O’Hara streckte lachend die Hand aus, um mir hochzuhelfen.
Ich ergriff sie mit der Rechten, seine Hilfe reflexartig annehmend, und er sah, wie ich die Augen zusammenkniff, und hörte auf zu lachen.
»Haben Sie sich weh getan?«
»Nein.«
Er hatte mich bereits auf die Knie gezogen. Ich sagte: »Leihen Sie mir Ihre Jacke.«
Er trug eine alte Fliegerjacke, armeegrün, mit offenem Reißverschluß. »Die Jacke«, wiederholte ich.
»Was?«
Er beugte sich aus seiner knorrigen Höhe zu mir herunter.
»Leihen Sie mir Ihre Jacke.«
Ich schluckte, zwang mich zur Ruhe. »Leihen Sie mir Ihre Jacke und sagen Sie meinem Fahrer, er soll mit dem Wagen direkt hierher zum Waageraum kommen.«
»Thomas!«
Er war zunehmend besorgt und neigte sich tiefer herab, um mich besser zu verstehen. »Was ist los?«
Mit einem anormal klaren Kopf sagte ich deutlich: »Ich habe ein Messer in der Seite. Legen Sie mir Ihre Jacke um
die rechte Schulter, damit man es nicht sieht. Machen Sie keinen Aufstand. Erschrecken Sie die Bosse nicht. Kein Wort an die Presse. Holen Sie nicht die Polizei. Ich bin nicht tot, und der Film geht weiter.«
Er hörte zu und verstand, traute aber seinen Ohren kaum. »Wo ist denn das Messer?« fragte er unsicher. »Man sieht keine Verletzung.«
»Es sitzt irgendwo unter meinem Arm, oberhalb des Ellbogens. Geben Sie mir doch die Jacke.«
»Ich hole unseren Arzt.«
»Nein, O’Hara. Nein! Nur die Jacke.«
Ich legte wahrscheinlich jedes bißchen Autorität, das er mir verliehen hatte, in meine halb bittenden, halb befehlenden Worte. Jedenfalls zog er ohne weitere Einwendungen seine Wetterjacke aus und legte sie mir über die Schultern, während er jetzt in einem dick gestrickten armeegrünen Pullover dastand.
Andere Augen blickten neugierig in unsere Richtung. Ich hielt mich mit der linken Hand an O’Haras Arm fest und zog mich zentimeterweise an ihm hoch. Ich konzentrierte mich auf seine Augen, die auf gleicher Höhe wie meine waren.
»Das Schwein«, sagte ich leise, mit unverhülltem Zorn, »wird kein Glück haben.«
»Gut«, sagte O’Hara.
Ich entspannte mich ein ganz klein wenig - nicht dergleichen zu tun war jetzt wirklich das beste Anästhetikum, und zuviel Teilnahme hätte mich schneller geschafft als jeder Schmerz zwischen den Rippen.
O’Hara schickte einen von Eds Assistenten nach meinem Wagen und erklärte einigen Fragestellern beruhigend, ich sei gefallen und hätte mir die Schulter verrenkt, aber es bestehe kein Grund zur Sorge. Ich sah einen Wirrwarr von vertrauten Gesichtern um mich herum und konnte mich nicht entsinnen, daß eins davon nah genug gewesen wäre, um mich anzugreifen. Aber die Leute waren pausenlos in Bewegung gewesen. Jeder, den ich in England kannte, oder irgendein bezahlter Handlanger - und Profikiller waren überall zu haben, immer unsichtbar - konnte zwischen den Autogrammjägern gestanden und den Augenblick genutzt haben. Ich konzentrierte mich hauptsächlich darauf, in der Senkrechten zu bleiben, während ich überlegte, welche lebenswichtigen Organe noch mal rechts hinter den Rippen lagen, und mir fiel auf, daß sich die Haut meines in Aufruhr gebrachten Organismus zwar feucht anfühlte, aber es nicht so aussah, als ob ich große Mengen Blut verlor.
»Sie haben Schweiß auf der Stirn«, bemerkte O’Hara.
»Macht nichts.«
»Lassen Sie mich den Arzt holen.«
»Dann sind auch Greg Compass und das Fernsehen gleich da.«
Er schwieg.
»Ich kenne einen anderen Arzt«, versicherte ich ihm. »Wo bleibt der Wagen?«
Ed war recht bald damit zurück, auch wenn es mir wie eine Ewigkeit vorkam. Ich bat ihn, sich bei allen zu bedanken und auf die allgemeine Sicherheit zu achten, und sagte, wir würden die Nahaufnahmen am nächsten Tag beenden.
Er nickte nur und übernahm das Ruder, und ich zwängte mich vorsichtig auf den Rücksitz des Wagens.
O’Hara stieg auf der anderen Seite ein. »Das brauchen Sie nicht«, sagte ich.
»Doch.«
Froh darüber, daß er mitfuhr, bat ich ihn, auf seinem Mobiltelefon eine Nummer zu wählen, und ließ mir den Hörer geben, nachdem er die Tasten gedrückt hatte.
»Robbie?« sagte ich; zum Glück war es nicht sein Auftragsdienst. »Thomas Lyon. Wo sind Sie?«
»Newmarket.«:
»Hm. Könnten Sie in einer Stunde ins Hotel kommen? Ziemlich dringend.«
»Inwiefern dringend?«
»Kann ich jetzt nicht sagen.«
O’Hara sah mich überrascht an, doch ich nickte zu unserem Fahrer hin, der wortkarg sein mochte, aber keineswegs taub war.
