Kapitel 6 Liebe

Stanchion geleitete mich auf die Bühne und holte einen Stuhl für mich herbei. Dann trat er an die Rampe, um mit dem Publikum zu plaudern. Ich hängte meinen Umhang über die Rückenlehne des Stuhls, und derweil wurde das Licht im Saal gedämpft.

Meinen ramponierten Lautenkasten legte ich auf den Boden. Er war sogar noch schäbiger als ich selbst. Einst war er ganz ansehnlich gewesen, doch das lag jetzt schon viele Jahre und viele Meilen zurück. Die Lederscharniere waren mittlerweile rissig und steif und der Kasten selbst an einigen Stellen so abgenutzt, dass sie fast schon löchrig waren. Von den Originalverschlüssen war nur noch ein einziger übrig, ein zartes Ding aus Silber. Die anderen hatte ich mit welchen ersetzt, die sich gerade so auftreiben ließen, und so kam es, dass der Kasten nun ganz unterschiedlich aussehende Verschlüsse aus glänzendem Messing und stumpfem Eisen besaß.

Im Kasten jedoch sah es ganz anders aus. Dort befand sich der Grund dafür, dass mein Geld nicht für die Studiengebühren reichte. Ich hatte erbittert darum gefeilscht, und dennoch hatte es mich mehr Geld gekostet, als ich je zuvor in meinem Leben für etwas ausgegeben hatte. So viel Geld, dass ich mir dazu keinen passenden Kasten mehr leisten konnte und mich damit behelfen musste, meinen alten Lautenkasten mit Lumpen auszupolstern.

Das Holz hatte die Farbe von dunklen Kaffeebohnen. Die Rundung des Korpus war so perfekt wie ein Frauenpo. Sie war gedämpfter Widerhall und helles Zupfen und Klingen: Meine Laute. Meine greifbare Seele.

Ich habe gehört, was Dichter über Frauen geschrieben haben. Sie

Glaubt mir: Diese Männer wussten nicht, was Liebe ist.

Liebe findet man nicht in den Worten der Dichter oder den sehnsuchtsvollen Blicken der Matrosen. Wenn ihr wissen wollt, was Liebe ist, dann seht euch die Hände eines fahrenden Musikers an, während er musiziert. Ein fahrender Musiker weiß, was Liebe ist.

Ich sah ins Auditorium, wo allmählich Stille einkehrte. Simmon winkte mir begeistert zu, und ich lächelte zurück. Nun erblickte ich oben auf dem zweiten Rang Graf Threpes weißen Haarschopf. Er sprach mit einem gut gekleideten Paar und wies dabei in meine Richtung. Immer noch setzte er sich für mich ein, obwohl wir beide wussten, dass es aussichtslos war.

Ich hob die Laute aus dem schäbigen Kasten und begann sie zu stimmen. Es war nicht die beste Laute im EOLIAN. Bei weitem nicht. Der Hals war ein klein wenig verzogen, und einer der Wirbel saß nicht ganz fest.

Ich griff einen Akkord und neigte mein Ohr zu den Saiten hin. Als ich wieder hochblickte, sah ich Dennas Gesicht, so klar und deutlich wie den Mond am Himmel. Sie lächelte mir aufgeregt zu und winkte sogar unter dem Tisch, so dass ihr Edelmann es nicht sehen konnte.

Ich berührte behutsam den ein wenig losen Wirbel und fuhr dann mit beiden Händen über das warme Holz der Laute. Der Lack war an einigen Stellen angekratzt und abgewetzt. Sie war früher nicht immer gut behandelt worden, doch das machte sie nicht weniger liebenswert.

Also ja: Sie hatte ihre Macken. Aber was macht das schon, wenn es um Herzensdinge geht? Wir lieben, was wir lieben. Vernunft hat damit nichts zu tun. Die törichte Liebe ist in vieler Hinsicht die einzig wahre Liebe. Etwas aus Gründen zu lieben: Das kann jeder. Das ist so einfach wie einen Penny einzustecken. Doch etwas trotzdem zu lieben, die Fehler zu kennen und auch sie zu lieben: Das ist selten, rein und vollkommen.

Ich zupfte zwei Töne und spürte, wie sich das Publikum zu mir vorbeugte. Eine Saite stimmte ich noch ein klein wenig nach und begann dann zu spielen. Und noch bevor eine Hand voll Töne erklungen waren, hatten alle das Lied erkannt.

