Kapitel 32 Blut und Asche
Laub raschelte unter meinen Füßen, als ich das Waldstück nördlich der Universität durchquerte. Der Mondschein, der durchs kahle Astwerk der Bäume drang, war zu fahl, um klar sehen zu können, aber ich hatte diesen Weg in der vergangenen Spanne schon einige Male zurückgelegt und kannte ihn daher nun fast auswendig. Ich roch den Holzrauch, lange bevor ich die Stimmen hörte und den Feuerschein zwischen den Bäumen sah.
Es war keine richtige Lichtung, sondern bloß ein ruhiges Plätzchen, das hinter einer Felsnase verborgen lag. Ein paar Feldsteine und ein umgestürzter Baumstamm dienten als Sitzgelegenheit. Die Feuergrube hatte ich einige Tage zuvor selbst ausgehoben. Sie war in der Mitte gut einen halben Meter tief, insgesamt zwei Meter breit und am Rand mit Steinen eingefasst. Sie war jedenfalls viel zu groß für das kleine Lagerfeuer, das gerade darin brannte.
Die anderen waren schon da. Mola und Fela saßen nebeneinander auf dem Baumstamm, Wilem hockte auf einem Stein, und Sim saß im Schneidersitz vor dem Feuer und stocherte mit einem Stock darin herum.
Wil hob den Blick, als ich zwischen den Bäumen hervortrat. Im flackernden Feuerschein sahen seine Augen dunkel und eingesunken aus. Sim und er wachten nun schon seit fast zwei Spannen nachts über mich. »Du kommst spät«, sagte er.
Sim blickte ebenfalls zu mir hoch, fröhlich wie eh und je, aber auch ihm war die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. »Ist es fertig?«, fragte er aufgeregt.
Ich nickte, krempelte mir den Ärmel hoch und zeigte ihnen die
»Das ist eine interessante Art, so was zu tragen«, sagte Mola. »Hat was von einem barbarischen Räuberhauptmann. Dieser Stil ist gerade sehr angesagt.«
»Es funktioniert am besten, wenn es Hautkontakt hat«, erklärte ich. »Und ich muss es verbergen, denn eigentlich darf ich ja gar nicht wissen, wie man so was baut.«
»Praktisch und stilvoll«, sagte Mola.
Simmon kam herbei, sah es sich näher an und berührte es dann auch mit einem Finger. »Es ist so klein. Aaaahh!«, schrie er, machte einen Satz nach hinten und hielt sich die Hand. »Verdammt!«, stieß er hervor und guckte dann verlegen. »Tut mir leid, ich hab mich nur verjagt.«
»Kist und crayle«, fluchte ich, und auch mir raste das Herz. »Was ist denn los?«
»Hast du mal ein Gildenabzeichen des Arkanums angefasst?«, fragte er. »So eins, das man kriegt, wenn man zum vollgültigen Arkanisten ernannt wird?«
Ich nickte. »Ja. Und meine Hand war ganz betäubt, als wäre sie eingeschlafen.«
Sim deutete mit einer Kopfbewegung auf mein Gram und schüttelte sich die Hand aus. »So fühlt sich das an. Ich hatte das bloß nicht erwartet.«
»Ich wusste nicht, dass Gildenabzeichen auch als Gram fungieren«, sagte ich. »Aber wenn man mal drüber nachdenkt, liegt es ja eigentlich nahe.«
»Hast du’s schon ausprobiert?«, fragte Wilem.
Ich schüttelte den Kopf. »Es kam mir irgendwie komisch vor, es selbst zu testen«, gestand ich.
»Willst du etwa, dass einer von uns das übernimmt?«, fragte Simmon und lachte. »Ja, richtig, dann wäre es natürlich vollkommen normal.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass ich von Berufs wegen hier eingeladen bin«, protestierte sie. »Ich habe meinen Arztkoffer nicht dabei.«
»Das wird auch nicht nötig sein«, sagte ich und zog einen Klumpen Sympathiewachs unter meinem Umhang hervor. »Wer mag das übernehmen?«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, und dann streckte Fela eine Hand vor. »Ich forme die Puppe. Aber ich stecke nicht die Nadel hinein.«
»Vhenata«, sagte Wilem.