O’Hara verstand, war jedoch besorgt. »Einer der Bosse aus L. A. ist im Hotel abgestiegen und wartet auf uns.«
»Oh.«
Ich zögerte und sagte dann: »Robbie, wollen wir uns lieber bei Dorothea zu Hause treffen? Es ist auch wieder ein Fall Dorothea, nur nicht so radikal.«
»Sie haben jemanden bei sich, der mithört und nicht merken soll, wovon Sie reden? Und es geht um eine Stichwunde?«
»Genau«, sagte ich, froh über seine rasche Auffassungsgabe.
»Wer ist der Patient?«
»Ich.«
»Guter Gott. Haben Sie einen Schlüssel zu Dorotheas Haus?«
»Ihre Freundin Betty hat sicher einen. Sie wohnt schräg gegenüber.« »Die kenne ich«, sagte er knapp. »Eine Stunde. Bei Dorothea. Ist es schlimm?«
»Ich bin in der inneren Geographie nicht so bewandert, aber ich glaube, es hält sich in Grenzen.«
»Unterleib?« fragte er besorgt.
»Nein. Weiter oben und auf der Seite.«
»Bis gleich«, sagte er. »Husten Sie nicht.«
Ich gab den Hörer wieder O’Hara, der sich mit Mühe und Besorgnis aller Fragen enthielt. Ich setzte mich quer und stützte mich so gut wie möglich gegen die Fahrzeugbewegungen ab, und dennoch waren es diesmal lange vierzig Meilen von Huntingdon nach Newmarket.
Ich dirigierte den Fahrer zu Dorotheas Haus. Der Wagen von Robbie Gill stand schon da, und Robbie selbst öffnete von innen die Haustür, als wir anhielten, und kam uns über den Fußweg entgegen. O’Hara bat den Fahrer, uns in einer halben Stunde abholen zu kommen, während ich mich aus dem Wagen schälte und mich unauffällig stützte, indem ich Robbies Arm ergriff.
Ich sagte: »Wir legen keinen Wert darauf, daß das publik wird.«
»Dachte ich mir schon. Ich hab’s keinem erzählt.«
Er sah zu, wie O’Hara ausstieg und dem Fahrer ein Zeichen gab, loszufahren, und ich sagte kurz: »O’Hara. Robbie Gill«, was beiden offenbar genügte.
Wir gingen langsam den Weg hinauf und in das leere, aber immer noch verwüstete Haus. Dorothea, sagte Robbie, habe ihm von meinem Angebot, das Gröbste aufzuräumen, erzählt. Wir gingen in die Küche, wo ich mich auf einen Stuhl setzte.
»Haben Sie das Messer gesehen?« fragte Robbie. »Wie lang war die Klinge?« »Sie steckt noch.«
Er sah perplex aus. O’Hara sagte: »Der Junge ist echt verrückt.«
»O’Hara produziert den Film«, sagte ich. »Er hätte gern, daß ich morgen früh frisch vernäht wieder am Drehort bin.«
Robbie nahm mir O’Haras Jacke von der Schulter und kniete sich auf den Boden, um das Problem genauer zu betrachten.
»So ein Messer habe ich noch nie gesehen«, verkündete er.
»Wie das auf der Heide?« fragte ich.
»Anders.«
»Ziehen Sie’s raus«, sagte ich. »Es tut weh.«
Statt dessen stand er auf und sagte zu O’Hara etwas von Betäubungsmitteln.
»Herrgott noch mal«, hakte ich nach. »Ziehen. Sie’s. einfach. raus.«
Robbie sagte: »Dann wollen wir uns den Schaden mal direkt besehen.«
Er öffnete den Reißverschluß meiner dunkelblauen Windjacke, schnitt mit Dorotheas Haushaltsschere meinen Pullover auf und stieß auf die Sicherheitswesten darunter.
»Was in aller Welt -?«
»Wir haben Morddrohungen bekommen«, erklärte ich, »und deshalb dachte ich.«
Ich schloß kurz die Augen und schlug sie wieder auf. »Ich habe mir zwei Sicherheitswesten ausgeliehen, wie sie die Jockeys tragen. Falls sie ein Pferd tritt.«
»Morddrohungen?«
O’Hara erklärte es und fragte mich: »Wie sind Sie auf die Westen gekommen?«
»Aus Angst«, sagte ich wahrheitsgemäß.
Sie lachten beinah.
»Hören Sie«, sagte ich sachlich. »Das Messer ist durch meine Windjacke, einen dicken Pullover, zwei schlagdämpfende Westen und noch ein Hemd gegangen, bevor es an meine Haut kam. Es ist ein Stück weit eingedrungen, aber da ich kein Blut huste und mich nicht schlechter fühle als vor einer Stunde. darf ich Sie vielleicht bitten, Robbie. mit gewohnt fester Hand.«
»In Ordnung«, sagte er.
Er zog die Westen auseinander und fand mein Hemd darunter naß und rot. Er zog das Hemd auseinander, um die Klinge selbst zu sehen, und dann blickte er mit einem Ausdruck zu mir auf, den man nur als Entsetzen bezeichnen konnte.
»Was ist?« sagte ich.
»Die Klinge ist so. breit. Die quetscht Ihnen die ganzen Stofflagen in die Seite.»
