Kapitel 35 Geheimnisse
Zwei Tage später brach ich zum Handwerkszentrum auf, in der Hoffnung, durch ordentliche Arbeit würde ich einen klaren Kopf bekommen und anschließend Elodins Eseleien besser ertragen können. Ich war drei Schritte aus der Tür, als ich ein Mädchen in einem blauen Umhang sah, das über den Hof auf mich zu eilte. Ihr Gesicht unter der Kapuze wirkte gleichzeitig aufgeregt und besorgt.
Als unsere Blicke sich trafen, blieb sie stehen. Dann machte sie, während sie mich weiterhin ansah, eine so verstohlene und steife Handbewegung, dass ich sie erst verstand, als sie sie noch einmal wiederholte: Ich sollte ihr folgen.
Ich nickte verblüfft. Sie wandte sich ab und verließ den Hof und bewegte sich dabei so steifgliedrig wie jemand, der verzweifelt versucht, ganz unbekümmert zu wirken.
Ich ging ihr nach. Unter anderen Umständen hätte ich sie für einen Lockvogel gehalten, der mich in eine dunkle Gasse führen sollte, wo mir dann irgendwelche Finsterlinge das Gebiss eintreten und den Geldbeutel abnehmen würden. Hier jedoch, in unmittelbarer Nähe der Universität, gab es schlicht keine Gassen, die sich für so etwas geeignet hätten, und außerdem war es helllichter Tag.
Sie bog schließlich in eine menschenleere Straße hinter einer Glasbläserei und einem Uhrenladen. Sie blickte sich noch einmal ängstlich um, und dann strahlte mir ihr Gesicht unter der Kapuze hervor entgegen. »Endlich habe ich dich gefunden!«, sagte sie atemlos.
Sie war jünger, als ich gedacht hatte, höchstens vierzehn Jahre alt. Mattbraune Locken umrahmten ihr blasses Gesicht und drängten
»Es war ganz schön schwierig, dich aufzuspüren«, sagte sie. »Ich hab so viel Zeit damit verbracht, dass meine Mutter schon glaubt, ich hätte einen Liebhaber an der Universität.« Letzteres sagte sie beinahe schüchtern, und die Andeutung eines Lächelns spielte um ihren Mund.
Ich war drauf und dran, ihr zu gestehen, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wer sie war. Doch noch bevor ich ein Wort herausbekam, fuhr sie fort: »Keine Sorge. Ich hab niemandem erzählt, dass ich nach dir suche.« Ihre leuchtenden Augen verdunkelten sich vor Besorgnis, wie ein Teich, wenn die Sonne hinter einer Wolke verschwindet. »Ich weiß schon, dass es so ungefährlicher ist.«
Erst als sich ihr Gesicht verdüsterte, erkannte ich sie. Sie war das Mädchen, dem ich in Trebon begegnet war, als ich dort versucht hatte, den Gerüchten über die Chandrian auf den Grund zu gehen.
»Nina«, sagte ich. »Was machst du denn hier?«
»Dich suchen.« Sie reckte stolz das Kinn vor. »Mir war klar, dass du von hier sein musst, weil du verstehst ja was von Magie.« Sie sah sich um. »Aber es ist viel größer, als ich gedacht hab. Ich weiß, du hast keinem in Trebon deinen Namen gesagt, weil sie sonst Macht über dich gehabt hätten, aber darum war es auch ganz schön schwer, dich zu finden.«
Hatte ich tatsächlich niemandem in Trebon meinen Namen genannt? An manches von dieser Reise erinnerte ich mich nur noch schemenhaft, was daran lag, dass ich eine Gehirnerschütterung erlitten hatte. Es war wahrscheinlich besser, dass ich anonym geblieben war, denn ich war ja schließlich dafür verantwortlich, dass damals ein Gutteil der Stadt niedergebrannt war.
»Tut mir leid, dass ich dir solche Umstände gemacht habe«, sagte ich, wusste aber immer noch nicht, worum es eigentlich ging.
Nina kam einen Schritt näher. »Ich hatte Träume, nachdem du weg warst«, sagte sie leise, in vertraulichem Ton. »Böse Träume. Ich dachte, sie wären hinter mir her, wegen dem, was ich dir erzählt hab.« Sie bedachte mich mit einem bedeutungsvollen Blick. »Aber dann hab ich abends immer den Talisman mit ins Bett genommen, den du
Mit plötzlichen Schuldgefühlen wurde mir bewusst, dass ich Meister Kilvin versehentlich belogen hatte. Ich hatte zwar niemandem einen Zauber verkauft oder gar etwas hergestellt, das man für einen solchen halten konnte. Ich hatte aber Nina ein graviertes Metallstück geschenkt und ihr, um sie zu beruhigen, eingeredet, dass es sich um einen Talisman handelte. Sie war zuvor fast in Hysterie verfallen, weil sie fürchtete, Dämonen wollten sie ermorden.