Es war Leithammel. Ein Lied, das Hirten seit zehntausend Jahren pfiffen. Eine der allereinfachsten Melodien. Ein Lied, das sich jeder merken kann, wirklich jeder.

Es war, schlicht gesagt, Volksmusik.

Zur Melodie von Leithammel waren schon hunderte Lieder geschrieben worden. Liebes- und Kriegslieder, Lieder voller Humor, Tragik oder Sinnenlust. Ich jedoch hielt mich mit keinem davon auf. Ohne Worte. Nur die Musik. Nur die Melodie.

Ich blickte hoch und sah, wie sich Lord Kantkiefer zu Denna hinüberbeugte und eine abschätzige Geste machte. Ich lächelte, während ich weiter den Saiten meiner Laute dieses Lied entlockte.

Doch nur allzu bald bekam mein Lächeln etwas Gezwungenes. Schweißperlen traten mir auf die Stirn. Ich beugte mich über die Laute und konzentrierte mich darauf, was meine Hände taten. Meine Finger huschten, tanzten, flogen.

Ich spielte so hart wie ein Hagelschauer, wie ein auf Messing einschlagender Hammer. Ich spielte so sanft wie der Sonnenschein auf einem wogenden Weizenfeld, so zart wie ein trudelndes Blatt. Bald schon begann mir von der Anstrengung der Atem zu stocken, und ich kniff die Lippen zu einem blutleeren Strich zusammen.

Als ich mich durch den mittleren Refrain kämpfte, schüttelte ich den Kopf, um die Haare aus den Augen zu bekommen. Schweißperlen flogen in hohem Bogen und prasselten auf die Bühne hernieder. Ich atmete schwer, meine Brust pumpte wie ein Blasebalg.

Das Lied erklang weiter, jeder einzelne Ton kristallklar. An einer Stelle hätte ich mich fast verhaspelt. Der Rhythmus wäre um ein Haar ins Stocken geraten … Doch dann fing ich mich irgendwie wieder und kämpfte mich hindurch und schaffte es bis zum Schluss und zupfte die Töne ganz leicht und zart, obschon meine Finger hundemüde und nur noch verschwommen zu erkennen waren.

Das Publikum brach in einen Beifallssturm aus.

Doch nicht das ganze Publikum. Über den Saal verstreut brachen einige Dutzend Leute stattdessen in Gelächter aus, einige schlugen sogar vor Belustigung mit den Händen auf die Tische oder trampelten auf den Boden.

Der Beifall geriet fast sofort ins Stocken und erstarb. Männer wie Frauen hielten mitten im Applaus inne und starrten die Lachenden an. Manche wirkten verärgert, andere verwirrt. Viele waren einfach gekränkt um meinetwillen, und wütendes Gemurmel begann sich im Saal zu erheben.

Doch bevor ernsthafter Zank ausbrechen konnte, spielte ich einen einzelnen hohen Ton und hob eine Hand, wodurch ich die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf mich lenkte. Ich war noch nicht fertig. Noch nicht einmal halb.

Ich setzte mich wieder richtig hin und ließ die Schultern ein wenig kreisen. Dann spielte ich einen Akkord, berührte kurz den losen Wirbel und begann ganz mühelos mit meinem zweiten Stück.

Es war von Illien: Tintatatornin. Ihr habt vermutlich nie davon gehört. Verglichen mit Illiens anderen Werken ist es eine ziemliche Kuriosität. Zum einen hat es keinen Text. Und zum anderen ist es zwar ein schönes Lied, aber längst nicht so eingängig oder bewegend wie viele seiner bekannteren Melodien.

Vor allem aber ist es unglaublich schwierig zu spielen. Mein Vater nannte es immer »das schönste Lied, das je für fünfzehn Finger geschrieben wurde«. Er ließ es mich spielen, wenn er mich allzu eingebildet fand und mich Demut lehren wollte. Es genügt wohl, wenn ich sage, dass ich es regelmäßig übte, zeitweise mehrmals täglich.

Ich spielte also Tintatatornin. Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück und schlug ganz entspannt die Füße übereinander. Meine Finger schlenderten über die Saiten. Nach dem ersten Refrain atmete ich tief ein und seufzte, wie ein kleiner Junge, der an einem sonnigen Tag

Während ich weiterspielte, rutschte ich auf dem Stuhl hin und her und suchte nach einer bequemeren Sitzposition, aber vergebens. Ich runzelte die Stirn, stand auf und sah den Stuhl an, als wäre er irgendwie schuld daran. Dann ließ ich mich wieder darauf nieder, einen unbehaglichen Ausdruck auf dem Gesicht.