»Dann mal los«, sagte ich. »Raus damit.«
Er klappte seine Tasche auf, zog eine gebrauchsfertige Einwegspritze hervor und injizierte mir ein nicht näher bezeichnetes Schmerzmittel. Danach suchte er einen steril verpackten Wundverband heraus. Wie bei Dorothea, dachte ich. Er sah auf die Uhr, um die Injektion wirken zu lassen, dann riß er die Verpackung auf, legte den Verband unter meinem Hemd zurecht und zog mit der linken Hand an dem hervorstehenden Griff des Messers.
Es rührte sich nicht, und trotz der Injektion fühlte es sich schrecklich an.
»Aus dem Winkel schaffe ich es nicht«, sagte Robbie. Er sah O’Hara an. »Sie sind kräftig«, sagte er. »Ziehen Sie es raus.«
O’Hara starrte erst ihn, dann mich an.
»Denken Sie an die Bosse«, sagte ich.
Er lächelte schief und sagte zu Robbie: »Sagen Sie, wann.«
»Jetzt«, sagte Robbie, und O’Hara packte den Messergriff und zog, bis die Klinge herauskam.
Robbie brachte rasch den Verband an, und O’Hara stand da wie betäubt, in der Hand ungläubig das Gerät, das mir so zugesetzt hatte.
»Tut mir leid«, meinte Robbie zu mir.
Ich schüttelte mit trockenem Mund den Kopf.
O’Hara legte das Messer auf den Küchentisch, auf die leere Verbandhülle, und eine ganze Zeitlang sahen wir es uns nur schweigend an.
Insgesamt war es zwanzig Zentimeter lang, und die Hälfte davon war Griff. Die flache Klinge, oben gut sieben Zentimeter breit, verjüngte sich zur Spitze hin stark. Die eine Längsseite des Dreiecks bildete eine normale scharfe Schneide, die andere war unfein gezackt. Am breiten Ende ging die Klinge nahtlos in ein Heft mit einer Öffnung zum Durchgreifen über. In der Öffnung fingergerecht gewellt, war das Heft durch angeschraubte, handtellerbreite Griffschalen aus dunklem, hochglänzendem Holz verstärkt; der Rest war blankes Metall.
»Schweres Ding«, sagte O’Hara ausdruckslos. »Damit könnte man jemand durchsäbeln.«
Das breite Ende der Klinge zierte ein Beschlagnagel mit dem Wort für Wut, »Fury«.
Ich ergriff die furchtbare Waffe, um sie mir näher anzusehen, und sie war wirklich schwer (über ein halbes Pfund, wie Robbie mit Hilfe von Dorotheas Küchenwaage bald herausfinden sollte) und den eingestanzten Lettern nach aus rostfreiem Stahl in Japan angefertigt.
»Was wir brauchen«, ich legte es wieder hin, »ist ein Messerfachmann.«
»Und was Sie erst mal brauchen«, sagte Robbie entschuldigend, »ist eine Reihe Klammern, damit die Blutung aufhört.«
Wir entfernten meine sämtlichen Schutzhüllen, damit er sehen konnte, was er tat, und bald teilte er mir dann beruhigend mit, daß die Messerspitze auf eine Rippe getroffen und daran entlanggeglitten sei, statt durch weiches Gewebe in die Lunge einzudringen. »Die Rippe ist durch den Schlag gebrochen, aber Sie können von Glück sagen, daß die Verletzung, wie Sie dachten, schnell heilen dürfte.«
»Hurra«, meinte ich ironisch, aber dennoch erleichtert. »Morgen hole ich mir vielleicht doch eine kugelsichere Weste.«
Robbie wischte mir eine ganze Menge getrocknetes Blut von der Haut, wozu er ein angefeuchtetes Küchenhandtuch von Dorothea benutzte, und half mir dann in mein besterhaltenes Kleidungsstück, die relativ unbeschädigte Windjacke.
»Sie sehen so gut wie neu aus«, versicherte er mir, als er die Enden des Reißverschlusses ineinandersteckte und ihn zuzog.
»Der Häuptling wird nichts merken«, stimmte O’Hara zu. »Fühlen Sie sich in der Lage, mit ihm zu reden?«
Ich nickte. Es war notwendig, mit ihm zu reden. Notwendig, ihn davon zu überzeugen, daß das Geld der Firma bei mir in guten Händen war. Notwendig, jeden Verdacht auszuräumen, daß über dem Film ein Fluch lag.
Ich sagte: »Wir müssen auf alle Fälle herausfinden, wer so versessen darauf ist, den Film zu verhindern, daß er -oder sie - dafür bis zum Mord geht. Es wäre zwar möglich, daß uns das Messer heute wie der Dolch von gestern nur Angst einjagen sollte, aber wenn ich die Schutzwesten nicht getragen hätte.«
»Kein Schutz und ein Fingerbreit nach links oder rechts«, nickte Robbie, »dann wären Sie wahrscheinlich abgetreten.«
»Wenn wir also annehmen, daß man mich wirklich ums Leben bringen wollte«, sagte ich, »dann muß ich unbedingt herausfinden, wer und warum. Diskret herausfinden, meine ich, ohne die Polizei einzuschalten. Sonst.«, ich zögerte, fuhr dann fort, ».wenn der Grund für den Anschlag auf mich weiterhin besteht, und davon müssen wir ausgehen, versucht oder versuchen der oder die Täter es vielleicht noch einmal.«
Ich hatte den Eindruck, daß der Gedanke ihnen beiden auch schon gekommen war, daß sie ihn aber, um meinen Seelenfrieden zu bewahren, nicht laut hatten aussprechen wollen.