Simmon zuckte die Achseln. »Also gut. Dann mache ich das.«
Ich gab Fela den Wachsklumpen, und sie begann ihn mit den Händen anzuwärmen. »Willst du Haar oder Blut verwenden?«, fragte sie leise.
»Beides«, erwiderte ich und bemühte mich, mir meine zunehmende Nervosität nicht anmerken zu lassen. »Ich muss bei dieser Sache auf Nummer sicher gehen, damit ich nachts wieder ruhig schlafen kann.« Ich zog eine Hutnadel hervor, piekste mir damit in den Handrücken und sah zu, wie ein Blutstropfen hervorquoll.
»Das wird aber nicht funktionieren«, sagte Fela. »Blut verbindet sich nicht mit Wachs. Es wird nur daran abperlen.«
»Und woher verfügst du über diese äußerst interessante Information, wenn man fragen darf?«, sagte Simmon, dem seine Beklommenheit anzumerken war.
Fela errötete und senkte den Kopf ein wenig, so dass ihr langes Haar über die Schultern nach vorne fiel. »Vom Kerzenfärben. Wenn man bunte Kerzen herstellt, kann man dabei auch keine wasserlöslichen Farben verwenden. Da nimmt man irgendwelche Pulver oder Öle. Es ist eine Frage der Löslichkeit.«
»Ich liebe unsere Universität«, sagte Sim zu Wilem, übers Feuer hinweg. »Gebildete Frauen sind doch einfach viel attraktiver.«
»Das Gleiche würde ich umgekehrt auch gern behaupten«, bemerkte Mola trocken. »Aber ein wirklich gebildeter Mann ist mir leider noch nicht untergekommen.«
»Ja, so müsste es gehen«, sagte Fela.
»Feuer soll dies Fleisch fortsenden. Alles wird als Asche enden«, intonierte Wilem in trauervollem Tonfall und wandte sich dann an Simmon. »Heißt es nicht so in eurem heiligen Buch?«
»Also, mein heiliges Buch ist das nicht«, erwiderte Sim. »Aber du warst nah dran. ›Alles wird als Asche enden. Feuer wird dies Fleisch heimsenden.‹«
»Euch beiden scheint diese Sache ja geradezu Spaß zu machen«, bemerkte Mola.
»Ich freue mich einfach darauf, mal wieder eine Nacht durchschlafen zu können«, erwiderte Wilem.
Fela hielt mir den weichgekneteten Wachsklumpen hin, und ich drückte die feuchte Asche hinein. Sie knetete das Wachs weiter durch, und dann formten ihre Hände mit wenigen, geschickten Bewegungen eine menschenförmige Puppe daraus. Sie hielt sie empor, damit alle sie sehen konnten.
»Kvothes Kopf ist aber viel größer«, sagte Simmon mit seinem jungenhaften Grinsen.
»Ich habe auch Geschlechtsteile«, sagte ich, nahm die Puppe von Fela entgegen und befestigte auf ihrem Kopf ein Haar von mir. »Aber Realismus bringt’s nun mal ab einem bestimmten Punkt nicht mehr.« Ich ging zu Sim und übergab ihm die Puppe und die Hutnadel.
Er nahm die Puppe in die linke und die Nadel in die rechte Hand und blickte beklommen zwischen ihnen hin und her. »Bist du dir wirklich sicher?«
Ich nickte.
»Na gut, wie du meinst.« Er atmete tief durch und straffte die Schultern. Dann starrte er die Puppe an und zog vor Konzentration die Stirn in Falten.
Ich klappte zusammen und hielt mir kreischend das Bein.
Fela schrie entsetzt. Wilem sprang auf. Simmon bekam vor Panik große Augen und hielt die Puppe und die Nadel so weit auseinander, wie er nur konnte. Er sah sich hektisch zu den anderen um. »Ich … ich hab gar nichts …«
Simmon schien geradezu überwältigt von Erleichterung. »Verdammt noch mal. Das ist nicht witzig, du Blödmann«, sagte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Wilem murmelte etwas auf Siaru und setzte sich wieder.