Und die ganze Zeit tanzten und tollten die zehntausend Töne von Tintatatornin. Zwischen zwei Akkorden nahm ich mir sogar die Zeit, mich gedankenverloren hinterm Ohr zu kratzen.

Ich war so in mein Kabinettstückchen vertieft, dass ich tatsächlich ein Gähnen in mir aufsteigen spürte. Ich ließ es raus und gähnte so herzhaft, dass die Leute in der ersten Reihe meine Zähne hätten zählen können. Ich schüttelte den Kopf, wie um ihn wieder klar zu bekommen, und tupfte mir mit dem Ärmel die tränenden Augen ab.

Und die ganze Zeit erklang Tintatatornin: Irrsinnig verzwickte Harmonien und Kontrapunkte, fehlerfrei vorgetragen. Und in meinen Händen erschien das alles so leicht wie ein Atemzug. Als ich schließlich am Ende angelangt war und im Finale noch ganz nebenbei ein Dutzend musikalische Fäden miteinander verknüpft hatte, machte ich keine große Geste. Ich hörte einfach auf zu spielen und rieb mir ein wenig die Augen. Kein Crescendo, keine Verbeugung, nichts. Ich ließ einfach nur die Finger knacken, beugte mich vor und legte meine Laute in ihren Kasten zurück.

Diesmal erklang das Gelächter zuerst. Die selben Leute wie zuvor, und nun johlten sie und schlugen noch lauter auf die Tische. Es waren meine Kollegen, die Musiker. Ich legte den gelangweilten Gesichtsausdruck ab und grinste ihnen mit wissender Miene zu.

Der Beifall folgte ein paar Herzschläge später, war aber vereinzelt und verwirrt. Noch bevor das Licht im Saal wieder anging, hatte er sich in Dutzende leise Diskussionen aufgelöst.

Marie eilte herbei, als ich die Bühnentreppe herabkam. Sie lachte, schüttelte mir die Hand und klopfte mir auf den Rücken. Sie war die Erste von vielen, und alle waren es Musiker. Bevor ich in diesem Pulk stecken bleiben konnte, hakte sich Marie bei mir unter und brachte mich an meinen Tisch zurück.

»Das ist nicht mal halb so viel Aufmerksamkeit, wie er normalerweise kriegt«, sagte Wilem. »Normalerweise jubeln sie immer noch, wenn er schon wieder an seinem Tisch angelangt ist. Scharen junger Frauen zwinkern ihm zu und streuen ihm Blumen auf den Weg.«

Sim sah sich neugierig im Saal um. »Diese Reaktion erschien mir aber doch … durchwachsen. Woran liegt das?«

»Es liegt daran, dass unser junger Sechssaitiger hier cleverer ist, als ihm guttut«, sagte Stanchion, der an unseren Tisch gekommen war.

»Habt Ihr das auch schon bemerkt?«, sagte Manet.

»Pscht«, sagte Marie. »Es war brillant.«

Stanchion seufzte und schüttelte den Kopf.

»Ich für meinen Teil«, sagte Wilem, »wüsste gern, worüber hier überhaupt gesprochen wird.«

»Kvothe hat das einfachste Lied der Welt gespielt und es so aussehen lassen, als würde er Flachs zu Gold spinnen«, sagte Marie. »Und anschließend hat er ein überaus schwieriges Stück gespielt, das nur eine Hand voll Leute hier im Saal überhaupt meistern könnten, und hat es so leicht aussehen lassen, als könnte das auch ein kleines Kind auf einer Blechflöte hinbekommen.«

»Ich will gar nicht bestreiten, dass das clever gemacht war«, sagte Stanchion. »Das Problem ist die Art und Weise. Alle, die nach dem ersten Lied aufgesprungen sind und applaudiert haben, kommen sich jetzt wie Idioten vor. Sie kommen sich vor, als hätte man einen Scherz mit ihnen getrieben.«

»So ist es ja auch«, sagte Marie. »Aber ein Künstler manipuliert stets sein Publikum – auf die eine oder andere Weise.«

»Die Leute mögen es aber nicht, wenn Scherze mit ihnen getrieben werden«, erwiderte Stanchion. »Ja, sie können es nicht ausstehen.«

Nun meldete sich Manet zu Wort. »Es geht also darum, dass das Publikum zweigeteilt ist«, sagte er. »Der eine Teil versteht genug von Musik, um den Scherz zu verstehen, und dem anderen Teil müsste man den Scherz erst mal erklären.«

»Bloß dass die meisten dieser Leute zur Oberschicht gehören«, sagte Stanchion, »und unser Schlauberger hier immer noch keinen Schirmherrn hat.«

»Wie bitte?«, sagte Marie. »Threpe hat das doch schon vor Monaten kundgetan. Wieso hat dich denn immer noch niemand unter seine Fittiche genommen?«

»Wegen Ambrose Jakis«, erklärte ich.