»Für einen Film zu sterben, lohnt sich nicht«, sagte O’Hara.
»Der Film hat Dreck aufgewühlt, der seit sechsundzwanzig Jahren ruht«, sagte ich. »Darum geht es, und es nützt gar nichts, wenn uns das leid tut. Wir haben jetzt die Möglichkeit, entweder den Film hinzuschmeißen und den ungeordneten Rückzug anzutreten - und wieviel Zukunft hätte ich dann noch? -, oder, ehm. wir sieben den Dreck und gehen der Sache auf den Grund.«
»Aber«, sagte Robbie zweifelnd, »ist das überhaupt zu schaffen? Ich meine, als das Ganze damals passiert ist, als es noch frisch war, ist die Polizei ja zu keinem Ergebnis gekommen.«
»Polizisten sind normale Sterbliche«, sagte ich. »Keine unfehlbaren Supermenschen. Wenn wir’s versuchen und auch zu nichts kommen, dann sei es drum.« »Aber wo fangen wir an?«
»Wie ich schon sagte, wir brauchen jemanden, der sich mit Messern auskennt.«
Es war dunkel geworden, während wir uns unterhielten. Als Robbie zum Lichtschalter ging, hörten wir, wie die Haustür sich öffnete und schloß und schwere Schritte über den Flur auf uns zukamen.
Paul erschien im Kücheneingang: ein verärgerter, ein argwöhnischer Paul, dessen Augen sich mit wütendem Erstaunen auf mein Gesicht richteten. Die Unsicherheit unseres letzten Zusammentreffens war verschwunden. Die großen Töne waren wieder da.
»Was haben Sie denn hier zu suchen?« fragte er. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen wegbleiben, Sie sind hier nicht erwünscht.«
»Ich habe Dorothea versprochen, ein wenig aufzuräumen.«
»Ich bringe das Haus in Ordnung. Ich will Sie hier nicht haben. Und was Sie betrifft, Dr. Gill, Ihre Dienste werden nicht benötigt. Raus hier, alle miteinander.«
Es war O’Haras erste Begegnung mit Paul Pannier; immer eine lehrreiche Erfahrung.
»Wo haben Sie überhaupt den Schlüssel her?« fragte er gekränkt. »Oder sind Sie eingebrochen?«
Er sah O’Hara zum erstenmal direkt an und fragte: »Wer zum Teufel sind Sie denn? Ich will, daß Sie alle hier sofort verschwinden.«
Ich sagte mit unbeteiligter Stimme: »Das Haus gehört Ihrer Mutter, und ich bin mit ihrer Erlaubnis hier.«
Paul hörte nicht zu. Sein Blick war auf den Tisch gefallen, und er starrte auf das Messer.
Es war kaum Blut daran, da es beim Herausziehen durch die verschiedenen Lagen von Polystyrol und Stoff abgewischt worden war; nein, offenbar war es das Messer selbst, nicht seine Verwendung, was Paul vorübergehend die Sprache verschlug.
Er hob den Blick, um mir ins Gesicht zu schauen, und sein Schock war nicht zu übersehen. Seine Augen waren so dunkel, wie sein dickliches Gesicht blaß war. Sein Mund stand offen. Er sagte kein einziges Wort, sondern machte auf dem Absatz kehrt und stampfte aus der Küche, durch den Flur und zur Haustür hinaus, ohne sie hinter sich zu schließen.
»Wer war denn das?« fragte O’Hara. »Und was war mit ihm?«
»Seine Mutter«, erklärte Robbie, »ist vorigen Samstag hier mit einem Messer übel zugerichtet worden. Vielleicht denkt er, wir haben irgendwie die Waffe gefunden.«
»Und, haben Sie?«
O’Hara wandte sich an mich. »Was wollten Sie mir gestern noch erzählen? Das ist aber doch nicht das Messer, das Sie auf der Heide gefunden haben, oder?«
»Nein.«
Er runzelte die Stirn. »Ich verstehe überhaupt nichts mehr.«
Da ging es ihm wie mir; aber irgendwo mußte es eine Erklärung geben. Nichts geschah ohne Grund.
Ich fragte Robbie Gill, während er seine Sachen in die Tasche räumte: »Kennen Sie einen Bill Robinson, der Motorräder repariert?«
»Geht’s Ihnen auch bestimmt gut?«
»Nicht hundertprozentig. Kennen Sie ihn?«
»Bill Robinson, Motorradmechaniker? Nein.«
»Aber Sie kennen die Stadt. Wer wüßte so was?« »Ist Ihnen das wichtig?«
»Er könnte im Besitz dessen sein«, erklärte ich kurz, »weshalb man die Laube hier so auf den Kopf gestellt hat.«
»Und das ist alles, was Sie mir sagen wollen?«
Ich nickte.
Robbie griff sich das Telefon, schaute in ein Notizbuch und wählte eine Nummer. Er wurde Zug um Zug an vier weitere Nummern verwiesen, aber endlich schob er den Apparat befriedigt weg und teilte mir mit: »Bill Robinson arbeitet in Wrigley’s Werkstatt und wohnt irgendwo in der Exning Road. In seiner Freizeit bastelt er an Harley Davidsons herum.«
»Großartig«, sagte ich.
