Kapitel 38 Ein wahrer Kern

War das das Ende der Geschichte?«, fragte Simmon nach einer höflichen Pause. Er lag immer noch auf dem Rücken und sah zu den Sternen empor.

»Ja.«

»Das Ende war aber anders, als ich erwartet hatte«, sagte er.

»Was hast du denn erwartet?«

»Ich dachte, es kommt noch raus, wer der Bettler wirklich ist. Ich dachte, sobald jemand nett zu ihm ist, gibt er sich als Taborlin der Große zu erkennen. Und dann schenkt er seinem Wohltäter seinen Wanderstab und einen Sack voll Geld und … keine Ahnung … lässt irgendwas Magisches geschehen.«

Wilem sagte: »Er gibt ihm den Stab und sagt: ›Wenn du dich einmal in Gefahr befindest, klopfe mit diesem Stab auf den Boden und sage: Stab, steh mir bei!‹ Und dann würde der Stab herumwirbeln und ihn gegen jedweden Angreifer verteidigen.« Wilem lag nun ebenfalls rücklings im hohen Gras. »Ich habe auch nicht geglaubt, dass er wirklich ein alter Bettler ist.«

»Alte Bettler sind doch in Geschichten nie wirklich alte Bettler«, sagte Simmon in leicht vorwurfsvollem Ton. »Sie sind immer eine Hexe oder ein Prinz oder ein Engel oder etwas anderes in der Art.«

»Im wahren Leben sind alte Bettler aber fast immer wirklich alte Bettler«, bemerkte ich. »Aber ich weiß schon, was für Geschichten ihr meint. Das sind Geschichten, die wir anderen Leuten erzählen, um sie zu unterhalten. Diese Geschichte aber ist etwas anderes. Es ist eine Geschichte, die wir uns untereinander erzählen.«

»Um uns etwas ins Gedächtnis zu rufen. Um uns zu lehren, dass –« Ich machte eine vage Geste. »… alles Mögliche.«

»Wie zum Beispiel übertriebene Klischees?«, fragte Simmon.

»Was meinst du damit?«, fragte ich.

»›Den spannen wir vor den Karren, dann kann er ihn ziehen‹?«, erwiderte Simmon und schnaubte empört. »Wenn ich dich nicht kennen würde, würde ich das übelnehmen.«

»Wenn ich dich nicht kennen würde«, erwiderte ich hitzig, »würde ich das übelnehmen. »Weißt du nicht, dass die Aturer früher Menschen töteten, wenn sie herausfanden, dass sie auf der Straße lebten? Einer eurer Kaiser hat behauptet, solche Menschen seien schädlich für das Reich. Und dabei waren es meist lediglich Bettler, die aufgrund der Kriege und Steuererhebungen Haus und Hof verloren hatten. Viele wurden einfach in den Militärdienst gezwungen.«

Ich zupfte an meiner Hemdbrust. »Die Edema aber waren ganz besonders begehrt. Auf uns hat man Jagd gemacht, wie auf Füchse. Hundert Jahre lang war die Ruh-Jagd bei der aturischen Oberschicht ein sehr beliebter Zeitvertreib.«

Tiefes Schweigen. Mir tat die Kehle weh, und da erst wurde mir klar, dass ich die letzten Sätze gebrüllt hatte.

Simmons Stimme klang gedämpft. »Nein, das wusste ich nicht.«

Ich trat mir in Gedanken selbst in den Arsch und seufzte. »Entschuldige bitte, Simmon. Es … Das ist schon sehr lange her. Und es ist ja nicht deine Schuld. Das ist eine alte Geschichte.«

»Das muss sie wohl sein, wenn die Amyr darin vorkommen«, sagte Wilem, ganz offensichtlich bemüht, das Thema zu wechseln. »Wann wurden die noch mal aufgelöst? Vor dreihundert Jahren oder so?«

»Aber dennoch«, sagte ich. »Die meisten Klischees haben einen wahren Kern.«

»Basil stammt aus Vintas«, sagte Wil. »Und er hat tatsächlich einige merkwürdige Angewohnheiten. Er schläft zum Beispiel immer mit einem Penny unterm Kissen.«

»Und auf meiner Reise zur Universität haben mich zwei Adem-Söldner

Wilem sagte zögernd: »Und ich gestehe, dass ich viele Kealden kenne, die großen Wert darauf legen, sich Silber in die Stiefel zu stopfen.«

»In den Geldbeutel«, wandte Simmon ein. »Stiefel sind dazu da, die Füße hineinzustecken.« Erläuternd wackelte er mit einem Fuß.

