und sich gleich wieder ereifert. Es sind schon Autofahrer erschossen worden, weil sie sich vor einem anderen eingereiht haben.
Ich blieb eine Weile hinter geschlossener Tür in Valentines Wohnzimmer, während Mutter und Sohn sich in der Küche aussprachen. Ich setzte mich in den Sessel gegenüber demjenigen, in dem der alte Mann nun nicht mehr saß, und überlegte, wie leicht man doch in einen sinnlosen Konflikt hineingezogen werden konnte. Unversehens hatte ich mir Paul Pannier zum Feind gemacht; und ich nahm an, daß es ihm in Wirklichkeit nicht so sehr um die Bücher ging als darum, mich und meinen Einfluß aus dem Leben seiner Mutter zu verbannen, damit er sie beherrschen und ihre Zukunft so gestalten konnte, wie es ihm, dem Wohltäter, am besten entsprach.
Wenigstens hoffte ich, daß es sich so verhielt. Mit Schlimmerem hätte ich mich mitten in der Arbeit an einem Film ungern auseinandergesetzt.
Ich blickte gedankenverloren auf die Bücherwand und fragte mich, ob wirklich etwas Wertvolles dabei war. Wenn, dann hatte Valentine es sicher nicht gewußt. Als ich ihn auf eine mögliche Autobiographie ansprach und er den Gedanken verwarf, hatte er zwar nichts von Tagebüchern oder anderem Rohmaterial gesagt, das Dritten als Quelle dienen könnte, aber jetzt fragte ich mich, ob Paul vielleicht mit einem Schriftsteller oder einem Verleger ins Geschäft gekommen war, dem er Valentines Unterlagen gegen eine Gewinnbeteiligung abtreten wollte. Mit einer Valentine-Biographie war kein Vermögen zu verdienen, doch ich nahm an, Paul würde sich auch mit kleineren Nebeneinkünften zufriedengeben. »Besser wenig als nichts«, hätte als Devise durchaus zu ihm gepaßt.
Howard Tylers Buch stand nicht in den Regalen.
Valentine hatte mich bei meinem ersten Besuch gefragt, was mich wieder nach Newmarket führe, und als ich erklärte, es sei Howards Buch - Unsichere Zeiten - und unsere Verfilmung der Geschichte, hatte er gesagt, er habe von dem Buch gehört, es sich aber nicht gekauft, weil seine Sehkraft, als es erschien, bereits nachgelassen hatte.
»Es soll ausgemachter Quatsch sein«, sagte er.
»So?«
»Ich kannte Jacksy Wells. Ich habe oft seine Pferde beschlagen. Er hat nie und nimmer sein unscheinbares Frauchen umgebracht, dazu hatte er gar nicht den Mumm.«
»Im Buch steht nicht, daß er es getan hat«, versicherte ich ihm.
»Und wohl genausowenig, daß er es nicht getan hat.«
»Ja.«
»Es war unnötig, darüber ein Buch zu schreiben. Zeitverschwendung, das jetzt auch noch zu verfilmen.«
Ich hatte gelächelt. Filmemacher waren dafür bekannt, daß sie historische Tatsachen vorsätzlich verzerrten. Nachweislich auf Lügen basierende Filme konnten durchaus für einen Oscar vorgeschlagen werden.
»Wie war sie?« fragte ich.
»Wer?«
»Die Frau von Jackson Wells.«
»Unscheinbar, wie ich schon sagte. Komisch, ich kann mich nicht genau an sie erinnern. Sie war keine von den Trainerfrauen, die den ganzen Betrieb schmeißen. Richtige Schandmäuler hatten die damals zum Teil. Jackson Wells’ Frau hat man überhaupt nicht wahrgenommen. In dem Buch soll sie ja eine halbe Nutte sein, das arme Luder.«
»Hat sie sich selbst erhängt?«
»Keine Ahnung«, sagte Valentine. »Ich habe nur die Pferde beschlagen. Der Wirbel hat sich aus Mangel an Spuren und Beweisen ziemlich schnell gelegt, aber als Trainer war Jackson Wells natürlich erledigt. Ich meine, würden Sie Ihre Pferde jemandem anvertrauen, der möglicherweise seine Frau umgebracht hat?«
»Nein.«
»Und sonst wollte es auch keiner.«
»Dem Buch zufolge hatte sie einen Liebhaber«, sagte ich.
»So?«
Valentine dachte nach. »Das höre ich zum erstenmal«, sagte er. »Andererseits könnte Dorothea hier vor meiner Nase einen Liebhaber haben, ohne daß mich das jucken würde. Schön für sie, wenn sie einen hat.«
»Sie sind ein alter Schelm, Valentine.«
»Niemand ist ein Engel«, sagte er.
