Kapitel 11

Ich ging nach Mitternacht zu Bett und schlief ein mit dem Gedanken, daß ich zwar heute nicht gestorben war, daß es aber jetzt schon »morgen« war.

Nash und ich hatten gemütlich zusammen zu Abend gegessen und seine kommenden Szenen im Führring besprochen, wo sein Jockey Blau und der von Cibber die grünweißen Streifen tragen würde.

Nach der abendlichen Vorbereitung auf die Untersuchungsszene im Jockey Club hatte Nash mir, ohne es direkt auszusprechen, zu verstehen gegeben, daß er nach Möglichkeit lieber mit mir unter vier Augen probte und mit klaren Vorstellungen von seinem Auftritt in die Aufnahme ging, statt auf dem Set noch viel hin und her zu fragen. Ich wußte nicht, ob er mit jedem Regisseur so arbeitete, aber bei uns funktionierte es ausgezeichnet, was seine Einstimmung auf die jeweilige Aufnahme betraf. Daß wir Zeit sparten und dem Drehplan voraus waren, lag also hauptsächlich daran.

Wie üblich hatte ich die beiden letzten Stunden des Abends mit Moncrieff verbracht und den Licht- und Positionsplan für die Kameras am Führring mit ihm erarbeitet, auch für die, die den Routineablauf vor dem Rennen einfingen: das Satteln und Herausführen der Pferde, das Vorführen im Ring, das Abnehmen der Decke, das Aufsitzen.

Ein großes Kameraaufgebot war an sich zwar nicht billig, sparte aber ebenfalls Zeit: Aus mehreren längeren Einstellungen konnte ich später die Stücke und Schnipsel zusammenschneiden, die einen prägnanten Gesamteindruck von der Spannung vor dem Rennen ergaben. Durch Schnallen gleitende Lederriemen, ein mit Öl gewienerter Huf, groß aufgenommene Muskelbewegungen unter glänzendem Fell. Ein zwei Sekunden langes anschauliches Bild konnte schon den Eindruck von Eile und Entschlossenheit vermitteln, aber man mußte vielleicht zehn ganze Minuten filmen, um ihn zu bekommen.

Gute Filmarbeit hatte viel mit Timing zu tun. Es würde keine raschen Schnitte bei den Traum- und PhantasieSequenzen geben, nur eine langsam fortschreitende Einsicht in ihre Bedeutung.

Nun. jedenfalls hoffte ich das.

Während mein schweigsamer junger Fahrer mich am Morgen nach Huntingdon fuhr, dachte ich an Dorotheas Manöver zur Rettung von Valentines Büchern und an die neue Unsicherheit hinter Pauls Großtuerei. Er hatte nicht versucht, meinen Besuch bei der Kranken abzukürzen: Aus den zugestandenen fünf Minuten waren zehn geworden, ehe ich selbst fand, sie habe genug geredet.

Paul hatte mich von ihrem Zimmer zum Ausgang begleitet und dabei so schwer und tief geatmet, als ob er etwas loswerden wollte, sich aber doch nicht ganz dazu durchringen könnte. Ich gab ihm Zeit und Gelegenheit, doch er war im Gegensatz zu seinem Onkel nicht verzweifelt genug, um zu beichten.

Paul habe geschrien, hatte Dorothea gesagt. Um ihretwillen hoffte ich, daß sie da etwas durcheinanderbrachte.

In Huntingdon waren die Tore der Rennbahn vor acht schon weit geöffnet, um die Einheimischen einzulassen.

Als Gratisfrühstück für alle gab es heiße Würstchen nach Belieben an einem Imbißwagen der Filmküche. Das Wetter war kalt, aber freundlich. Ringsum fröhliche Gesichter. Ich hätte mich nicht zu sorgen brauchen, daß die Einheimischen aus Langeweile nicht mehr wiederkämen: Die Mundpropaganda hatte für uns gearbeitet, und wir bekamen sogar noch mehr Publikum als am Tag vorher.

Die Werbeabteilung der Filmgesellschaft hatte als Dankeschön zum Mitnehmen für die einheimischen Helfer fünfhundert T-Shirts angeliefert - (zu meiner Belustigung trugen sie den Slogan UNSICHERE ZEITEN in großen Blockbuchstaben auf der Brust, aber wenn man das Kleingedruckte mitlas, stand da UNSICHERE ZEITEN - mir nach!) - und ich fragte mich schon, ob sie reichen würden.

Der Rennverein von Huntingdon, großzügig und hilfsbereit von Anfang an, hatte uns uneingeschränkten Zugang zu den Örtlichkeiten gewährt. Da ich dieses Entgegenkommen auf keinen Fall mißbrauchen wollte, hatte ich O’Hara gedrängt, ein Heer von Straßenfegern zur Beseitigung des von uns hinterlassenen Mülls anzuheuern.

»Die haben doch sicher ihr eigenes Reinigungspersonal«, hatte er eingewandt. »Wir bezahlen sie ja schließlich.«

»Wohlwollen ist unbezahlbar.«

Er hatte dem Produktionsleiter mitgeteilt, daß die Stätte blitzsauber zu hinterlassen sei.