»Es hat also gewirkt?«, fragte ich.
Sie nickte. »Nachdem ich mir das unters Kissen gelegt und immer mein Nachtgebet gesprochen hab, hab ich geschlafen wie ein Murmeltier. Und dann ging es los, dass ich diesen ganz besonderen Traum bekam«, sagte sie und lächelte mich an. »Ich hab von der Vase geträumt, die Jimmy mir gezeigt hat, bevor damals die Leute auf der Mauthen-Farm ums Leben gekommen sind.«
Da spürte ich Hoffnung in mir aufkeimen. Nina war die einzige Überlebende, die diese uralte Vase mit eigenen Augen gesehen hatte. Sie war mit Bildern der Chandrian bemalt, und die Chandrian sind sehr darauf bedacht, ihre Geheimnisse zu hüten.
»Ist dir noch etwas eingefallen zu dieser Vase, auf der sieben Personen abgebildet waren?«, fragte ich aufgeregt.
Sie zögerte und runzelte die Stirn. »Es waren acht«, sagte sie. »Nicht sieben.«
»Acht?«, fragte ich. »Bist du sicher?«
Sie nickte. »Ich dachte, das hätte ich dir gesagt.«
Die Hoffnung fiel wieder in sich zusammen, und stattdessen bekam ich ein sehr ungutes Gefühl in der Magengegend. Die Chandrian bestanden aus sieben Personen. Das zählte zu den wenigen Dingen, die ich mit Sicherheit über sie wusste. Wenn auf der bemalten Vase, die Nina gesehen hatte, acht Personen abgebildet waren …
Nina erzählte weiter, ohne meine Enttäuschung zu bemerken: »Ich habe drei Nächte hintereinander von dieser Vase geträumt«, sagte sie. »Und es waren wirklich keine bösen Träume. Ich bin hinterher
Sie wühlte in ihren Taschen herum und zog einen polierten Horngegenstand hervor, der etwa eine Handspanne lang war und so dick wie mein Daumen. »Ich wusste ja noch, wie neugierig du auf diese Vase warst. Aber ich konnte dir nicht viel darüber sagen, denn ich hatte sie ja nur ganz kurz gesehen.« Stolz überreichte sie mir den Gegenstand.
Ich betrachtete das zylindrische Ding in meinen Händen und wusste nicht recht, was ich damit sollte. Ich sah sie verwirrt an.
Nina seufzte ungeduldig und nahm mir das Ding wieder weg. Sie drehte daran, und das eine Ende löste sich, wie eine Kappe. »Das hat mein Bruder für mich gemacht«, sagte sie und zog dann vorsichtig ein zusammengerolltes Stück Pergament aus dem hohlen Horn hervor. »Aber keine Sorge, er weiß nicht, was ich damit mache.«
Sie gab mir das Pergament. »Es ist nicht besonders gut«, sagte sie nervös. »Ich darf meiner Mutter manchmal helfen, wenn sie Vasen bemalt, aber das hier ist was anderes. Menschen sind schwieriger zu malen als Blumen oder Muster. Und es ist ganz schön schwierig, was richtig hinzukriegen, das man nur im Kopf hat.«
Ich war erstaunt, dass mir nicht die Hände zitterten. »Das ist es, was auf der Vase abgebildet war?«, fragte ich.
»Auf der einen Seite«, sagte sie. »Von so was Rundem sieht man nur etwa ein Drittel, wenn man es von einer Seite anguckt.«
»Dann hast du also jede Nacht von einer anderen Seite geträumt?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, immer nur von dieser Seite. Drei Nächte hintereinander.«
Ich entrollte das Pergament ganz langsam und erkannte sofort den Mann, den Nina gemalt hatte. Seine Augen waren vollkommen schwarz. Im Hintergrund befand sich ein kahler Baum, und der Mann stand auf einem blauen Kreis mit einigen wellenförmigen Linien darin.
»Das soll Wasser sein«, sagte Nina und zeigte darauf. »Aber Wasser zu malen ist echt schwer. Er soll jedenfalls darauf stehen. Rings um ihn her waren auch Schneewehen, und sein Haar war weiß. Ich
Ich nickte, wagte nicht, etwas zu sagen. Das war Cinder, der Mörder meiner Eltern. Ich konnte den Anblick seines Gesichts stets mühelos vor mir heraufbeschwören. Dazu musste ich nicht mal die Augen schließen.