Ich sah auf seinen leeren Sessel und dachte an seine verzweifelten leisen Worte. »Ich habe den Jungen aus Cornwall umgebracht.«
Vielleicht war der »Junge aus Cornwall« ein Pferd.
Schritte ertönten auf dem Weg draußen, und es klingelte an der Tür, dingdong. Ich wartete, damit es nicht aussah, als wollte ich den von Paul begehrten Status des Haushaltsvorstandes an mich reißen, aber es war dann doch Dorothea, die öffnete.
»Nur herein, Robbie«, sagte sie, und ihre Erleichterung war nicht zu überhören. »Nett, daß Sie gekommen sind.«
»Aber Ihr Sohn.!«
In der Stimme des Arztes lag Abneigung.
»Ja, tut mir leid«, sagte Dorothea beschwichtigend.
»Sie können nichts dafür.«
Dorothea ließ ihn ein und schloß die Haustür, und ich öffnete die Tür von Valentines Wohnzimmer, um guten Tag zu sagen.
Robbie Gill gab mir flüchtig die Hand. »Gut, daß Sie Gesellschaft haben«, meinte er zu Dorothea. »So, und Valentine?«
Alle drei gingen wir leise in das schwach erhellte Zimmer des alten Mannes, und gewichtig folgte uns Paul, der die Szene augenblicklich wieder mit dem Licht der Dek-kenlampe überflutete. Vielleicht war es nur der Regisseur in mir, dachte ich, den diese plumpe Beharrlichkeit störte. Robbie Gill jedenfalls protestierte nicht, sondern machte sich daran, klinisch festzustellen, was jedermann sehen konnte: daß Valentines irdische Hülle von dem, der sie bewohnt hatte, verlassen worden war.
»Um welche Zeit ist er gestorben?« fragte er Dorothea, den Füller über ein Klemmbrett haltend.
»Ich weiß es nicht auf die Minute«, sagte sie unglücklich.
»Gegen eins«, sagte ich.
»Mutter war eingeschlafen«, erklärte Paul vorwurfsvoll. »Sie hat es zugegeben. Sie weiß nicht, wann er gestorben ist.«
Robbie Gill sah ihn ausdruckslos an und schrieb schweigend 01.00 auf das Klemmbrett, das er dann mir und Dorothea zeigte.
»Die Schreibarbeit nehme ich Ihnen ab«, sagte er zu Dorothea. »Aber Sie müssen einen Leichenbestatter rufen.«
»Überlassen Sie das mir«, unterbrach Paul. »Das nehme ich alles in die Hand.«
Niemand machte Einwendungen. Das großspurige Übernehmen kleinerer Angelegenheiten lag genau auf Pauls Linie - und womöglich würde er soviel Erfüllung darin finden, daß er aufhörte, an die Bücher zu denken. Es konnte aber nicht schaden, wenn man Dorothea für alle Fälle den Rücken stärkte.
»Wie wär’s«, schlug ich vor, »wenn ich bei Ihrer Freundin Betty vorbeigehe und frage, ob sie Ihnen Gesellschaft leistet?«
»Gute Idee«, fand Robbie Gill.
»Das ist nicht nötig!« widersprach Paul.
»Es ist ein bißchen früh, Thomas«, gab Dorothea mit einem Blick auf die Uhr zu bedenken, atmete aber dennoch auf.
Ich ging über die Straße zum Haus der Freundin und weckte ihren Mann, dessen anfänglicher Unmut einem ergebenen Achselzucken wich. »Armer alter Kerl«, sagte er und meinte offenbar Valentine. »Wir kümmern uns um Dorothea.«
»Ihr Sohn Paul ist bei ihr«, erklärte ich ihm.
»Betty«, sagte er mit Nachdruck, »wird sofort rübergehen.«
Ich lächelte dem Mann mit dem Stachelkinn, dem zerknitterten Pyjama und dem zerknautschten Morgenmantel zu. Paul, so schien es, hatte eine elektrisierende Wirkung auf die Gutmütigkeit anderer Leute.
Ich wartete, bis Betty, dick und herzensgut wie Dorothea, herbeigeeilt kam und Robbie Gill gegangen war, auch wenn mir Paul derweil ein halbes Dutzend Mal mitteilte, daß ich nicht zu bleiben brauchte. Als er sich gerade einmal gönnerhaft mit dem Arzt abgab, vertraute Dorothea mir schuldbewußt an, daß sie die Tür zu Valentines Wohnzimmer für alle Fälle abgeschlossen und den Schlüssel in der rosa Vase in ihrem Schlafzimmer versteckt habe.