Der Name schien ihr nichts zu sagen. »Ist das ein Musiker?«

»Der Sohn eines Barons«, sagte Wilem.

Sie runzelte die Stirn. »Und wieso kann der verhindern, dass du einen Schirmherrn bekommst?«

»Er hat viel Zeit zur Verfügung und alles Geld der Welt«, erwiderte ich.

»Sein Vater ist einer der mächtigsten Männer von Vintas«, fügte Manet hinzu und wandte sich dann an Simmon. »Wo steht er noch mal in der Thronfolge? Platz sechzehn?«

»Dreizehn«, erwiderte Simmon mürrisch. »Die Familie Surthen ist doch vor zwei Monaten auf See ums Leben gekommen. Ambrose redet ständig davon, dass sein Vater nun kaum mehr als ein Dutzend Schritte vom Königsthron entfernt ist.«

Manet wandte sich an Marie. »Kurz gesagt: Dieser Baronssohn hat allerhand Einfluss und scheut sich nicht, ihn auch geltend zu machen.«

»Fairerweise sollte erwähnt werden«, sagte Stanchion, »dass der junge Kvothe nicht unbedingt der glänzendste Gesellschafter des ganzen Commonwealth ist.« Er räusperte sich. »Was sein Auftritt heute Abend wieder einmal gezeigt hat.«

»Ich kann es nicht ausstehen, ›der junge Kvothe‹ genannt zu werden«, bemerkte ich nebenbei zu Sim, der mir darauf einen mitfühlenden Blick schenkte.

»Ich bleibe dabei: Es war brillant«, sagte Marie, wandte sich zu

Ich legte Marie eine Hand auf den Arm. »Er hat recht«, sagte ich. »Es war eine Dummheit.« Unschlüssig zuckte ich die Achseln. »Oder wäre es zumindest gewesen, wenn ich noch die leiseste Hoffnung hätte, jemals einen Schirmherrn für mich gewinnen zu können.« Ich sah Stanchion an. »Aber das habe ich nicht. Wir wissen doch beide, dass Ambrose diesen Brunnen für mich vergiftet hat.«

»Brunnen bleiben aber nicht für alle Ewigkeit vergiftet«, sagte Stanchion.

Ich zuckte die Achseln. »Dann lass es mich mal so sagen: Lieber spiele ich Lieder, die meine Freunde amüsieren, als Leuten entgegenzukommen, die mich nur aufgrund von irgendwelchem Gerede ablehnen.«

Stanchion atmete tief durch. »Na gut …«, sagte er und lächelte ein wenig.

In die nun folgende kurze Gesprächspause hinein räusperte sich Manet vielsagend und schoss Blicke am Tisch hin und her.

Ich verstand den Wink und machte sie miteinander bekannt. »Stanchion, meine Kommilitonen Wil und Sim hast du ja schon kennengelernt. Das ist Manet, ebenfalls Student und auch mein Mentor an der Universität. Und euch darf ich Stanchion vorstellen: Inhaber, Wirt und Herr über die Bühne hier im EOLIAN.«

»Freut mich sehr«, sagte Stanchion und nickte höflich, ehe er sich wieder beflissen im Saal umsah. »Apropos, ich sollte mich mal wieder meinen Geschäften widmen.« Er klopfte mir zum Abschied auf den Rücken. »Und ich werde mal zusehen, ob ich nicht ein paar Wogen glätten kann.«

Ich lächelte ihm dankbar zu und machte dann eine schwungvolle Geste. »Leute, das ist Marie. Wie ihr bereits mit eigenen Ohren feststellen durftet: die beste Geigerin des EOLIAN. Und wie ihr nun mit eigenen Augen seht: die schönste Frau im Umkreis von tausend Meilen. Und wir ihr bald bemerken werdet: die klügste …«

Grinsend verpasste sie mir einen Klaps. »Wenn ich nur halb so klug wäre, wie ich groß bin, würde ich nicht für dich in die Bresche

Ich nickte. »Ich habe ihm gesagt, dass es aussichtslos ist.«

»Das bleibt es auch, wenn du die Leute weiter so vor den Kopf stößt«, sagte sie. »Ich bin wirklich noch nie jemandem begegnet, der ein solches Geschick hat, gegen gesellschaftliche Konventionen zu verstoßen. Wenn du nicht von Natur aus so reizend wärst, hätte dich bestimmt längst jemand erdolcht.«

»Das ist anmaßend«, murmelte ich.