Ich entrollte das Pergament weiter. Da war ein zweiter Mann oder eher die Gestalt eines Mannes unter einem weiten Kapuzengewand. Und unter der Kapuze war weiter nichts als Schwärze. Über seinem Kopf waren drei Monde zu sehen – ein Vollmond, ein Halbmond und ein Viertelmond. Neben ihm standen zwei Kerzen. Die eine war gelb und brannte mit leuchtend orangefarbener Flamme. Die andere Kerze stand unter seiner ausgestreckten Hand. Sie war grau, und ihre Flamme war schwarz, und der Raum drumherum sah irgendwie rußig aus.
»Das soll sein Schatten sein, nehme ich an«, sagte Nina und deutete auf die Stelle unterhalb seiner Hand. »Auf der Vase war das besser zu erkennen. Ich musste Kohle dafür nehmen. Mit Farbe hab ich das nicht richtig hingekriegt.«
Ich nickte. Das war Haliax, der Anführer der Chandrian. Als ich ihn damals gesehen hatte, war er von einem widernatürlichen Schatten umgeben gewesen. Die Feuer rings um ihn her wirkten seltsam gedämpft, und unter seiner Kapuze war es so dunkel wie auf dem Grund eines Brunnenschachts.
Nun entrollte ich das Pergament vollends, und eine dritte Gestalt kam zum Vorschein, größer als die beiden anderen. Dieser Mann trug eine Rüstung und einen offenen Helm. Auf der Brust hatte er ein farbiges Emblem, das wie ein Herbstblatt aussah, rot am Rand und orange zur Mitte hin, mit einem geraden, schwarzen Stengel.
Seine Gesicht war gebräunt, aber die Hand, die er erhoben hielt, war leuchtend rot. Seine andere Hand war hinter einem großen, runden Gegenstand verborgen. Nina war es irgendwie gelungen, diesen in einem metallisch schimmernden Bronzeton zu malen. Vermutlich sollte es ein Schild sein.
»Der ist mir am schlechtesten gelungen«, sagte Nina mit gedämpfter Stimme.
Sie lächelte matt. »So hab ich das nicht gemeint«, sagte sie. »Er war echt schwer zu malen. Das Kupfer hab ich noch einigermaßen hingekriegt«, sagte sie und deutete auf den Schild. »Aber dieses Rot …« Sie deutete auf die erhobene Hand. »Das soll eigentlich Blut sein. Seine Hand ist blutüberströmt.« Sie pochte ihm auf die Brust. »Und das war leuchtender, so als würde es brennen.«
Da erkannte ich ihn. Das Emblem auf seiner Brust war gar kein Blatt. Es war ein Turm, der in Flammen stand. Und seine blutüberströmte, erhobene Hand wies nicht auf etwas. Nein, er hatte sie in einer mahnenden Geste gegenüber Haliax und den anderen erhoben. Er hatte die Hand erhoben, um ihnen Einhalt zu gebieten. Dieser Mann war einer der Amyr. Einer der Ciridae.
Nina schauderte und zog ihren Umhang enger um sich zusammen. »Ich ertrage es immer noch nicht, ihn anzusehen«, sagte sie. »Sie waren alle scheußlich anzusehen. Aber er war der Schlimmste. Ich kann nicht gut Gesichter malen, aber seins hat schrecklich grimmig geguckt. Er sah sehr, sehr wütend aus. Er sah aus, als wäre er drauf und dran, die ganze Welt in Schutt und Asche zu legen.«
»Wenn das nur die eine Seite ist«, sagte ich, »weißt du dann auch noch, wie der Rest aussah?«
»Nicht so wie das, anders. Ich erinnere mich an eine Frau, die gar nichts anhatte, und an ein zerbrochenes Schwert … und an ein Feuer …« Sie blickte nachdenklich und schüttelte dann den Kopf. »Wie gesagt, ich hab’s nur ganz kurz gesehen, als Jimmy mir die Vase gezeigt hat. Ich glaube, ein Engel hat mir geholfen, mich an diesen Teil des Traums zu erinnern, damit ich es malen und dir bringen konnte.«
»Nina«, sagte ich. »Das ist wirklich unglaublich. Du ahnst gar nicht, was für einen Gefallen du mir damit getan hast.«
Da lächelte sie wieder. »Das freut mich. Es war nämlich wirklich ganz schön schwierig, das hinzukriegen.«
»Wo hast du denn das Pergament her?«, fragte ich. Es war ein
»Ich hab’s zuerst auf ein paar Holzplatten ausprobiert«, sagte sie. »Aber mir war schnell klar, dass das nicht funktionieren würde. Und außerdem wusste ich ja, dass ich es verstecken muss. Also bin ich in die Kirche geschlichen und hab da ein paar Seiten aus dem Buch rausgeschnitten«, sagte sie ohne die geringste Verlegenheit.