Der Waageraum und die Jockeystube waren bereits aufgeschlossen, als ich auf der Bahn ankam, und die Garderobenleute legten neben den Reithosen und Stiefeln schon die leuchtenden Farben für die Jockeys parat.

Wir hatten ihre ganze Ausrüstung, nicht nur die Dresse, eigens für den Film anfertigen lassen. Mit Ausnahme der gemieteten Rennsättel war alles Eigentum der Filmfirma.

Insgesamt waren es zwanzig Garnituren, da wir Reserven eingeplant und zum Zeitpunkt der Bestellung nicht gewußt hatten, wie viele Teilnehmer wir schließlich zusammenbekommen würden. In den Umkleideräumen hatte sich noch kein Jockey eingefunden - sie waren für neun Uhr bestellt -, und ich fand ohne weiteres, was ich suchte, und schloß mich damit in der Toilette ein.

Ich hatte mir zwei von den Sicherheitswesten geholt, wie Jockeys sie tragen, um bei einem Sturz einigermaßen gegen Hufschläge geschützt zu sein. Ausgezogen bis auf Hemd und Slip, legte ich die erste Weste an und zog ihren Reißverschluß zu.

Im wesentlichen ist die Sicherheitsweste ein leichtes blaues Baumwollding, ausgepolstert mit flachen, etwa zehn mal fünfzehn Zentimeter großen, anderthalb Zentimeter starken Polystyrolscheiben. Die festgenähten Kunststoffscheiben bedecken den Oberkörper vom Hals bis unter die Taille, ziehen sich im Rücken aber noch weiter hinab, so daß auch das Steißbein geschützt ist. Von dort wird ein breiter weicher Gurt zwischen den Beinen hindurchgeführt und vorn an der Weste befestigt, damit sie nicht verrutscht. Zusatzteile lassen sich wie Epauletten über die Schultern und Oberarme klappen und werden mit Klettband am Arm fixiert.

Obwohl ich mir die größte Größe herausgegriffen hatte, saß die Weste wie angegossen. Als ich die zweite darüberzog, ging der Reißverschluß über meiner Brust nicht zu; ein Problem, das ich halbwegs dadurch löste, daß ich meine Hose über beide Westen und meinen Gürtel eng um die Taille zog, um alles zusammenzuhalten. Zum Schluß kam ich mir vor wie ein schulterlastiger Footballspieler, aber ich zog noch meinen Pullover an, schloß meine blaue Windjacke über dem Ganzen und sah im Spiegel nicht wesentlich dicker aus.

Ich hatte keine Ahnung, wie sich die trittdämpfende Weste der Jockeys gegen ein Messer behaupten würde, aber psychologisch waren drei Zentimeter Polystyrol und vier Lagen robuster Baumwollstoff besser als nichts, und ich konnte mir nicht leisten, mich den ganzen anstrengenden Tag hindurch über etwas zu sorgen, das wahrscheinlich nicht passierte.

Mit Vergnügen war ich ohne Sicherheitsweste in vollem Tempo um die Bahn geritten und hatte meinen Hals riskiert. Mit Vergnügen hätte ich es wieder getan. Seltsam, die verschiedenen Gesichter der Furcht.

Draußen hatte Moncrieff seine Kamera bereits auf dem Dolly montiert, um die erste Szene des Tages aufzunehmen, den Auszug der Jockeys aus dem Waageraum und ihren Gang zum Führring vor dem Rennen. Auf halbem Weg sollte ein Kind-Komparse angesaust kommen und dem Jockeymimen ein Autogrammheft hinhalten. Ed, der eine zweite Kamera dirigierte, würde die freundliche Reaktion des Jockeys in Großaufnahme filmen, sein Gesicht, seinen blauen Dreß und seine Nettigkeit herausarbeiten, während die anderen Jockeys hinter ihm weiter durchs Bild gingen.

Wir filmten die Sequenz dann zweimal, wenn sie auch dank der Proben gleich beim erstenmal gelang. Auf Nummer Sicher zu gehen war für mein Empfinden aber nie verkehrt.

Zwischen den beiden Einstellungen unterhielt ich mich mit den im Waageraum wartenden Jockeys. Ich dankte ihnen für das glänzende Rennen von tags zuvor, und sie spielten es scherzend herunter. Von ihrer Gereiztheit war nichts geblieben. Sie sagten Thomas zu mir. Sie sagten, einige von ihnen würden am kommenden Montag wirklich in Huntingdon starten, aber das würde die alte Tretmühle sein, ohne das Vergnügen des So-Tuns-als-ob. Wenn ich noch mal einen Rennsportfilm drehte, meinten sie mit typischer Ironie, würden sie ihr Heil in der Flucht suchen.

Als sie für die Wiederholung der Szene zum Führring hinausgerufen wurden, ging ich vor und sah ihnen neben Moncrieff stehend zu; als er dann die beiden kopierbaren Aufnahmen im Kasten hatte, zog Moncrieff mit Kamera und Crew in den Führring selbst, wo die Kamera auf einer Drehscheibe in einem Winkel von fast 360 Grad die herumgeführten Pferde aufnehmen konnte. Ich stand neben ihm in der Ringmitte und beaufsichtigte den Vorgang.