Marie wandte sich an meine Freunde: »Es war mir ein Vergnügen, euch alle kennenzulernen.«

Wil nickte, und Sim lächelte. Manet jedoch erhob sich und streckte ihr in einer fließenden Bewegung eine Hand entgegen. Marie ergriff sie, und Manet schloss herzlich auch noch die andere Hand darum.

»Marie«, sagte er. »Du faszinierst mich. Bestünde irgendwie die Möglichkeit, dass ich dich heute Abend noch auf ein Gläschen einladen und ein bisschen mit dir plaudern dürfte?«

Ich war so verblüfft, dass ich ihn nur anstarrte. Wie die beiden da standen, bildeten sie einen krassen Kontrast. Marie war fast einen Kopf größer als Manet, und ihre Stiefel ließen ihre langen Beine noch länger erscheinen.

Manet hingegen sah aus, wie er immer aussah: grauhaarig und ungepflegt und noch dazu mindestens zehn Jahre älter als Marie.

Marie blinzelte und und neigte den Kopf ein wenig zur Seite, als würde sie es sich überlegen. »Ich bin mit ein paar Freunden hier«, sagte sie. »Es könnte spät werden, bis ich mich von ihnen verabschiede.«

»Das macht mir gar nichts«, erwiderte Manet leichthin. »Ich verzichte gern auf etwas Schlaf. Ich weiß nämlich gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal einer Frau begegnet bin, die ohne zu zögern und klipp und klar sagt, was sie denkt. Solche Frauen findet man heutzutage wirklich nur sehr selten.«

Marie musterte ihn noch einmal.

Manet sah ihr in die Augen und ließ ein Lächeln aufblitzen, das so selbstsicher und reizend wirkte, dass es durchaus bühnenreif war.

Marie erwiderte sein Lächeln, halb belustigt, halb gequält. »Ich bin auf dem zweiten Rang«, sagte sie und wies zur Treppe. »Aber in, sagen wir mal, zwei Stunden wäre ich frei …«

»Äußerst liebenswürdig von dir«, sagte er. »Soll ich zu dir kommen?«

»Ja, das sollst du«, sagte sie und bedachte ihn, ehe sie sich zum Gehen wandte, mit einem nachdenklichen Blick.

Manet nahm wieder Platz und trank einen Schluck.

Simmon sah ebenso baff aus wie wir anderen es waren. »Was war das denn?«, fragte er.

Manet kicherte in seinen Bart hinein, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und hielt sich seinen Krug vor die Brust. »Das«, sagte er in süffisantem Ton, »ist nur eins von den vielen Dingen, von denen ich im Gegensatz zu euch Jungspunden etwas verstehe. Gebt fein acht, hier könnt ihr noch was lernen.«

Wenn Adlige einem Musiker ihre Anerkennung bezeugen wollten, schenkten sie ihm Geld. Als ich im EOLIAN aufzutreten begann, hatte ich einige derartige Geldgeschenke erhalten, und eine Zeit lang hatten sie mir sehr geholfen, meine Studiengebühren aufzubringen und mich allgemein über Wasser zu halten – wenn auch nur gerade mal so. Ambrose hatte jedoch bei seiner Kampagne gegen mich eine solche Hartnäckigkeit an den Tag gelegt, dass es nun schon Monate her war, dass ich irgendetwas bekommen hatte.

Die Musikerkollegen verfügten natürlich nicht über so große Geldmittel wie der Adel. Wenn ihnen ein Auftritt besonders gefallen hatte, luden sie einen zu einem Getränk ein. Das war der eigentliche Grund, weshalb ich an diesem Abend im EOLIAN war.

