Kapitel 53 Die Bastion
Zerlumpt, mittellos und hungrig hinkte ich durch das Stadttor von Severen.
Hunger ist mir nichts Fremdes. Ich kenne das hohle Gefühl im Bauch in all seinen Erscheinungsformen. Diesmal litt ich keinen schlimmen Hunger. Ich hatte am Tag davor noch zwei Äpfel und ein wenig Pökelfleisch gegessen und verspürte deshalb nur ein schmerzhaftes Magenknurren. Ich war noch etwa acht Stunden von jenem schrecklichen Hunger entfernt, der einen vor Entkräftung zittern macht.
In den letzten beiden Spannen hatte ich durch Diebstahl, mutwillige Zerstörung oder Einwirkung natürlicher Ereignisse meine gesamte Habe verloren. Nur meine Laute war mir geblieben. Dennas wunderbarer Kasten hatte sich bereits zehnfach bezahlt gemacht. Er hatte mir bei einer Gelegenheit das Leben gerettet und außerdem meine Laute, Threpes Empfehlungsschreiben und Ninas so wichtige Zeichnung der Chandrian geschützt.
Vielleicht fällt auf, dass ich in der Aufzählung meiner Besitztümer keine Kleider nenne. Das hat zwei gute Gründe. Einmal konnte man die Lumpen, die ich trug, kaum noch als Kleider bezeichnen, wollte man der Wahrheit nicht Gewalt antun. Zweitens hatte ich sie gestohlen und konnte sie deshalb schlecht mein Eigen nennen.
Am meisten schmerzte mich der Verlust von Felas Umhang. Ich hatte ihn in Junpui für einen Verband in Streifen reißen müssen. Fast genauso schwer wog der Verlust meines unter solchen Mühen hergestellten Gram, das jetzt irgendwo auf dem Grund der kalten, dunklen Sundersee lag.
Auf der Bastion lag der deutlich kleinere Teil der Stadt mit den Herrenhäusern und Villen reicher Kaufleute und Adliger. Außerdem waren dort die zur Versorgung der Oberschicht nötigen Schneidereien, Mietställe, Theater und Bordelle untergebracht.
Die Felswand hob die Oberstadt dem Himmel entgegen, als sei ihr einziger Daseinszweck, dem Adel eine bessere Aussicht auf das umliegende Land zu bieten. Nach Nordosten und Süden fiel sie allmählich ab, doch an der Stelle, an der sie die Stadt teilte, stieg sie senkrecht wie eine Mauer sechzig Meter in die Höhe.
In der Mitte der Stadt ragte von der Bastion vorspringend eine breite Halbinsel ins Meer. Auf ihr stand die Stammburg Maer Alverons. Die aus hellem Stein erbauten Mauern waren von überall in der darunter gelegenen Stadt zu sehen und schienen den Betrachter geradezu bedrohlich zu mustern.
Auch mich, der ich kein Geld in der Tasche hatte und keine anständigen Kleider trug, schüchterten sie ein. Ursprünglich hatte ich mich trotz meiner Verwahrlosung sofort mit Threpes Schreiben zum Maer begeben wollen, doch als ich jetzt an den hohen Mauern hinaufblickte, wurde mir klar, dass man mich wahrscheinlich gar nicht einlassen würde. Ich sah aus wie ein zerlumpter Bettler.
Mir standen wenige Mittel und noch weniger Alternativen zur Verfügung. Mit Ausnahme von Ambrose in der Baronie seines Vaters einige Meilen weiter südlich kannte ich in Vintas keine Menschenseele.
Zwar hatte ich auch schon früher gebettelt und gestohlen, aber nur, wenn mir nichts anderes übrig blieb. Beides ist gefährlich, und nur ein vollkommener Narr versucht sich damit in einer Stadt, die er nicht kennt, von einem fremden Land ganz zu schweigen. Ich wusste nicht einmal, gegen welche Gesetze ich damit in Vintas verstoßen hätte. Also biss ich die Zähne zusammen und ergriff die einzige Alternative, die mir offen stand. Ich marschierte barfuß durch die Unterstadt von Severen, bis ich in einem der besseren Viertel ein Leihhaus fand.