Wie immer nahm das Einrichten die meiste Zeit in Anspruch: Wo kamen die Komparsen hin, die die kleinen Besitzer-Trainer-Gruppen spielten; wo die Komparsen, die Funktionäre und Vertreter der Rennleitung darstellten; wie sollten die Einheimischen um den Ring verteilt werden; welcher Jockey - das mußte man üben - ging zu welchem Besitzer; wann kamen die beiden unversöhnlichen Rivalen - der Jockeymime in Blau, der grünweiß Gestreifte - zusammen in den Ring, und wo genau trennten sie sich, um zu den beiden Gruppen um Nash und Cibber zu stoßen?

Die beiden Leibwächter Nashs, als Besitzer verkleidet, hielten ihre Ferngläser, als hätten sie lieber Pistolen in der Hand. Die dem Anschein nach ältere Dame, die Nashs Gruppe vervollständigte, war eine achtundzwanzigjährige Meisterin diverser Kampfkünste mit den Instinkten einer Löwin.

Zu Cibbers Gruppe gehörte Silva, gekleidet, wie es der Frau eines Jockey-Club-Mitglieds zukam, in einen gutgeschnittenen Wollmantel, kniehohe Stiefel und Pelzmütze; warm und hübsch im kalten Wind. Cibbers »Trainer« allerdings war Judolehrer. O’Hara hatte diese Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Mein eigener Schatten, den er am Abend vorher durchgesetzt hatte, stand stumpfsinnigen

Angesichts neben mir im Ring. Angeblich war er Träger des schwarzen Gürtels, aber ich hatte mehr Vertrauen zum Polystyrol.

Später am Tag würden wir Großaufnahmen von einem vor Wut kochenden Cibber machen, der die unerträgliche Nähe Nashs, des Liebhabers seiner Frau, hinnehmen mußte; Großaufnahmen von Silva, wie sie Nash zärtlich anblickte und den armen Cibber noch mehr reizte; Großaufnahmen von Nash, wie der die Form wahrte und Cibber mit Gleichmut, Silva mit Zurückhaltung begegnete; kurze, tragende Nahaufnahmen, die auszuleuchten eine Ewigkeit dauern würde.

Mittlerweile wurden die Pferde im Ring herumgeführt, alle standen an den vorgesehenen Plätzen, und wir filmten den Einzug der Jockeys. Wunderbarerweise gingen alle zu den richtigen Gruppen, tippten den Besitzern zum Gruß an ihre Kappen, unterhielten sich zum Schein, schauten die Pferde an, benahmen sich wie Jockeys. Der Jockeymime in Blau trat zu Nash. Grünweißgestreift ging zu Cibber. Niemand stolperte über Kabel, niemand lief aus Versehen in die Aufnahme, niemand fluchte.

»Halleluja«, atmete Moncrieff neben mir auf, als Ed »Aus« rief.

»Und kopieren«, setzte ich hinzu. »Und das Ganze noch mal.«

Wir hielten Mittagspause. Nash gab in der Mitte des Führ-rings einer artigen, aber schier endlosen Reihe von Leuten Autogramme. Ein Assistent von Ed dirigierte die Schlange, O’Hara, ein Leibwächter und die Löwin bildeten einen menschlichen Schutzwall um den Rücken des Megastars.

Nash, O’Hara und ich aßen wieder hoch oben in der Loge der Rennleitung.

Von den Drohungen um den Film einmal abgesehen, konnte man mit dem Morgen zufrieden sein; wir wußten alle, daß die Aufnahmen gut gelaufen waren.

O’Hara sagte: »Howard ist hier, wußten Sie das?«

»Howard!« rief Nash ungehalten.

»Ein sehr stiller Howard«, erläuterte O’Hara mit grimmiger Belustigung. »Howard ist jetzt Wachs in unseren Händen.«

«Ich glaube nicht, daß sich seine Ansichten geändert haben«, sagte ich. »Er hat Angst bekommen. Deswegen hält er den Mund. Ich würde das einen verkorkten Vulkan nennen. Er steht garantiert leidenschaftlich hinter dem, was er Alison Visborough verbraten hat. Sie war davon so beeindruckt, daß sie mit seinen Meckereien zu ihrer Bekannten vom Drumbeat gelaufen ist, und was er ihr gesagt hat, ist noch immer seine Überzeugung.«

»Aber«, wandte O’Hara ein, »er will doch den Film wohl nicht wirklich verhindern?«

»Das volle Honorar für sein Drehbuch ist mit den ersten Standfotos fällig geworden - am ersten Drehtag in Newmarket. Das ist ja normal, und es steht in seinem Vertrag. Ob wir ihn fertigstellen oder abbrechen, ihm bringt der Film keinen Penny mehr, wenn er nicht gerade Milliarden einspielt. Und ich glaube, er will mich immer noch raushaben. Er ist nach wie vor überzeugt, daß ich ihm seinen Bestseller zerstückele.«

»Tun Sie ja auch«, lächelte Nash.

»Ja. Ohne einen guten Metzger gibt’s kein gutes Fleisch.«

Die Antwort gefiel O’Hara. »Das werde ich Howard mal sagen.«

»Lieber nicht«, meinte ich, bezweifelte aber, ob ihn das bremsen würde.