»Ich weiß, was Stiefel sind«, erwiderte Wilem gereizt. »Ich beherrsche diese vulgäre Sprache besser als du. Stiefel – Patu. Geld, das man im Beutel hat, ist zum Ausgeben bestimmt. Geld, das man behalten will, steckt man sich in den Stiefel.«

»An der Geschichte ist übrigens noch mehr dran«, schaltete ich mich ein, ehe wir noch weiter abschweifen konnten. »Sie enthält einen wahren Kern. Wenn ihr mir versprecht, das niemandem zu erzählen, verrate ich euch ein Geheimnis.«

Nun spürte ich, dass ich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. »Wenn ihr jemals die Gastfreundschaft einer fahrenden Theatertruppe annehmt und man euch zuallererst Wein anbietet, dann sind diese Leute mit Sicherheit Edema Ruh. Dieser Teil der Geschichte ist wahr.« Ich hob einen Zeigefinger. »Aber Vorsicht. Nehmt den Wein nicht an.«

»Aber ich liebe Wein«, wandte Simmon in Mitleid erregendem Ton ein.

»Darum geht es nicht«, sagte ich. »Der Gastgeber bietet euch Wein an, ihr aber besteht auf Wasser. Das könnte sich sogar zu einer Art Wettstreit auswachsen: Der Gastgeber macht immer großzügigere Angebote, und der Gast lehnt immer höflicher ab. Wenn ihr das tut, wissen sie, dass ihr ein Freund der Edema Ruh und mit unseren Bräuchen vertraut seid. Dann werden sie euch über Nacht wie ein Familienmitglied aufnehmen, nicht nur wie einen Gast.«

Dem folgte eine kurze Gesprächspause, in der sie das Gesagte verdauten. Ich sah zum Himmel empor und betrachtete die altvertrauten Sternbilder. Ewan, der Jäger, der Schmelztiegel, die verjüngte Mutter, der feuerzüngige Fuchs, der geborstene Turm …

»Über den Fluss«, sagte ich. »Ins Bett.«

»Nein, nein. Ich meine: Wenn du an jeden Ort der ganzen Welt gehen könntest.«

»Ich bleibe bei meiner Antwort«, sagte ich. »Ich bin schon an vielen Orten gewesen. Und das hier ist es, wohin ich immer wollte.«

»Aber doch nicht für immer«, sagte Wilem. »Du willst doch nicht für immer hier bleiben, oder?«

»Das meinte ich«, sagte Simmon. »Wir alle wollen hier sein. Aber keiner von uns will für immer hier bleiben.«

»Außer Manet«, sagte Wil.

»Wohin würdest du gehen?«, verfolgte Simmon weiter beharrlich sein Thema. »Um Abenteuer zu erleben?«

Ich dachte einen Moment lang darüber nach. »Vermutlich würde ich in den Tahlenwald gehen«, sagte ich.

»Zu den Tahl?«, fragte Wilem. »Das sind doch primitive Nomaden, so weit ich weiß.«

»Streng genommen sind die Edema Ruh auch Nomaden«, bemerkte ich trocken. »Ich habe mal eine Geschichte über sie gehört, in der es hieß, die Anführer der einzelnen Stämme seien keine großen Krieger, sondern große Sänger. Mit ihren Liedern könnten sie Kranke heilen und Bäume zum Tanzen bringen.« Ich zuckte die Achseln. »Ich würde zu ihnen gehen, um zu sehen, ob das stimmt.«

»Ich würde an den Hof der Fae reisen«, sagte Wilem.

Simmon lachte. »Das gilt nicht.«

»Wieso nicht?«, fragte Wilem aufgebracht. »Wenn Kvothe zu den singenden Bäumen gehen kann, kann ich ja wohl ins Reich der Fae gehen. Und da tanze ich dann mit den Embrula … den Frauen der Fae.«

»Die Tahl gibt es wirklich«, widersprach Simmon. »Geschichten von den Fae aber sind nur was für Besoffene, Bekloppte und kleine Kinder.«

»Und wohin würdest du gehen?«, fragte ich Simmon, um ihn davon abzuhalten, Wilem noch mehr zu ärgern.

Er schwieg eine ganze Weile. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich

»Du wolltest eigentlich gar nicht hierher?«, fragte ich ungläubig.

Sim zuckte zur Antwort nur die Achseln, und ich wollte schon nachhaken, als ich davon unterbrochen wurde, dass Wilem sich geräuschvoll erhob. »Fühlen wir uns jetzt der Brücke gewachsen?«

Mein Kopf war bemerkenswert klar. Ich stand auf und geriet dabei nur ganz leicht ins Schwanken. »Ich bin dabei.«

»Einen Moment noch.« Simmon ging in den Wald und knöpfte sich dabei die Hose auf.

Sobald er außer Sicht war, kam Wilem zu mir. »Frag ihn nicht nach seiner Familie«, sagte er leise. »Es ist nicht leicht für ihn, darüber zu sprechen. Und wenn er betrunken ist, ist es noch schwieriger.«

»Was –«

Er machte eine energische Handbewegung und schüttelte den Kopf. »Später.«

Simmon kam auf die Lichtung zurück, und dann machten wir drei uns schweigend auf den Weg – zurück auf die Straße, dann über die große Steinbrücke und heim zur Universität.

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