Manet ging zum Tresen, einen Lappen holen, damit wir unseren Tisch abwischen und weiter Corners spielen konnten. Währenddessen

Und siehe da: Er durfte. Er erhaschte das Augenmerk einer Kellnerin, und jeder von uns bestellte, was er am liebsten mochte, und für Manet orderten wir noch ein Bier.

Wir tranken, spielten Karten und lauschten der Musik. Manet und ich hatten eine Pechsträhne und verloren drei Runden nacheinander. Das verdarb mir ein wenig die gute Laune, aber längst nicht so sehr wie der leise Verdacht, dass Stanchion mit seiner Einschätzung ins Schwarze getroffen hatte.

Ein reicher Schirmherr hätte viele meiner Probleme aus der Welt geschafft. Selbst ein nicht ganz so reicher Schirmherr hätte mir ein wenig finanziellen Spielraum verschafft. Dann hätte ich wenigstens jemanden gehabt, von dem ich mir bei einem Engpass Geld hätte pumpen können, statt gezwungen zu sein, mich mit gefährlichen Leuten einzulassen.

Von derlei Gedanken abgelenkt, spielte ich schlecht, und wir verloren die vierte Partie in Folge.

Manet funkelte mich an, während er die Karten zum Mischen zusammenraffte. »Hier ist schon mal ein kleiner Vorgeschmack auf deine Zulassungsprüfung.« Er hob eine Hand und streckte drei Finger aus. »Sagen wir mal, du hast drei Pik-Karten auf der Hand, und fünf Pik-Karten wurden schon ausgespielt.« Er hob die andere Hand, alle Finger gespreizt. »Wie viele Pik-Karten macht das zusammen?« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Lass dir ruhig Zeit.«

»Er ist immer noch ganz durcheinander, seit er gesehen hat, dass Marie tatsächlich willens ist, mit dir was zu trinken«, bemerkte Wilem trocken. »Uns allen geht es so.«

»Mir nicht«, warf Simmon ein. »Ich wusste immer, was in dir steckt.«

Wir wurden davon unterbrochen, dass Lily, eine der Stamm-Kellnerinnen des EOLIAN, an unseren Tisch kam. »Lily«, sagte Simmon, »wenn ich dich einladen würde, ein Gläschen mit mir zu trinken: Würdest du das in Erwägung ziehen?«

»Ja«, sagte sie leichthin, »aber nicht sehr lange.« Sie legte ihm eine

»Für mich einen Scutten«, sagte Wilem.

»Met«, sagte Simmon und grinste.

»Ich nehme einen Sounten«, sagte ich.

Manet hob eine Augenbraue. »Sounten, hm?«, fragte er und sah mich an. »Dann nehme ich auch einen.« Er schenkte der Kellnerin einen wissenden Blick und nickte in meine Richtung. »Geht natürlich auf seinen Deckel.«

»Echt?«, sagte Lily und zuckte die Achseln. »Kommt sofort.«

»Nachdem du nun alle so mächtig beeindruckt hast, kannst du dir aber auch ein bisschen Vergnügen gönnen, findest du nicht?«, sagte Simmon. »Wie war das noch mit dem Esel …?«

»Zum letzten Mal: Nein«, sagte ich. »Mit Ambrose bin ich fertig. Es kommt nichts dabei heraus, ihn noch weiter gegen mich aufzubringen.«

»Du hast ihm den Arm gebrochen«, sagte Wil. »Noch mehr Aufbringen geht ja wohl auch kaum.«

»Er hatte meine Laute kaputt gemacht«, erwiderte ich. »Jetzt sind wir quitt. Und ich bin bereit zu vergessen und zu verzeihen.«

»Von wegen«, sagte Sim. »Du hast ihm doch ein Pfund ranzige Butter in den Schornstein gekippt. Du hast seinen Sattelgurt gelockert …«

»Halt die Klappe, verdammt noch mal!«, sagte ich und sah mich um. »Das ist schon fast einen Monat her, und außer euch beiden weiß niemand, dass ich das war. Jetzt weiß es auch Manet. Und jeder, der das gerade mit angehört hat.«

Sim wurde rot, und das Gespräch verebbte, bis Lily mit unseren Getränken kam. Wils Scutten wurde in dem traditionellen Steingutkelch serviert, und Sims Met leuchtete goldfarben in einem hohen Glas. Manet und ich bekamen Holzkrüge.