O’Haras Mobiltelefon summte, und er meldete sich. »Bitte? Wie war das? Ich kann Sie nicht verstehen. Sprechen Sie langsamer.«

Er hörte noch einen Moment lang zu und gab dann mir den Apparat. »Es ist Ziggy«, sagte er. »Reden Sie mit ihm. Er spricht mir zu schnell.«

»Wo ist er?« fragte ich.

O’Hara zuckte die Achseln. »Er ist gestern morgen nach Norwegen geflogen. Ich habe einem Agenten erklärt, was Sie brauchen, und er ist gleich mit ihm los.«

Ziggy s Stimme am Telefon ratterte wie Maschinengewehr-Feuer, und die Wörter kamen genauso schnell herausgeschossen.

»He«, sagte ich nach einer Weile, »hab ich das richtig verstanden? Sie haben zehn halbwilde Fjordpferde gefunden, aber die müssen sofort hergebracht werden?«

»Sie können weder in vierundzwanzig Tagen noch in achtunddreißig. Dann sind sie nicht frei. Für den richtigen Gezeitenstand sind sie nur nächste Woche frei. Sie kommen mit der Fähre am Montag von Bergen nach Imming-ham.«

»Newcastle«, korrigierte ich.

»Nein. Die Fähre von Bergen geht zwar normalerweise nach Newcastle, aber Pferde müssen nach Immingham. Ist auch günstiger für uns, sagen sie. Es liegt an der Humber. Sie reisen am Sonntag von Bergen ab, begleitet von einem Trainer und fünf Pflegern. Sie kommen alle mit großen Pferdetransportern und bringen auch das Futter für die Tiere mit. Sie können Mittwoch und Donnerstag arbeiten und müssen Freitag zurück nach Immingham. Das ist alles schon geregelt, Thomas. Gut so?«

»Hervorragend«, sagte ich.

Er lachte fröhlich. »Gute Pferde. Ohne Zaumzeug bewegen sie sich wie Wildpferde, aber sie sind trainiert. Wie Sie wünschen, habe ich eines ohne Sattel geritten. Die sind ideal.«

»Fabelhaft, Ziggy.«

»Der Trainer möchte wissen, wo wir von Immingham aus hinmüssen.«

»Ehm. wollen Sie mit ihnen fahren?«

»Ja, Thomas. Diese Woche bleibe ich bei dem Trainer. Ich schaue mir an, wie er mit den Pferden umgeht. So lernen sie mich kennen. Ich arbeite auch schon mit blonder Perücke und Nachthemd. Das ist geregelt. Dann werden die Pferde nicht mehr erschrecken. Gut so?«

Ich war praktisch sprachlos. Gut war gar kein Ausdruck. »Sie sind ein Genie«, sagte ich.

Er sagte bescheiden: »Ja, Thomas, ich weiß.«

»Wo die Pferde hinsollen, kläre ich noch. Rufen Sie mich am Samstag noch mal an.«

Er verabschiedete sich aufgeregt, ohne mir eine Nummer zu geben, unter der ich ihn zurückrufen konnte, doch ich nahm an, im Notfall würde mir der Agent weiterhelfen. Ich gab Ziggys Neuigkeit an O’Hara und Nash weiter und sagte, wir müßten den Drehplan für die kommende Woche umstoßen, das werde aber kein großes Problem sein.

»Nächste Woche kommt die Darstellerin der Erhängten«, erinnerte mich O’Hara. »Wir müssen ihre Szenen komplett in vierzehn Tagen abdrehen.«

Ich würde mit ihr an den Strand gehen, überlegte ich. Das Nachthemd würde durchscheinend im Licht des Sonnenaufgangs flattern. Ich würde sie ans Meeresufer stellen und Ziggy für sie auf dem Pferd galoppieren lassen. Geisterhaft. Unwirklich. In ihrem Kopf.

Bete um einen Sonnenaufgang.

»Sonia«, sagte ich.

»Yvonne«, berichtigte O’Hara. »Wir sollten bei Yvonne bleiben. So heißt sie im Roman und im Drehbuch.«

Ich nickte. »Howard bringt das alte Erhängtenklischee mit den in der Luft baumelnden Beinen und Schuhen und schockierten Betrachtern. Aber ich hab schon was anderes im Kopf.«

O’Hara schwieg. Nash schauderte.

»Bloß nichts zu Brutales«, sagte Nash schließlich. »Sonst fliegt die Szene ja doch raus.«

»Geschmackvoll grausig soll es sein?«

Sie lachten.

»Sie hat wirklich gehangen«, sagte ich.

Eine der ersten, die ich sah, als wir wieder nach unten kamen, war Lucy Wells im Streit mit einem Mann, der ihr den Weg versperrte. Ich ging zu ihnen und fragte, was los sei.

»Der Mann hier«, sagte Lucy erregt, »hat angeblich Anweisung, niemand in Ihre Nähe zu lassen.«

O’Haras Order, erklärte der Mann. Ich beruhigte ihn bezüglich Lucy, nahm sie beim Arm und entführte meine Beute.

»Ich dachte, Sie wollten heute nicht kommen«, sagte ich.