»Aber«, wandte O’Hara ein, »was hat das alles mit unserem Film zu tun?«
»Messer«, sagte ich. »Und Valentine Clark hat Jackson Wells gekannt.«
»Viel Glück beim Sieben«, meinte Robbie.
Der Häuptling erwies sich als ein verbiesterter Geschäftsmann in den Vierzigern, der noch nicht einmal einen Blick auf die sich mehrenden Rollen kopierten Films werfen wollte. Er hielt nichts von Spielfilmen, sagte er. Noch weniger von Filmschauspielern. Seiner Meinung nach gehörten Regisseure finanziell an die Kette, gelegt. Spekulationskapital mit voll gedecktem Risiko sei sein Fach, sagte er.
Das falsche Fach, dachte ich.
Er hatte im voraus eine Abrechnung über jeden vom ersten Drehtag an ausgegebenen oder verplanten Cent angefordert, so daß O’Haras Produktionsabteilung den ganzen Tag damit verbrachte, die Kosten für beispielsweise Le-bensmittel, Transport, Stallangestelltengehälter, Lippenstifte und Glühlampen einzeln aufzuführen.
Wir saßen an dem Eßtisch in O’Haras Suite, nachdem ich in meiner vorbeigeschaut hatte, um die Windjacke gegen Hemd und Pullover einzutauschen. Robbie hatte nur ein Pflaster auf die versorgte Wunde geklebt. Mir war immer noch etwas schwummrig, aber anscheinend merkte man es mir nicht an. Ich konzentrierte mich darauf, Ziggys Fahrgeld und Spesen für Norwegen zu rechtfertigen, während ich Mineralwasser trank und mich nach Brandy sehnte.
»Wildpferde!« fuhr der Häuptling fast empört O’Hara an. »Sie haben doch wohl nicht zugelassen, daß eigens aus Norwegen Pferde herangeschafft werden. Die stehen nicht im Skript.«
»Sie kommen in der Phantasie der Erhängten vor«, erklärte O’Hara ohne Umschweife. »Ihr Traumleben ist nach Auffassung der Firma das Beste an der Handlung und muß filmisch umgesetzt werden. Fjordpferde sind werbewirksam und werden mehr Geld hereinbringen, als sie kosten.«
O’Haras Argument brachte den Häuptling zum Schweigen; er blickte zwar finster, schien aber einzusehen, daß sein Klasseproduzent ihm davonlaufen könnte, wenn er sich allzusehr gegen ihn stellte, und daß er damit die ganze Investition gefährdete. Jedenfalls rückte er von seiner aggressiven Haltung ab und genehmigte, fast ohne eine Miene zu verziehen, den Bonus für den siegreichen Jockey.
Nach Prüfung der Bücher wollte er über Howard sprechen.
Ich wollte nicht.
O’Hara auch nicht.
Da Howard glücklicherweise nicht im Hotel war, fiel das Gespräch flach. Ich empfahl mich mit Hinweis auf die allabendliche Besprechung mit Moncrieff, und der Häuptling sagte zum Abschied, es werde hoffentlich keine weiteren »Zwischenfälle« mehr geben, und kündigte an, er wolle am nächsten Morgen bei den Dreharbeiten zuschauen.
»Gern«, sagte O’Hara leichthin und kniff kaum die Augen zusammen. »Auf dem Programm stehen Dialoge und Nahaufnahmen und noch einige Gesamtaufnahmen von ein und ausgehenden Leuten am Waageraum auf der Rennbahn von Huntingdon. Allerdings keine Massenszenen, die sind schon im Kasten. Keine Jockeys, die sind auch durch. Die Pferde werden morgen nachmittag wieder hierhergebracht. Dank des guten Wetters und des guten Managements von Thomas werden wir mit den Rennbahnszenen einen Tag früher fertig.«
Der Häuptling sah aus, als hätte er auf eine Wespe gebissen. Im Hinausgehen überlegte ich, ob er sich eigentlich auch freuen konnte.
Die Sitzung mit Moncrieff erweiterte sich um Nash und Silva, die hinzukamen, um ihre Proben im kleinen Kreis fortzusetzen. Nash hatte sein Skript dabei. Silva war ungeschminkt und wirkte sehr feministisch. Ich fragte mich, wie sie und O’Hara wohl im Bett waren, eine Überlegung, die mich in der Arbeit kein bißchen voranbrachte, der aber nicht abzuhelfen war.
Wir gingen die Szenen durch. Moncrieff und Nash besprachen das Licht. Silva schob ihre göttliche Kinnlade vor, und zu ihrem Vergnügen schätzte Moncrieff ihre Gesichtsknochen im Hinblick auf Flächen und Schatten ab.
Ich trank hingebungsvoll Brandy mit Schmerztabletten: medizinisch vielleicht eine ungute Kombination, die aber jede Trübsal wegblies. Als die Gesellschaft sich auflöste, ging ich ins Bett und blieb halb sitzend noch viele Stunden wach, dachte mit pochenden Schläfen nach und nahm mir vor, mich in nächster Zeit konsequent mit dem Rücken zur Wand zu stellen.
O’Hara weckte mich aus einem unruhigen Schlaf, indem er um halb acht anrief. Höchste Zeit.
»Wie geht’s Ihnen?« fragte er.