Manet lächelte. »Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal einen Sounten bestellt habe«, sagte er nachdenklich. »Und ich glaube, ich habe noch nie einen für mich selbst bestellt.«

»Und du bist der Einzige sonst, den ich je einen trinken sah«, sagte

Manet sah mich an und hob eine buschige Augenbraue. »Sie wissen nicht Bescheid?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf und trank einen Schluck aus meinem Krug. Ich wusste nicht recht, ob ich mich nun amüsieren oder genieren sollte.

Manet schob seinen Krug Sim hin, und der probierte ein Schlückchen. Er runzelte die Stirn und trank noch einen Schluck. »Wasser?«

Manet nickte. »Das ist ein alter Hurentrick. Man schwatzt sie im Schankraum des Bordells voll und will ihnen zeigen, dass man nicht so ist wie die anderen Männer. Man ist ein kultivierter Mensch. Also lädt man sie zu einem Gläschen ein.«

Er langte über den Tisch und nahm Sim den Krug wieder weg. »Aber sie sind ja bei der Arbeit. Sie wollen nichts trinken. Lieber wollen sie das Geld. Also bestellen sie sich einen ›Sounten‹, einen ›Peveret‹ oder wie auch sonst immer sie es nennen. Du bezahlst die Getränke, der Barmann schenkt ihr insgeheim Wasser aus, und am Ende des Abends teilt sie sich die Zeche mit dem Haus. Wenn sie gut zuhören kann, kann ein Mädchen am Tresen genauso viel verdienen wie im Bett.«

Ich schaltete mich ein: »Also, wir teilen das durch drei: Ein Drittel fürs Haus, ein Drittel für den Barmann und ein Drittel für mich.«

»Dann lässt du dich aber übers Ohr hauen«, sagte Manet. »Der Barmann sollte seinen Anteil vom Haus bekommen.«

»Ich hab dich im ANKER’S noch nie einen Sounten bestellen sehen«, sagte Sim.

»Da muss es Greysdale-Met sein«, sagte Wil. »Das bestellt er ständig.«

»Aber ich hab da auch schon Greysdale bestellt«, wandte Sim ein. »Und das schmeckte wie ’ne Mischung aus Einmachwasser und Pisse. Und außerdem …« Er verstummte.

»Erwies es sich als teurer, als du gedacht hattest?«, fragte Manet und grinste. »Hätte ja wohl auch keinen Sinn, für das, was ein kleines Bier kostet, so einen Aufwand zu treiben, nicht wahr?«

»Und wieso weißt du über so was Bescheid?«, fragte Sim Manet.

Manet kicherte. »Einem alten Hund wie mir kannst du nichts mehr vormachen«, sagte er.

Dann wurde das Licht gedämpft, und wir wandten uns der Bühne zu.

Von da an zerfaserte der Abend zusehends. Manet brach zu neuen Weidegründen auf, derweil Wil, Sim und ich unser Bestes gaben, den Gläserandrang auf unserem Tisch zu bewältigen, den Musikerkollegen auslösten, indem sie uns eine Runde nach der anderen spendierten. Eine geradezu obszöne Anzahl von Getränken kam da zusammen. Viel mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte.

Ich trank meist Sounten, da ich ja an diesem Abend vor allem deshalb ins EOLIAN gekommen war, um Geld für meine Studiengebühren aufzutreiben. Nachdem Wil und Sim den Trick nun kannten, bestellten sie ebenfalls ein paar Runden davon. Ich war ihnen doppelt dankbar dafür, denn andernfalls hätte ich sie vermutlich auf einer Schubkarre nach Hause schaffen müssen.

Irgendwann hatten wir drei dann aber doch genug – von der Musik und dem Geschwätz und in Sims Fall auch den gänzlich vergeblichen Flirtversuchen mit allen möglichen Kellnerinnen.

Bevor wir gingen, brachte ich dem Barmann gegenüber noch auf diskrete Weise die Differenz zwischen einem Drittel und einer Hälfte zur Sprache. Nach Abschluss dieser Verhandlungen kassierte ich ein Talent und sechs Jots. Das allermeiste davon verdankte sich den Getränken, die mir meine Musikerkollegen an diesem Abend spendiert hatten.

Ich tat die Münzen in meinen Geldbeutel: Glatte drei Talente.

Bei den Verhandlungen sprangen außerdem noch zwei dunkelbraune Flaschen für mich heraus. »Was ist das denn?«, fragte Sim, als ich sie in meinem Lautenkasten verstaute.