»Papa hat sich’s anders überlegt. Er ist mit Mama wieder hier. Und Onkel Ridley auch. Keine zehn Pferde könnten ihn davon abhalten, hat er gemeint.«

»Ich freue mich, Sie zu sehen.«

»Tut mir leid, daß ich so schroff war.«

Ich lächelte ihr in die blauen Augen. »Ein kluges Kind.«

»Ich bin kein Kind.« »Bleiben Sie bei mir«, sagte ich. »Ich sage Moncrieff, daß es okay ist.«

»Wer ist Moncrieff?«

»Der Chefkameramann. Sehr wichtiger Mensch.«

Sie sah mich zweifelnd an, als ich sie mit dem Zottelbart in der Erdbebenopfermontur bekannt machte; und er fand, nachdem er uns einen altmodischen Seitenblick zugeworfen hatte, Gefallen an ihr und nahm ihre Anwesenheit ohne zu schimpfen hin.

Sie sah farbenfroh aus in ihrer roten Jacke über sauberen neuen Bluejeans, und eine wache Intelligenz lag in den aufmerksamen Augen und dem festen, ruhigen Mund. Sie verfolgte das Geschehen ohne sinnloses Geplapper.

»Ich habe Papa von dem Messer erzählt«, sagte sie mir nach einer Weile.

»Und was hat er dazu gemeint?«

»Komisch, das waren genau seine Worte. Er sagte: >Und was hat er dazu gemeint?««

»So?«

Ich betrachtete ihr argloses Gesicht. »Und was haben Sie gesagt, was ich dazu gemeint habe?«

Sie zog die Stirn kraus. »Ich habe ihm gesagt, daß es ein schönes Messer war, aber daß Sie gar nichts weiter dazu gesagt haben. Und daß der Produzent O’Hara nicht gerade erbaut darüber war und daß ich nicht wußte, warum.«

»O’Hara mag keine Messer«, sagte ich, um die Sache abzutun.

»Ach so. Papa sagte, es wäre vielleicht, weil jemand versucht hat, Nash Rourke mit dem Messer zu verletzen, wie er im Radio gehört hat, nur daß er an Nashs Double statt an Nash geraten ist.«

»Deswegen auch«, gab ich zu.

»Papa sagt, Regisseure haben kein Double«, neckte sie mich arglos, »und man erkennt sie überhaupt nur, wenn sie einem gezeigt werden.«

»Oder wenn sie zu einem nach Hause kommen.«

»Ach Gott ja. Ist das Foto von Sonia gut geworden?«

»Bestimmt, aber ich bekomme es erst heute abend zu sehen, wenn ich wieder in Newmarket bin.«

Sie sagte zögernd: »Ich habe Pa nichts davon gesagt. Es wäre ihm wirklich nicht recht.«

»Von mir hört er nichts. Die Darstellerin der Yvonne -das ist Nashs Frau im Film - dreht ab nächster Woche. Ich verspreche, daß sie nicht wie auf dem Foto aussehen wird. Da gibt’s keine unliebsame Überraschung für Ihren Vater.«

Sie lächelte froh und dankbar, freigesprochen von ihrer kleinen Schwindelei. Ich hoffte, daß ihr nichts Schlimmes zustoßen würde, aber dagegen ist im Leben ja niemand gefeit.

Auf dem Nachmittagsdrehplan stand als erstes die letzte Totale von dem Publikum am Führring, dann das Aufsitzen der Jockeys und ihr Hinausgehen auf die Bahn. Auch wenn es nachher nur Beiwerk für das menschliche Drama war, mußten die Renntagssequenzen der Authentizität wegen doch in sich stimmen. Wir stellten die BesitzerTrainer-Gruppen wieder wie zuvor auf und ergänzten sie durch den jeweiligen Jockey. Moncrieff prüfte die drehbare Kamera und bugsierte Lucy sanft aus der Aufnahme.

Nash kam mit einem Troß von Bewachern in den Ring und machte einen Schlenker, um mir mitzuteilen, daß ein Bekannter mich suche.

»Wer?« fragte ich.

»Ihr Fernsehmann von Doncaster.« »Greg Compass?«

Er nickte. »Vor dem Waageraum. Er hat sich mit den Jockeys unterhalten. Er sagt, er wartet da auf Sie.«

»Prima.«

Wir probten die Aufsitzszene zweimal und filmten sie dreimal aus zwei Kamerawinkeln, bis die Pferde unruhig wurden, dann baten wir die Einheimischen, vor die Tribüne zu gehen, um den Pferden beim Aufkantern zuzuschauen.

Während des unvermeidlichen Hin und Hers, bis die Kamera eingerichtet war, ließ ich Lucy bei Moncrieff und ging zum Waageraum, um Greg zu treffen, der, gekleidet in einen teuren Anzug, die Freundlichkeit selbst war und überaus empfänglich für meinen Vorschlag, sich ein unverhofftes Zubrot zu verdienen, indem er kurz in seine gewohnte Rolle schlüpfen und den Trainer des Siegers interviewen sollte; mit anderen Worten: Nash.

»Das gibt nur ein paar Sekunden auf der Leinwand«, sagte ich. »Gerade genug, um dein hübsches Gesicht vorzuführen.«

»Hört sich gut an.«

Er war belustigt und höflich; liebenswürdig.