»Miserabel.«
»Es regnet.«
»So?«
Ich gähnte. »Na fein.«
»Moncrieff hat den Wetterdienst angerufen. Heute nachmittag soll es trocken sein. Wir können uns heute morgen also erst mal die Huntingdonmuster ansehen, wenn der Wagen aus London kommt.«
»Ja. ich dachte, das sei dem Häuptling zuviel Mühe.«
»Der fährt zurück nach London. Er hat keine Lust, bis heute nachmittag auf Huntingdon zu warten. Er hat mir gesagt, daß mit dem Film ja jetzt alles glattzugehen scheint und daß er das so auch weitergibt.«
»Uff.«
O’Hara lachte leise. »Er fand Sie professionell. Das ist sein höchstes Lob. Er sagt, ich kann nach L. A. zurück.«
»Oh.«
Ich staunte, wie bestürzt ich war. »Und fliegen Sie?«
»Es ist Ihr Film«, sagte er.
Ich sagte: »Bleiben Sie.«
Nach einer Pause meinte er: »Wenn ich fliege, zeigt das, daß Sie alles im Griff haben.«
Neuerliche Pause. »Denken Sie drüber nach. Wir machen das nach den Mustern ab. Die sehen wir um elf, im Vorführraum. Sind Sie fit genug dafür?« »Ja.«
»Wäre ich mal bestimmt nicht«, sagte er und legte auf.
Bis neun hatte ich mich gegen das große britische Frühstück entschieden und Wrigley’s Werkstatt auf einem Stadtplan geortet. Um Viertel nach neun fand mein Fahrer sie in voller Lebensgröße. Die Zapfsäulen waren überdacht: Schutz vor Regen.
Bill Robinson hatte lange Haare, zwei, drei Pickel, einen starken East-Anglia-Akzent, eine mit goldenen Knöpfen besetzte, kurze schwarze Lederjacke und um die Hüfte einen Gürtel mit schweren Werkzeugen. Er nahm zur Kenntnis, daß ich mit Chauffeur kam, und schaltete auf schuldigen Respekt.
»Was kann ich für Sie tun?« fragte er kaugummikauend.
Ich grinste. »Mrs. Dorothea Pannier hält große Stücke auf Sie.«
»Ja?«
Er hob erfreut den Kopf und nickte. »Selber auch nicht übel, das alte Mädchen.«
»Wußten Sie, daß sie im Krankenhaus ist?«
Seine gute Laune verschwand. »Hab gehört, daß irgendein Schwein sie mit dem Messer schlimm zugerichtet hat.«
»Ich bin Thomas Lyon«, sagte ich. »Sie hat mir Ihren Namen genannt.«
»So?«
Er war vorsichtig. »Kommen Sie auch nicht von ihrem Sohn? Ein echter Scheißkerl, der Sohn.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ihr Bruder Valentine hat mir testamentarisch seine Bücher vermacht. Sie sagte mir, daß sie sie Ihnen anvertraut hat.«
»Ich soll sie keinem geben, hat sie gesagt.«
Er trat entschlossen und direkt auf. Ich hatte das Gefühl, es wäre sehr unklug, ihm Geld anzubieten, und in der heutigen Zeit verlieh ihm das schon etwas Heiligmäßiges.
»Wie wär’s«, sagte ich, »wenn wir sie ans Telefon holten?«
Da er daran nichts auszusetzen fand, rief ich über Funk das Krankenhaus an und erreichte nach vielem Klicken und Warten Dorothea selbst.
Sie unterhielt sich mit Bill Robinson in seiner schweren metallbeschlagenen Lederkluft, und Bill Robinsons Gesicht strahlte vor Liebenswürdigkeit und Freude. Doch noch Hoffnung für die alte Welt.
»Sie sagt«, verkündete er, als er mir den Hörer zurückgab, »daß Sie ein unwahrscheinlich toller Mensch sind und daß die Bücher Ihnen gehören.«
»Prima.«
»Aber sie sind nicht hier«, sagte er. »Sie sind bei mir in der Garage.«
»Wann könnte ich sie abholen?«
»Ich kann in der Mittagspause heimfahren.«
Er blickte kurz zu einem glitzernden Ungetüm von einem Motorrad hinüber, das diebstahlsicher angekettet war. »Tu ich sonst nicht, aber ausnahmsweise.«
Ich schlug vor, ihn sofort für eine Stunde von seinem Chef freizukaufen, statt auf die Mittagspause zu warten.
»Mann«, sagte er, schwer beeindruckt; aber sein Chef, ein Realist, nahm den Vorschlag und das Geld bereitwillig an, und Bill Robinson ließ sich mit sichtlichem Vergnügen in meinem Wagen nach Hause fahren.
»Woher kennen Sie Dorothea?« fragte ich unterwegs.
»Meine Freundin wohnt im Haus neben ihr«, erklärte er einfach. »Wir nehmen der Guten manchmal Gänge ab.
Helfen ihr beim Einkaufen und so. Sie gibt uns dafür Süßigkeiten, als ob wir Kinder wären.«
»Ehm«, sagte ich, »wie alt sind Sie denn?«
»Achtzehn. Wie fanden Sie meine Maschine?«
»Ich beneide Sie drum.«
Sein Lächeln war selbstzufrieden, aber das ging in Ordnung. Als wir bei ihm zu Hause ankamen (»Ma ist auf der Arbeit, der Schlüssel liegt da in dem Ding, das wie ein Stein aussieht«), sperrte er ein Vorhängeschloß an dem massiven Tor einer Backsteingarage auf und enthüllte seine wahre Berufung, die Pflege und den Bau von Motorrädern.