Ich küßte sie lächelnd auf die Wange und fuhr zur Arbeit, kam wieder eine halbe Stunde zu spät, rechtfertigte mich aber auch diesmal nicht.
Das Proben und Lichtsetzen dauerte den ganzen Morgen. Die stummen Rollen - Mitglieder des Jockey Clubs -mußten auf ihre Plätze verteilt und ihre Reaktionen auf Nash Rourkes lange, heftige Verteidigungsrede mußten festgelegt werden.
»Hier sind Sie schockiert«, tippte ich an, »dann ungläubig, dann werfen Sie die Arme hoch, werfen Ihr Schreibzeug hin und schauen böse aus, weil Sie glauben, der Mann ist schuldig und lügt. Alles klar dann, das Ganze noch mal.«
Und noch einmal und noch einmal, während Nashs Double den Text wiederholte und Schritt für Schritt die Gänge absolvierte, bis Moncrieff alle Lampen eingerichtet hatte. Cibber, am Kopf des Tisches, erzählte wie üblich saftige Witze und zog nach der Art alter Charakterdarsteller, die alle Hoffnung auf einen Hamlet begraben haben, gelangweilt über die Regierung her. Cibber - ich nannte die Besetzung größtenteils bei ihren Rollennamen, da ich es weniger verwirrend fand - Cibber also sollte später einen so überzeugenden und schmerzlichen Zusammenbruch hinlegen, daß die Kritik ihn dafür lobte, doch im Moment fuhr er noch im Leerlauf: »Kennen Sie den mit dem Sperma und dem Anwalt, alter Knabe?«
Cibber war vom Besetzungschef wegen seiner gediegenen Erscheinung und seines Oberklassenakzents ausgesucht worden, und daran hatte ich auch nichts auszusetzen, nur daß er oberflächlicherweise annahm, damit sei es schon getan, statt es wie ich als Ausgangsbasis zu betrachten, störte mich.
Wir legten eine kurze Mittagspause ein. Nash Rourke erschien pünktlich zur Maske und machte eine Stellprobe, damit Moncrieff prüfen konnte, ob seine Farbwerte mit denen des Doubles übereinstimmten.
Da Nash am Abend vorher außer der Reihe geprobt hatte, waren die »Jockey-Club-Mitglieder« auf das, was sie sehen würden, nicht vorbereitet, und da ich unbedingt ihre spontanen Reaktionen einfangen wollte, bevor sie mir die einstudierte Version lieferten, erklärte ich, die erste Aufnahme sei diesmal nicht als Probe anzusehen, sondern es gelte ernst; wenn nicht gerade das Set einstürzte, würden wir die Szene komplett abdrehen, ohne uns um vermeintliche Patzer zu kümmern.
»Am Stück«, sagte ich. »In einer Einstellung. Okay?«
Alle nickten, auch wenn man dem einen oder anderen Zweifel anmerkte. Von unwiederholbaren Szenen mit fünfhundert Komparsen abgesehen, waren Erstaufnahmen selten die, die auf der Leinwand gezeigt wurden.
Nash, für den es nichts Neues unter der Sonne gab, verstand, was ich wollte, womit noch nicht gewährleistet war, daß er es auch bringen würde. An diesem Tag konzentrierte er sich jedoch aus eigenem Antrieb ganz auf den ersten Durchlauf und spielte mit so vibrierender Kraft, daß es die hehre Tischrunde in ungespieltes Erstaunen versetzte. Moncrieff sagte, ihm hätten sich die Nackenhaare gesträubt, bei den Mitspielern erst recht. Cibber kauerte sich unwillkürlich auf seinem Platz zusammen, als Nash brüllend stehenblieb und sich über ihn beugte, und als ich nach einem Augenblick völliger Stille etwas atemlos sagte: »Aus - und kopieren«, hatten Aufnahmeteam und Darsteller einhellig applaudiert.
Nash zuckte die Schultern. »Na ja, es ist gut geschrieben.«
Er ging aus dem Hufeisen wieder heraus und kam zu mir.
»Also?« sagte er.
Mir hatte es praktisch die Sprache verschlagen.
»Na los«, meinte Nash. »Sagen Sie’s. Sagen Sie: >Das Ganze noch mal.<«
Seine Augen lächelten.
»Das Ganze noch mal«, sagte ich.
Wir richteten die Kameras neu ein und wiederholten die Szene noch zweimal. Alle drei Aufnahmen liefen wunderbar glatt, und alle drei waren kopierbar, doch nicht nur ich fand die erste, gespielt wie unter Strom, unübertroffen.
»Der Mann könnte einen Mord begehen«, meinte Moncrieff nachdenklich über Nash.
»Er hat geschauspielert.«
»Nein.«
Ein leichtes Frösteln. »Ich meine wirklich.«