»In einer halben Stunde?«

»Abgemacht.«

»Weißt du übrigens von damals noch was über den Trainer - den Mann der Erhängten aus unserem Epos?«

»Jackson Wells?«

»Ja. Er ist heute persönlich hier. Mit seiner jetzigen Frau. Uni seiner Tochter. Und seinem Bruder.«

»Vor meiner Zeit, Alter.«

»Aber nicht lange«, versicherte ich ihm. »Du mußt so sechzehn gewesen sein, als Jackson das Trainieren aufgab.

Bald darauf bist du dein erstes Rennen geritten. Hast du also von den älteren Jockeys vielleicht mal. irgendwas gehört?«

Er sah mich spöttisch an. »Ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, ich hätte seit vorigem Samstag nicht darüber nachgedacht. Soweit ich weiß, ist das Buch Unsichere Zeiten sentimentaler Quatsch. Die Jockeys, die die echte Yvonne gekannt haben, waren keine Traumliebhaber, das war ein Haufen geiler Draufgänger.«

Ich lächelte.

»Du hast es gewußt?« fragte er.

»Es liegt irgendwie nahe. Im Film bleiben sie trotzdem Traumliebhaber.«

Ich hielt inne. »Weißt du noch Namen? Weißt du zufällig, wer?«

»Bis ich in der Jockeystube trocken hinter den Ohren war, hat kein Mensch mehr was gesagt. Alle hatten Angst, in einen Mord reingezogen zu werden. Das Schweigen im Walde.«

Er hielt inne. »Wenn Jackson Wells heute wirklich hier ist, würde ich ihn gern kennenlernen.«

»Seine Tochter sagt, er ist da.«

Ich enthielt mich der Frage, warum er Jackson Wells kennenlernen wollte, aber er sagte es mir trotzdem. »Gutes TV. Fesselt die Couchgemeinde. Gute Werbung für deinen Film.«

»Jackson Wells legt keinen Wert auf den Film.«

Greg grinste. »Um so besser, mein Alter.«

Ich kehrte mit Greg im Schlepptau zu Moncrieff zurück und verlor Lucys Aufmerksamkeit prompt an den geölten Charme des Kommentators. Lucy versprach atemlos, ihn zu ihrem Vater zu bringen, und als sie gegangen waren, machten Moncrieff und ich uns wieder an die Arbeit.

Wir drehten die Szenen, in denen die Pferde aufs Geläuf hinausgehen und zum Start kantern. Ein Pferd ging durch. Ein Sattel rutschte, so daß der Reiter zu Boden fiel. Eine gemietete Kamera blockierte. Das Publikum wurde unruhig, die Jockeys regten sich auf, und Moncrieff fluchte.

Schließlich bekamen wir es hin.

Ich ging ausgepumpt wieder zum Waageraum und fand dort O’Hara im Gespräch mit Howard.

Howard hatte zu meiner Verblüffung seine drei Freunde dabei - Mrs. Audrey Visborough, ihre Tochter Alison und ihren Sohn Roddy.

O’Hara warf mir einen wirren Blick zu und sagte: »Mrs. Visborough möchte, daß wir aufhören, den Film zu drehen.«

Ich sagte zu Howard: »Sind Sie beknackt?«, was vielleicht nicht taktvoll war, aber meinen Ärger auf den Punkt brachte. Ich hatte Angst gehabt, ein Stilett ins Herz zu bekommen, und Howard kam mit diesen Clowns an.

Alle drei trugen jedoch gängige Renntagskleidung, keine spitzen weißen Hüte, Bommeln und Pappnasen. Audrey Visborough stützte sich auf ihren Stock und setzte ihre Beschwerde fort.

»Ihr Regisseur Thomas Lyon«, ein giftiger Blick traf mich, »hat offensichtlich weder die Absicht, auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren noch auf die Herstellung dieses sich Film nennenden Machwerks zu verzichten. Ich ersuche Sie, ihm auf der Stelle Einhalt zu gebieten.«

Howard scharrte mit den Füßen und sagte hilflos: »Ehm. Audrey.«

O’Hara, der sich erstaunlich zurückhielt, sagte ihr, er persönlich habe nicht die Macht, den Film zu stoppen (obwohl er sie vermutlich hatte), und sie möge ihre Einwendungen doch bitte schriftlich an die Bosse der Filmgesellschaft richten, mit anderen Worten: an die Chefetage.

Sie erklärte, das werde sie tun, und verlangte Namen und Adressen. O’Hara gab ihr entgegenkommend zwei oder drei Visitenkarten und einige nützliche, begütigende Ratschläge, die aber an ihr vorbeigingen. Audrey Visbo-rough fühlte sich durch die Handlung des Films persönlich in unverzeihlicher Weise beleidigt, und sie würde nur zufrieden sein, wenn der Film in der Versenkung verschwand.

Alison stand neben ihr und nickte. Roddy schien zwar halbwegs ihre Auffassung zu teilen, doch nach den Blik-ken, die er seiner Mutter zuwarf, hatte er offenbar weniger Not mit der gemeinen Unterstellung, daß sie auch nur erwogen haben könnte, mit dem unsäglichen, so gar nicht standesgemäßen Jackson Wells ins Bett zu gehen.