»Ich kaufe kaputte Maschinen und richte sie wieder her«, erklärte er, während ich in der Garage stand und auf Räder, Lenkstangen, verdrehte Röhren, blitzende Wrackteile schaute. »Ich mache sie wieder so gut wie neu, und dann verkaufe ich sie.«
»Allerhand«, sagte ich abwesend. »Wollen Sie in einem Film mitspielen?«
»Bitte was?«
Ich erklärte ihm, daß ich immer auf der Suche nach interessanten Kulissen sei. Ob er sich vorstellen könne, mit ein paar Motorradteilen aus der Garage draußen auf seiner Zufahrt zu arbeiten, während wir Nash Rourke filmten, wie er nachdenklich die Straße entlangging? »Kein Dialog«, sagte ich, »nur Nash, wie er vorbeischlendert und ein paar Sekunden stehenbleibt, um sich die laufende Arbeit anzusehen. Die Figur, die er spielt, läuft durch Newmarket und versucht sich über etwas klarzuwerden.«
Dazu gehöre eben auch Lokalkolorit, sagte ich.
»Nash Rourke! Sie wollen mich verkohlen.«
»Nein. Sie werden ihn kennenlernen.«
»Mrs. Pannier hat gesagt, daß Sie der sind, der den Film dreht, über den alles redet. Stand im Drumbeat.«
»Der kleine Tyrann? Ja, der bin ich.«
Er lächelte breit. »Ihre Bücher sind in den Kisten da.«
Er wies auf eine lange Reihe bunt gestapelter Kartons, die einmal Fernseher, Büroelektronik, Mikrowellenherde und Backhauben enthalten hatten. »Eine Tonne Papier, möchte ich meinen. Den ganzen Samstagmorgen hab ich sie verpackt und hierhergebracht, aber bei der guten Mrs. Pannier lohnt sich die Mühe.«
Es war eher ein Lob als ein Wink, doch ich sagte, bei mir würde sie sich ebenfalls lohnen, zumal wenn er mir sagen könne, was in welchem Karton sei.
Beim besten Willen nicht, meinte er vergnügt. Warum ich nicht nachschaute?
Dazu fehle mir die Zeit, sagte ich, und vor allem auch die Energie. Ich sagte, ich könne die Kartons nicht heben, denn ich hätte mir die Schulter verrenkt, und bat ihn, mir so viele wie möglich in den Kofferraum zu packen. Er sah resigniert auf den Regen, platschte dann aber zügig hin und her, bis auch mein zunächst abwartender Fahrer sich die Jacke zuknöpfte, den Kragen hochstellte und tragen half.
Der Wagen einschließlich des Beifahrersitzes faßte die Hälfte der Kartons. Ich fragte Bill, womit er sie am Samstag transportiert habe.
»Mein Pa hat einen alten Kleinlaster«, sagte er. »Damit waren’s drei Touren. Werktags fährt er damit auf die Arbeit, vor heute abend kriege ich ihn also nicht.«
Er erklärte sich bereit, die übrigen Kisten mit dem Kleinlaster nachzuliefern, und kam gutgelaunt mit zum Hotel, um gemeinsam mit dem Portier dort die Kartons in der Halle zu stapeln.
«Wollen Sie mich wirklich in Ihren Film reinnehmen?« fragte er auf dem Rückweg zu Wrigley’s Werkstatt. »Und. wann?«
»Vielleicht morgen«, sagte ich. »Ich gebe Ihnen noch Bescheid. Ich mache das mit Ihrem Chef ab, und von der Filmgesellschaft bekommen Sie für Ihre Mitarbeit ein Honorar.«
»Mann«, sagte er.
Nash, Silva und Moncrieff schauten sich zusammen mit O’Hara und mir die Muster von Huntingdon an.
Auch ohne viel Ton sahen die Massenszenen nach einem normalen Renntag aus, und das Rennen selbst bestach immer noch durch die viktoriakreuzreife Leistung der Jok-keys. Das Rennen war von fünf Kameras gut und von einer halbwegs gut eingefangen worden. Das Material reichte allemal, um einen Wettkampf zusammenzuschneiden, der auch Leuten, die noch nie ein Jagdrennen von nahem gesehen hatten, Herzklopfen bereiten würde. Sogar Silva hielt bei einer Sequenz die Luft an, und Nash sah nachdenklich aus. Moncrieff regte sich über verquere Schatten auf, die sonst niemand bemerkt hatte.
Die Nahaufnahmen mit Dialog zeigten Silva von ihrer bezauberndsten Seite. Ich lobte ihre Darstellung, nicht ihr Aussehen, und sie quittierte das mit einem kurzen Nicken. Alles in allem waren die zwei Tage Arbeit die Mühe wert gewesen.
An die Muster hatten die Leute vom Kopierwerk Moncrieffs eine dreißig Sekunden lange Aufnahme von Lucys Foto angehängt. Groß und deutlich erschienen die beiden Gesichter auf der Leinwand.
»Wer ist das?« fragte O’Hara verblüfft.
»Das Mädchen links«, sagte ich, »ist Yvonne. Besser gesagt, sie war Sonia Wells, die erhängte junge Frau. Die echte.«
»Himmel«, sagte O’Hara.
»Und wer ist der Mann?« fragte Nash.