Fast eine Stunde wartete ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite,
Denen, die immer ein sorgloses Leben geführt und deshalb nie den Pfandleiher kennen gelernt haben, muss ich das erklären. Ein solcher Schein stellte eine Art Quittung dar, mit der ich meine Laute für dieselbe Summe zurückkaufen konnte, allerdings nur innerhalb einer Frist von elf Tagen. Am zwölften Tag ging sie in das Eigentum des Pfandleihers über, der sie dann unverzüglich seinerseits für das Zehnfache verkaufen konnte.
Wieder auf der Straße wog ich die Münzen in der Hand. Sie kamen mir verglichen mit der mir bekannten kealdischen Währung oder den schweren Pennys des Commonwealth dünn und leicht vor. Aber Geld regiert die Welt, in welcher Form auch immer, und für sieben Nobel konnte ich mir eine schöne Garnitur Kleider kaufen, wie ein feiner Herr sie tragen mochte, und dazu ein Paar Stiefel aus weichem Leder. Vom Rest ließ ich mir die Haare schneiden und das Kinn rasieren, außerdem nahm ich ein Bad und aß die erste warme Mahlzeit seit drei Tagen. Danach war ich zwar wieder bettelarm, hatte dafür aber an Selbstbewusstsein gewonnen.
Trotzdem würde es schwierig werden, zum Maer vorzudringen. Mächtige Leute wie er pflegen sich gleich mehrfach nach außen abzuschotten. Der Weg zu ihnen führt über Empfehlungsschreiben und Audienzen, schriftliche Eingaben und Anfragen, Visitenkarten und endloses Hofieren.
Doch ich musste meine Laute spätestens in elf Tagen wieder auslösen, deshalb blieb mir dazu keine Zeit. Ich musste schneller in Kontakt mit Alveron treten.
Also begab ich mich zum Fuß der Bastion und fand dort ein kleines Café, das von einer vornehmen Kundschaft besucht wurde. Für eine meiner kostbaren letzten Münzen bestellte ich eine Tasse Schokolade. Ich setzte mich mit Blick auf ein Geschäft für Stoffe und Kurzwaren auf der anderen Straßenseite.
Schon wurden draußen die Schatten länger, da beschloss ich, dass es Zeit war, in Aktion zu treten. Ich winkte den Jungen zu mir und zeigte über die Straße. »Siehst du den Kavalier da drüben? Den in der roten Weste?«
»Ja, Herr.«
»Kennst du ihn?«
»Das ist der Edle Bergon, mit Verlaub.«
Ich brauchte aber jemanden, der einen wichtigeren Rang bekleidete. »Und der mürrisch dreinblickende Bursche mit dem schrecklichen gelben Hut?«
Der Junge unterdrückte ein Lächeln. »Das ist der Baronet Pettur.«
Volltreffer. Ich stand auf und klopfte Jim auf den Rücken. »Mit deinem Gedächtnis wirst du es noch weit bringen. Alles Gute.« Ich gab ihm einen Halbpenny und schlenderte nach draußen. Der Baronet betastete gerade einen Ballen dunkelgrünen Samts.
Ich brauche nicht eigens zu erwähnen, dass die Edema Ruh, was die soziale Rangfolge betrifft, an allerunterster Stelle stehen. Und auch abgesehen von meiner Herkunft war ich wenig mehr als ein staatenloser Herumtreiber. Anders ausgedrückt, der Baronet stand so himmelhoch über mir, dass ich ihn, wäre er ein Stern gewesen, mit bloßem Auge gar nicht hätte erkennen können. Jemand wie ich hatte ihn mit »gnädiger Herr« anzureden, Augenkontakt zu vermeiden und sich tief und ehrerbietig zu verbeugen.
Jemand wie ich redete ihn am besten überhaupt nicht an.