Ich sagte zu Howard: »Wie kommen Sie dazu, die Leute mit hierher zu bringen?«

»Ich konnte sie nicht zurückhalten«, sagte er grantig. »Und natürlich kann ich auch verstehen, wenn Audrey meint, daß Sie sie regelrecht krank machen.«

»Sie waren mit den Storyänderungen einverstanden«, hob ich hervor. »Und die Liebesszenen zwischen Nash und Silva haben Sie selbst verfaßt.«

»Aber es sollten leise Szenen im Wohnzimmer sein, kein kopfloses Gerammel.«

Seine Stimme triefte von Selbstmitleid. »Ich wollte den Visboroughs mit dem Film eine Freude bereiten.«

Mit neuerlichen Gewissensbissen dachte ich daran, daß seine Probleme mit Audrey Visborough noch nicht auf dem Höhepunkt angelangt waren.

Ich sagte zu ihrer Tochter Alison: »Hätten Sie Lust, sich anzusehen, wie eine Szene gedreht wird?«

»Ich?«

Sie war überrascht und warf ihrer Mutter einen Blick zu, ehe sie antwortete. »Damit kriegen Sie uns aber nicht rum. Der Film ist eine Schande.«

Als ich ungehalten einen Schritt wegging, kam sie jedoch hinter mir her.

»Wo willst du hin?« fragte ihre Mutter scharf. »Ich brauche dich hier.«

Alison blickte mich düster an und sagte: »Ich bearbeite Mr. Lyon.«

Sie ging entschlossen neben mir her, nüchtern in Tweedkostüm und flachen Schuhen, jederzeit bereit, sich ernsthaft für eine gerechte Sache einzusetzen.

»Papa«, sagte sie, »war ein guter Mensch.«

»Bestimmt.«

»Er hat es sich nicht leicht gemacht«, führte sie beifällig aus. »Ein Mann mit Grundsätzen. Einige Leute fanden ihn langweilig, ich weiß, aber mir war er ein guter Vater. Er war der Meinung, daß Frauen durch die alte englische Tradition, den Familienbesitz vorwiegend unter die Söhne zu verteilen, stark benachteiligt werden, und deshalb hat er mir das Haus vererbt.«

Sie schwieg. »Rodbury war wütend. Er ist drei Jahre älter als ich, und er war davon ausgegangen, daß alles an ihn fällt. Sie waren immer großzügig zu ihm. Papa hat ihm seine ganzen Springpferde gekauft und nur darauf bestanden, daß Rodbury mit Reitunterricht selbst seinen Lebensunterhalt verdient. Das fand ich auch ganz vernünftig, denn Papa war kein Krösus. Er hat sein Geld unter uns dreien aufgeteilt. Wir sind alle nicht vermögend.«

Sie schwieg wieder. »Sie fragen sich bestimmt, warum ich Ihnen das alles erzähle. Ich möchte, daß Sie Papas Andenken gerecht werden.«

Das konnte ich nicht, wenigstens nicht so, wie sie es wünschte.

Ich sagte: »Betrachten Sie den Film als eine Geschichte, die von erfundenen Personen handelt, nicht von Ihren Eltern. Es sind nicht Ihre Eltern. Es sind Phantasiegestalten.«

»Das wird Mama nicht einsehen.«

Ich ging mit ihr in den Führring, wo Moncrieff wie immer mit Lichtsetzen beschäftigt war.

»Ich zeige Ihnen mal zwei Personen«, sagte ich zu Alison. »Sagen Sie mir, was Sie von denen halten.«

Sie sah verwirrt aus, folgte aber mit den Augen meinem Finger, der auf ein in der Nähe stehendes Paar wies, und betrachtete emotionslos erst Cibber, ernst, um die Fünfzig, dann die reizende junge Silva in ihrem gut geschnittenen Mantel, den blanken, eng anliegenden Stiefeln und der betörenden Pelzmütze.

»Und?« fragte Alison. »Die sehen ganz nett aus. Wer ist das?«

»Mr. und Mrs. Cibber«, sagte ich.

»Was?«

Sie fuhr halb wütend zu mir herum. Dann entschied sie sich gegen eine direkte Tätlichkeit, drehte sich nachdenklich wieder um und schaute einfach.

»Hinter ihnen«, sagte ich, »steht Nash Rourke. Er spielt die Figur, die frei auf Jackson Wells basiert.«

Alison starrte sprachlos den breitschultrigen Herzensbrecher an, dem man die gutmütige Intelligenz auf zehn Meter Entfernung ansah.

»Kommen Sie mit«, sagte ich.

Verdattert folgte sie mir, und ich nahm sie mit dahin, wo Greg Compass und Lucy offenbar endlich Lucys Vater gefunden hatten.

»Dieser Mann«, erklärte ich Alison, »ist Greg Compass, der Leute aus dem Rennsport fürs Fernsehen interviewt.«

Alison zeigte nickend an, daß sie ihn kannte.

»Dies«, sagte ich mit unbeteiligter Stimme, »sind Mr. und Mrs. Jackson Wells und ihre Tochter Lucy.«

Alison öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Jackson Wells stand lächelnd, gut aussehend zwischen seinen beiden sehr lebendigen, gepflegten Frauen und wartete darauf, daß ich die Vorstellung zu Ende führte.

»Alison Visborough«, sagte ich.