»Er heißt, glaube ich, Pig.«
Ich erklärte, daß die Aufnahme Lucy gehörte. »Ich habe ihr versprochen, daß Yvonne Sonia nicht ähnlich sehen wird.«
Das Mädchen auf der Leinwand hatte lockiges hellbraunes Haar, keinen grünen Bürstenschnitt oder sonst etwas Abgehobenes. Wir würden Yvonne eine lange, glatte blonde Perücke aufsetzen und das Beste hoffen.
Die Leinwand wurde hell. Wir schalteten das Licht an, unterhielten uns über das Gesehene und gingen wie stets wieder an die Arbeit.
Später in Huntingdon legte ein Fotograf, den die Firma engagiert hatte, um die Dreharbeiten für die Werbeabteilung zu dokumentieren, O’Hara einen Satz Fotos im Format 20 mal 25 cm vor. Er und ich gingen damit in den Waageraum, setzten uns an einen Tisch und suchten minutenlang die Fotos mit der Lupe ab.
Wir sahen nichts, was uns weitergeholfen hätte. Da waren Fotos von Nash bei der Feierabend-Signierstunde. Ein Schnappschuß von Howard, wie er selbstgefällig sein Buch signierte. Silva als charmanter Filmstar. Greg beim Signieren von Rennprogrammen. Ein Foto von O’Hara und mir, Schulter an Schulter. Die Kamera war jeweils auf das Gesicht der zentralen Person eingestellt, die Leute ringsum waren erkennbar, aber nicht in allen Einzelheiten.
»Wir brauchen Vergrößerungen vom Publikum«, sagte O’Hara.
»Gestochen scharfe Bilder von Fury bringt uns das auch nicht.«
Mürrisch stimmte er zu, bestellte die Vergrößerungen aber trotzdem.
Es tauchten keine Messer mehr auf, weder in noch an irgend jemandem. Wir filmten die noch ausstehenden Szenen und schickten die Pferde auf die Heimreise. Wir überzeugten uns, daß der Platz in bester Ordnung war, dankten dem Rennverein Huntingdon für sein Entgegenkommen und waren kurz nach sechs wieder zurück in Newmarket.
Mein Anrufbeantworter blinkte unerbittlich im Salon: Konnte er überhaupt anders?
Robbie Gill wollte mich dringend sprechen.
Ich bekam seinen Auftragsdienst: Ab sieben sei er wieder zu erreichen.
Um die Zeit auszufüllen, öffnete ich ein paar von den Kartons mit Valentines Büchern, die jetzt einen ganzen Teil der Fußbodenfläche einnahmen, da ich extra angeordnet hatte, sie sollten nicht übereinandergestellt werden. Dabei hatte ich natürlich übersehen, daß auch beim Bük-ken die Brustmuskulatur beansprucht wird. So begann ich auf den Knien, mein Erbe zu inspizieren.
Es war zuviel. Nach den ersten drei Kisten, die einen Teil der gesammelten Biographien und Rennsportchroniken enthielten, die ich gewissenhaft Band für Band herausgenommen, nach eingelegten Papieren durchforstet und wieder zurückgestellt hatte, wurde mir klar, daß ich eine Bürokraft brauchte, einen Archivgehilfen mit einem Laptop-Computer.
Lucy, dachte ich. Wäre es ein Tagtraum, würde ich sie mir in die gute Stube zaubern wie Yvonne ihre Traumliebhaber. Lucy konnte mit einem Computer umgehen.
Spontan rief ich bei ihrem Vater zu Hause an und machte der Tochter ein Angebot.
»Sie sagten mir doch, daß Sie die Schule hinter sich haben und auf einen Handelskursus warten. Hätten Sie Lust auf eine zweiwöchige Übergangsbeschäftigung in New-market?«
Ich erklärte, um was es mir ging. »Ich will Sie nicht verführen«, sagte ich. »Sie können einen Anstandswauwau mitbringen, Sie können wohnen, wo Sie wollen, oder auch jeden Tag heim nach Oxfordshire fahren, wenn Ihnen das lieber ist. Ich bezahle Sie angemessen. Wenn Sie nicht wollen, suche ich mir jemanden von hier.«
Sie sagte ein wenig atemlos: »Würde ich Nash Rourke noch mal sehen?«
Schief lächelnd versprach ich es ihr. »Jeden Tag.«
»Er ist. er ist.«
»Ja«, räumte ich ein, »und er ist verheiratet.«
»Na und«, sagte sie empört. »Er ist einfach. nett.«
»Stimmt. Und der Job jetzt?«
»Ich könnte morgen anfangen.«
So lange konnten die Kisten warten, dachte ich.
Um sieben rief ich wieder bei Robbie Gill an und erreichte ihn sofort.
»Was möchten Sie zuerst hören?« fragte er, »die gute oder die Schreckensnachricht?«
»Die gute. Ich bin müde.«
»Das überrascht mich nicht. Die gute Nachricht ist eine Liste mit Namen von Messerexperten. Drei in London, zwei in Glasgow, vier in Sheffield und einer in Cambridge.« Er las sie alle vor und raubte mir das bißchen Atem, das noch über meine gebrochene Rippe ging.
Ich sagte schwach: »Bitte noch mal den aus Cambridge.« Er wiederholte den Namen deutlich: »Professor Meredit Derry, ehemals Dozent für mittelalterliche Geschichte am Trinity College; jetzt im Ruhestand.«
Derry.
Messer...
»Möchten Sie die Schreckensnachricht hören?« fragte Robbie.
»Muß ich?«
»Leider ja. Paul Pannier ist ermordet worden.«