»Ihr drei könntet auch als Theatertruppe auftreten«, sagte Mola.
Simmon atmete tief durch. Dann hielt er die Puppe und die Nadel wieder vor sich. Ihm zitterten die Hände. »Grundgütiger Tehlu«, sagte er. »Du hast mir einen Mordsschreck eingejagt. Jetzt bringe ich das nicht mehr fertig.«
»Um Himmels willen«, sagte Mola und ging um die Feuergrube herum zu Simmon. »Gib her.« Sie nahm die Wachspuppe und die Hutnadel, wandte sich wieder zu mir und sah mir in die Augen. »Bist du bereit?«
»Augenblick!« Nach zwei Spannen ununterbrochener Wachsamkeit das mich beschützende Alar nun auf einmal von mir abfallen zu lassen, fühlte sich an, als würde man eine Faust aufhebeln, die ganz verkrampft war, nachdem sie allzu lange etwas umklammert hatte.
Es dauerte einen Moment, und dann überlief mich ein leichter Schauder. Ohne Alar fühlte ich mich seltsam, gleichsam nackt. »Nimm keine Rücksicht. Aber beim ersten Mal bitte nur ins Bein. Sicher ist sicher.«
Mola zögerte einen Moment lang, murmelte eine Bindung und stieß der Puppe die Nadel ins Bein.
Stille. Alle starrten mich an.
Ich spürte überhaupt nichts. »Alles bestens«, sagte ich. Erleichtertes Aufatmen in der Runde. »War das alles, was du drauf hast?«, fragte ich Mola.
»Keineswegs«, erwiderte sie, zog die Nadel wieder hervor, bückte sich und hielt sie ins Feuer. »Das war nur ein ganz vorsichtiger Probelauf. Ich wollte mir nicht schon wieder dein mädchenhaftes Kreischen anhören müssen.« Sie erhob sich. »Jetzt geht’s richtig los.« Sie richtete die Nadel auf die Puppe und sah mich an. »Bist du bereit?«
Ich nickte. Sie schloss einen Moment lang die Augen, murmelte
Da ich nicht hinsah, bekam ich nicht mit, was Mola als Nächstes tat, aber ich spürte drei weitere stumpfe Knüffe, an beiden Armen und am Oberschenkel. Das Gram wurde immer kälter.
Dann hörte ich Fela erschrocken nach Luft schnappen und hob gerade noch rechtzeitig den Blick, um zu sehen, wie Mola die Wachspuppe mitten ins Feuer warf und dabei eine weitere Bindung murmelte.
Simmon schrie, und Wilem war aufgesprungen und hätte sich fast auf Mola gestürzt, aber er kam zu spät, um sie noch aufzuhalten.
Die Puppe landete mitten in der Glut, und Funken stoben auf. Mein Gram wurde fast schmerzhaft kalt, und ich lachte wie verrückt. Alle starrten mich an, entsetzt oder ungläubig oder beides.
»Alles in Ordnung«, sagte ich. »Aber das ist echt ein seltsames Gefühl. Als stünde man in einem kräftigen, warmen Wind.«
Das Gram wurde nun eiskalt, und dann verging das seltsame Gefühl ganz langsam, während die Puppe schmolz und die sympathetische Verbindung sich zusehends auflöste. Schließlich begann das Wachs zu brennen, und die Flammen des Lagerfeuers loderten ein wenig höher empor.
»Hat es wehgetan?«, fragte Simmon.
»Kein bisschen«, sagte ich.
»Und das war alles, was ich aufbieten konnte«, sagte Mola. »Um mehr auszurichten, hätte ich ein richtiges Schmiedefeuer gebraucht.«
»Und dabei ist sie eine El’the«, fügte Simmon hinzu. »Ich wette, sie ist eine dreimal so gute Sympathikerin wie Ambrose.«
»Mindestens«, sagte ich. »Aber andererseits: Wenn jemand keine Kosten und Mühen scheuen würde, um sich tatsächlich ein Schmiedefeuer zu beschaffen, dann Ambrose. Man kann so ein Gram überwältigen, wenn man nur genug aufbietet.«
»Wir ziehen das also morgen wie geplant durch?«, fragte Mola.