Jackson Wells’ sonnige Miene verfinsterte sich. Er sagte fast ausspeiend: »Ihre Tochter!«

»Sie sehen«, sagte ich zu Alison, »Jackson Wells kann Ihre Mutter ebensowenig ausstehen wie sie ihn. Es ist undenkbar, daß sie im wirklichen Leben eine Liebesaffäre gehabt haben könnten. Die Personen in unserem Film sind nicht sie.«

Alison blieb stumm. Ich nahm sie beim Arm und führte sie weg.

»Ihre Mutter«, sagte ich, »macht sich nur selber krank. Überreden Sie sie, unserem Treiben den Rücken zu kehren. Lenken Sie ihr Interesse auf etwas anderes und lassen Sie sie nicht den fertigen Film sehen. Sie können mir glauben, daß ich weder sie noch das Andenken Ihres Vaters schmähen will. Ich drehe einen Film über erfundene Personen. Ich habe durchaus Verständnis für die Gefühle Ihrer Mutter, aber sie erreicht nicht, daß die Produktion abgebrochen wird.«

Alison fand ihre Sprache wieder. »Sie sind skrupellos«, sagte sie.

»Gut möglich. Dennoch bewundere ich Sie, Miss Visborough, ebenso wie Howard. Ich bewundere Ihre Vernunft und die Treue, mit der Sie zu Ihrem Vater stehen. Daß ich Ihnen Anlaß gebe, sich zu ärgern, bedaure ich, kann es aber nicht ändern. Ich muß Sie auch darauf hinweisen, daß der Cibber im Film ganz und gar kein netter Mensch ist. Wieder kann ich Ihnen nur sagen, setzen Sie ihn nicht mit Ihrem Vater gleich.«

»Howard hat das aber getan!«

»Howard hat Cibber als einen guten Menschen ohne starke Gefühlsregungen gezeichnet. Das gibt keinen Konflikt, kein Drama her. Im Konflikt liegt das Wesen der Dramatik. Leitsatz Nummer eins beim Filmemachen. Jedenfalls bitte ich Sie und Ihre Mutter und Ihren Bruder um Entschuldigung, aber bis vorige Woche wußte ich kaum, daß es Sie gibt.«

»Ach, Roddy!« sagte sie ohne Zuneigung. »Machen Sie sich wegen dem keine Gedanken. Den kratzt das nicht besonders. Er und Papa waren ziemlich kühl zueinander. Zu verschieden wahrscheinlich. Rodbury - und ich nenne ihn bei seinem vollen Namen, weil Roddy sich nach einem netten kleinen Jungen anhört, dabei hat er mich, als wir Kinder waren, nie bei seinen Spielen mitmachen lassen, und wenn die anderen Mädchen meinten, ich könnte froh sein, daß ich einen älteren Bruder hatte, waren sie schwer im Irrtum -«

Sie brach plötzlich ab. »Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Ich kann sonst nicht gut mit Leuten reden. Schon gar nicht, wenn ich ihr Verhalten mißbillige. Jedenfalls dürfte es Roddy egal sein, was Sie über Papa sagen, solange ihm dadurch kein Geld flöten geht. Er tut nur Mama gegenüber so, als ob ihm was dran liegt, damit sie spendabel bleibt und ihm Sachen kauft.« »Er ist nicht verheiratet?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er brüstet sich mit Frauen. Mehr Worte als Taten, denke ich manchmal.«

Ich lächelte ihrer Offenheit wegen und dachte an ihr unerfülltes Leben: den enttäuschenden Bruder, den innig geliebten, aber; fernen Vater, die Mutter, die eine vielleicht unpassende Partie verhindert hatte. Alles in allem eine bewundernswerte Frau.

»Ich mag Sie, Miss Visborough«, sagte ich.

Sie sah mir gerade ins Gesicht. »Dann hören Sie mit dem Film auf.«

Ich dachte an ihre Gefühle, und ich dachte an das Messer.

»Ich kann nicht«, sagte ich.

Wir wurden mit dem Tagesdrehplan früh genug fertig, um noch die halb geplante Gutwetter-PR-Signierstunde vor der Waage abzuhalten. Nash, Silva und Cibber krakelten dort mit allem verfügbaren Charme.

Viele Huntingdoner trugen bereits ihre UNSICHERE ZEITEN - mir nach!-Shirts. Ringsum herrschte gute Stimmung. Die vorgesehene geordnete Reihe von Autogrammjägern löste sich in einem freundlichen Gedränge auf. O’Hara signierte Bücher und Rennprogramme, die ihm große Filmkenner unter die Nase hielten, und auch mein Autogramm war gefragt. Howard schrieb bescheiden in ihm vorgelegte Exemplare seines Buches.

Das fröhliche Publikum streifte umher. Nashs Leibwachen lächelten. Die Löwin suchte ihn vor Küssen zu bewahren. Mein Schwarzgürtel stand links von mir, damit ich ihm mit rechts Zeichen geben konnte.

Ich spürte einen Schlag, als hätte mich jemand angerempelt, einen so heftigen Stoß, daß ich nach vorn stolperte, auf einem Knie aufkam, das Gleichgewicht verlor und umkippte. Ich fiel auf die rechte Seite, fühlte jäh und alarmierend den ersten Schmerz und begriff mit sengender Klarheit, daß ich die Klinge eines Messers im Leib hatte, daß ich auf den Griff gefallen war und es noch tiefer hineingetrieben hatte.

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