»Du hast das aus dem Buch des Weges herausgeschnitten?«, fragte ich entgeistert. Ich bin ja nicht sonderlich religiös, habe aber doch ein rudimentäres Gespür dafür, was sich schickt und was nicht. Und nachdem ich so viel Zeit in der Universitätsbibliothek verbracht hatte, erschien mir der Gedanke, Seiten aus einem Buch herauszuschneiden, schlichtweg grauenerregend.
Nina nickte unbekümmert. »Das schien mir das Beste, denn es war ja schließlich ein Engel, der mir diesen Traum eingegeben hat. Sie können die Kirche über Nacht nicht mehr richtig abschließen, denn du hast ja das halbe Portal zum Einsturz gebracht, um diesen Dämon zu töten.« Sie fuhr vorsichtig mit einem Finger über das Bild. »Das ist nicht schwierig. Man muss nur ein Messer nehmen und ein bisschen schaben, und dann gehen die ganzen Worte ab. Ich hab aber aufgepasst, dass ich Tehlus Name nicht abschabe. Und auch nicht den von Andan und den anderen Engeln«, fügte sie in frommem Tonfall hinzu.
Ich sah es mir noch einmal genauer an, und so war es tatsächlich. Sie hatte den Amyr so gemalt, dass sich die Worte Andan und Ordal direkt oberhalb seiner Schultern befanden. Fast als hätte sie gehofft, diese Namen würden ihn niederdrücken oder irgendwie bannen.
»Und außerdem hattest du ja gesagt, dass ich keinem erzählen soll, was ich da gesehen hab«, sagte sie. »Und Malen ist ja gewissermaßen auch Erzählen, bloß mit Bildern statt mit Worten. Und da hab ich gedacht, es ist doch sicherer, wenn ich dazu Seiten aus Tehlus Buch nehme, denn kein Dämon würde sich ja jemals Seiten aus diesem Buch ansehen. Schon gar nicht, wenn Tehlus Name immer noch drauf steht.« Sie sah mich voller Stolz an.
Da begann der Glockenturm die Stunde zu schlagen, und auf Ninas Gesicht machte sich Panik breit. »Oh nein!«, sagte sie. »Um diese Uhrzeit sollte ich schon wieder am Hafen sein. Meine Mutter wird mich grün und blau prügeln!«
Ich lachte. Zum einen, weil ich vollkommen verblüfft über diesen Glücksfall war, und zum anderen, weil ein Mädchen, das den Mut besaß, den Chandrian zu trotzen, dennoch eine solche Angst davor hatte, den Unmut ihrer Mutter auf sich zu ziehen. Tja, so kann’s gehen …
»Nina, du hast mir einen unglaublich großen Gefallen erwiesen. Wenn ich irgendwann mal irgendwas für dich tun kann, oder falls du noch so einen Traum haben solltest: Du findest mich in einem Wirtshaus namens ANKER’S. Ich wohne da und trete da auch als Musiker auf.«
Da bekam sie große Augen. »Ist es magische Musik?«
Ich lachte. »Manche Leute würden jetzt wahrscheinlich ja sagen.«
Sie blickte sich nervös um. »Ich muss jetzt aber wirklich los!«, sagte sie, winkte noch einmal zum Abschied und lief dann in Richtung Fluss, und der Wind wehte ihr die Kapuze vom Kopf.
Ich rollte das Pergament vorsichtig wieder zusammen und steckte es zurück in das Futteral aus Horn. Mir war geradezu schwindelig von all den Dingen, die ich soeben erfahren hatte. Und ich dachte daran, was ich Haliax vor all den Jahre zu Cinder hatte sagen hören: Wer schützt dich vor den Amyr? Den Sängern? Den Sithe?
Nach den monatelangen Recherchen war ich mir ziemlich sicher, dass die Universitätsbibliothek über die Chandrian weiter nichts als Märchen zu bieten hatte. Niemand glaubte, dass sie realer waren als Butzemänner oder Feen.
Die Amyr aber waren allgemein bekannt. Sie waren die edlen Ritter des Aturischen Reichs gewesen. Zweihundert Jahre lang hatten sie als starke Hand der Kirche fungiert. Es gab hunderte Erzählungen und Lieder über sie.
Ich hatte die Geschichtsbücher gelesen. Die Amyr waren in der Frühzeit des Aturischen Reichs von der Tehlanerkirche gegründet worden.
Ich hatte die Geschichtsbücher gelesen. Die Amyr waren, noch ehe das Reich unterging, von der Kirche mit einem Bann belegt und aufgelöst worden.
Ich wusste aber andererseits auch, dass die Chandrian sie immer noch fürchteten.
An dieser ganzen Geschichte schien noch einiges mehr dran zu sein.