Simmon stocherte mit einem Stock im Feuer herum, an der Stelle, an der die Wachspuppe gelandet war. »Wenn es dir gar nichts anhaben kann, obwohl Mola alles aufbietet, was in ihrer Macht steht, könnte das ja auch ausreichen, um dir Devi eine Zeit lang vom Hals zu halten.«
Schweigen. Ich hielt den Atem an und hoffte, Fela und Mola hätten diese Bemerkung mehr oder weniger überhört.
Doch Mola sah mich an und hob eine Augenbraue. »Devi?«
Ich warf Simmon einen bösen Blick zu, und er guckte ganz jämmerlich, wie ein Hund, der weiß, dass er gleich getreten wird. »Ich habe mir bei einem Gaelet namens Devi Geld geliehen«, sagte ich und hoffte, dass sie sich mit dieser Auskunft zufriedengeben würde.
Doch Mola sah mich weiterhin an. »Und?«
Ich seufzte. Normalerweise wäre ich dem Thema ausgewichen, aber Mola neigte nun mal zu einer gewissen Beharrlichkeit, und ich brauchte sie unbedingt für das, was wir am nächsten Tag vorhatten.
»Devi war früher mal Mitglied des Arkanums«, erklärte ich. »Ich habe ihr zu Beginn des Trimesters ein paar Tropfen Blut von mir anvertraut, als Sicherheit für ein Darlehen. Als Ambrose anfing, mich zu attackieren, bin ich zu falschen Schlussfolgerungen gelangt und habe sie irrtümlicherweise des Sympathievergehens bezichtigt. Das hat unserer Beziehung einen ziemlichen Knacks versetzt.«
Mola und Fela wechselten einen Blick. »Du lässt aber auch nichts aus, um dein Leben aufregend zu gestalten, oder?«, sagte Mola.
»Ich habe ja bereits eingeräumt, dass es ein Fehler war«, entgegnete ich gereizt. »Was erwartest du denn noch von mir?«
»Wirst du ihr das Geld denn zurückzahlen können?«, schaltete sich Fela ein, bevor es zwischen Mola und mir zu einem Wortgefecht kommen konnte.
»Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht«, erwiderte ich. »Mit etwas Glück, und wenn ich im Handwerkszentrum ein paar Nachtschichten einlege, könnte ich bis zum Trimesterende eventuell genug Geld zusammenbekommen.«
Die ganze Wahrheit verschwieg ich. Ich konnte zwar vielleicht genug verdienen, um meine Schulden bei Devi zu begleichen, nie im
Fela neigte den Kopf zur Seite. »Und was würde geschehen, wenn du ihr das Geld nicht zurückzahlen kannst?«
»Nichts Gutes«, bemerkte Wilem. »Sie wird ja schließlich nicht umsonst Dämonen-Devi genannt.«
»Das weiß ich nicht so genau«, sagte ich. »Sie könnte mein Blut verkaufen. Sie hat behauptet, sie hätte einen Abnehmer dafür.«
»Das würde sie nicht tun, da bin ich mir sicher«, sagte Fela.
»Ich könnte es ihr nicht verübeln«, sagte ich. »Schließlich wusste ich, worauf ich mich da einlasse.«
»Aber sie –«
»So ist das nun mal im Geschäftsleben«, sagte ich mit Bestimmtheit. Ich wollte nicht länger bei diesem Thema verharren als unbedingt nötig. Und ich wollte, dass der Abend ein zuversichtliches Ende nahm. »Also, ich freue mich, dass ich heute Nacht wieder in meinem eigenen Bett schlafen kann«, sagte ich und sah zu Wil und Sim hinüber, die müde nickten. »Wir sehen uns dann morgen. Seid bitte pünktlich.«
Als ich dann wenig später luxuriöserweise tatsächlich in meinem schmalen Bett in meiner kleinen Kammer schlief, wurde ich irgendwann im Laufe der Nacht davon wach, dass ich kühles Metall auf meiner Haut spürte. Ich lächelte, drehte mich um und versank wieder in seligem Schlummer.