Im Commonwealth war das natürlich anders. Zumal an der Universität spielten derlei Rangfolgen eine viel geringere Rolle. Aber auch dort waren die Adligen reich und mächtig und hatten viele Beziehungen. Adlige wie Ambrose behandelten Leute meinesgleichen wie den letzten Dreck. Und wenn sie sich dadurch Schwierigkeiten
Doch jetzt war ich in Vintas. Hier brauchte Ambrose den Richter gar nicht zu bestechen. Wenn ich den Baronet Pettur versehentlich auf der Straße angerempelt hätte, solange ich noch barfuß und zerlumpt herumlief, hätte er mich blutig peitschen und anschließend von einem Wachtmeister wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festnehmen lassen können. Der Wachtmeister wäre seiner Aufforderung nur zu bereitwillig gefolgt.
Das heißt, im Commonwealth hat der Adel Macht und Geld. In Vintas hat er Macht, Geld und Privilegien. Viele Gesetze gelten nicht für ihn.
Das bedeutete, der gesellschaftliche Rang war in Vintas von allergrößter Bedeutung.
Wenn der Baronet merkte, wie tief ich unter ihm stand, würde er sich entsprechend aufspielen.
Wenn nicht …
Ich überquerte die Straße und straffte gleichzeitig die Schultern, hob das Kinn, streckte den Hals und kniff die Augen ein wenig zusammen. Dann sah ich mich um, als gehöre die ganze Straße mir und als entspräche ihr gegenwärtiger Zustand meinen Erwartungen ganz und gar nicht.
»Baronet Pettur?«, sagte ich forsch.
Der Mann hob den Kopf und lächelte unbestimmt, als könne er mich nicht recht einordnen. »Ja?«
Ich zeigte mit einer kurzen Handbewegung auf die Bastion. »Ihr würdet dem Maer einen großen Dienst erweisen, wenn Ihr mich so schnell wie möglich zu ihm bringen könntet.« Ich sah ihn streng, fast ein wenig ärgerlich an.
»Nun, gewiss.« Der Baronet klang freilich alles andere als gewiss. Ich spürte, wie ihm Fragen kamen und er nach Ausflüchten suchte. »Aber …«
Ich fixierte ihn mit meinem hochmütigsten Blick. Die Edema mochten den niedersten Rang der Gesellschaft bekleiden, aber es gibt keine besseren Schauspieler. Ich war auf der Bühne aufgewachsen, und mein Vater konnte einen König mit einer solchen Majestät
Ich musterte den Mann in seinem geckenhaften Aufzug also mit achatharten Augen, als sei er ein Pferd, auf das ich wetten wollte. »Wenn die Angelegenheit nicht dringlich wäre, würde ich Euch nicht belästigen.« Ich zögerte und fügte ein steifes, unwilliges »Herr« hinzu.
Baronet Pettur erwiderte meinen Blick. Er war nicht annähernd so verunsichert, wie ich gehofft hatte. Wie die meisten Adligen kreiste er nach Art eines Gyroskops ausschließlich um sich selbst, und nur seine Verwirrung hielt ihn davon ab, mir verächtlich den Rücken zuzukehren. Er beäugte mich und überlegte, ob er es riskieren konnte, mich zu kränken, indem er mich nach meinem Namen und der Art unserer Bekanntschaft fragte.
Doch ich hatte noch einen letzten Trumpf im Ärmel. Ich produzierte das schmallippige, scharfe Lächeln, mit dem der Portier im GRAUEN MANN mich empfangen hatte, als ich dort vor Monaten Denna besucht hatte. Es war ein wahres Kunstwerk, dieses Lächeln, von vollendeter Höflichkeit und zugleich so gönnerhaft, als würde ich dem Baronet den Kopf tätscheln wie einem Hund.
Baronet Pettur hielt ihm etwa eine Sekunde lang stand, dann bekam er Risse wie ein Ei. Seine Schultern sackten ein wenig nach vorn, seine Haltung bekam etwas kaum merklich Unterwürfiges. »Ich freue mich immer, wenn ich dem Maer zu Diensten sein kann«, sagte er. »Wenn Ihr erlaubt.« Er ging mir voraus auf den Fuß der Bastion zu.
Ich folgte ihm mit einem Lächeln.