»Bredon«, sagte Wil verächtlich. »Das ist ja eher Brot als Bier.«

Sim nickte und verzog das Gesicht. »Ich mag’s nicht, wenn ich beim Trinken auch noch kauen muss.«

»Es ist gar nicht so schlecht«, erwiderte ich. »In den kleinen Königreichen trinken die Frauen es während der Schwangerschaft. Arwyl hat das mal in einer Vorlesung erwähnt. Beim Brauen werden Blütenpollen, Fischöl und Kirschkerne zugesetzt. Es enthält alle möglichen Spurenelemente.«

»Kvothe, wir urteilen nicht über dich«, sagte Wilem, legte mir eine Hand auf die Schulter und blickte besorgt. »Sim und mich stört es nicht, dass du jetzt eine schwangere Yllerin bist.«

Simmon prustete und lachte dann darüber, dass er geprustet hatte.

Dann gingen wir drei langsam zur Universität zurück und überquerten dabei den hohen Bogen der Steinbrücke. Und da uns niemand hören konnte, sang ich für Sim Esel, dummer Esel.

Wil und Sim wankten zu ihren Zimmern im Mews. Ich aber war noch nicht bettreif und schlenderte weiter durch die menschenleeren Straßen der Universität und atmete tief die kühle Nachtluft ein.

Ich ging an den dunklen Fassaden der Apotheken, Glasbläsereien und Buchbindereien vorüber. Dann nahm ich eine Abkürzung über eine gepflegte Rasenfläche und genoss den Geruch von Herbstlaub und Gras. Die meisten Wirtshäuser und Schenken hatten schon geschlossen, in den Bordellen aber brannte noch Licht.

Die grauen Mauern des Meistergebäudes wirkten im Mondschein silbern. Drinnen brannte eine einzelne schummrige Leuchte und schien durch das bemalte Fenster, das Teccam in seiner klassischen Pose zeigte: Barfuß stand er am Eingang seiner Höhle und sprach zu einer Gruppe Studenten.

Ich ging am Alchemie-Komplex vorbei, dessen zahllose Schlote dunkel in den mondhellen Nachthimmel ragten. Auch nachts, wenn sie größtenteils nicht in Betrieb waren, roch es hier nach Ammoniak, Säuren, Alkohol und Abertausenden anderen Aromen, die sich im Laufe der Jahrhunderte in den Mauern des Gebäudes festgesetzt hatten.

Ich ging zurück zum ANKER’S und fand das Wirtshaus dunkel und still vor. Ich hatte zwar einen Schlüssel für die Hintertür, doch statt dort durch die Dunkelheit zu tapern, ging ich lieber in die Gasse um die Ecke. Rechter Fuß auf die Regentonne, linker Fuß auf den Fenstersims, linke Hand ans Regenrohr. Leise schwang ich mich zu meinem Fenster im zweiten Obergeschoss hinauf, öffnete mit einem Stück Draht den Riegel und stieg hinein.

Es war stockfinster, und ich war zu müde, um mir unten am Kamin Feuer zu holen. Also berührte ich den Docht der Lampe neben meinem Bett und benetzte meine Finger dabei ein wenig mit Öl. Dann murmelte ich eine Bindung und spürte meinen Arm kalt werden, als alle Wärme aus ihm wich. Zunächst geschah nichts, und ich konzentrierte mich, um die leichte Benommenheit von dem getrunkenen Alkohol zu überwinden. Die Kälte fuhr mir tiefer in den Arm und ließ mich erschauern, und endlich flackerte am Docht eine Flamme auf.

Jetzt fror ich, und ich schloss das Fenster und ließ den Blick durch das kleine Zimmer schweifen, mit seinen Dachschrägen und dem schmalen Bett. Zu meinem Erstaunen wurde mir bewusst, dass ich jetzt nirgends auf der Welt lieber gewesen wäre als hier. Ich fühlte mich fast wie zu Hause.

Euch mag das nicht ungewöhnlich erscheinen, ich aber fand es sehr seltsam. Während ich bei den Edema Ruh aufwuchs, war mein Zuhause nie ein bestimmter Ort gewesen. Mein Zuhause war eine Wagenkolonne und bestimmte Lieder am Lagerfeuer. Als meine Truppe ermordet wurde, verlor ich mehr als meine Eltern und Kindheitsfreunde. Es war, als wäre meine ganze Welt bis auf die Grundfesten niedergebrannt.

Nach fast einem Jahr an der Universität bekam ich nun allmählich

Und als ich einschlief, fragte ich mich, was mein Vater wohl von mir denken würde.

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