Kapitel 62 Krise

Am folgenden Morgen war ich bereits vor Sonnenaufgang auf dem Weg in die Stadt. Ich frühstückte warm mit Eiern und Kartoffeln und wartete darauf, dass eine Apotheke öffnete. Nach dem Frühstück kaufte ich zwei weitere Fläschchen Lebertran und einige Dinge, die ich am Tag zuvor vergessen hatte.

Dann ging ich die Spenglerstraße in ihrer ganzen Länge ab. Obwohl es eigentlich noch viel zu früh am Morgen war, hoffte ich, Denna zu begegnen. Auf den gepflasterten Straßen drängten sich Fuhrwerke und die Karren der Bauern. Die ersten Bettler bezogen an belebten Straßenecken ihre Plätze, und Ladeninhaber schlossen ihre Geschäfte auf und hängten ihre Schilder nach draußen.

Dreiundzwanzig Schenken und Herbergen zählte ich in der Spenglerstraße. Ich merkte mir die, in denen Denna am ehesten absteigen würde, und kehrte schweren Herzens in die Burg des Maer zurück. Diesmal nahm ich den Lastenaufzug, zum einen, um mögliche Verfolger zu verwirren, aber auch, weil die Börse des Maer fast leer war.

Damit alles so normal wie möglich wirkte, blieb ich in meiner Unterkunft und wartete darauf, dass der Maer mich holen ließ. Ich schickte Bredon meine Karte und einen Ring. Kurz darauf saß er mir gegenüber, schlug mich vernichtend im Tak und erzählte in einem fort Geschichten.

»… deshalb ließ der Maer ihn unmittelbar vor dem östlichen Stadttor in einem Käfig aufhängen. Er heulte und fluchte tagelang und behauptete, unschuldig zu sein. Es sei nicht recht, ihn zu hängen, und er wolle einen Prozess.«

Bredon nickte ernst. »Aus Eisen, ja. Keine Ahnung, wo man so etwas heutzutage herbekommt. Sah aus wie eine Requisite aus einem Theaterstück.«

Ich suchte nach einer unverfänglichen Bemerkung, denn ich wollte den Maer nicht offen kritisieren. »Nun«, sagte ich, »die Banditen treiben aber auch überall ihr Unwesen.«

Bredon, der gerade einen Stein auf das Brett hatte legen wollen, zögerte. »Nicht wenige hielten die ganze Veranstaltung für …« Er räusperte sich. »In höchstem Maße geschmacklos. Doch niemand spricht es laut aus, wenn du verstehst, was ich meine. Es war grausig, erfüllte aber seinen Zweck.«

Er legte den Stein, und wir spielten eine Weile stumm weiter.

»Es ist seltsam«, sagte ich schließlich. »Ich habe gestern mit jemandem gesprochen, der nicht wusste, welchen Rang Caudicus genau bei Hof bekleidet.«

»Das überrascht mich nicht«, antwortete Bredon und zeigte auf das Spiel. »Das Schicken und Empfangen von Ringen hat viel mit diesem Spiel gemeinsam. Oberflächlich betrachtet sind die Regeln einfach, ihre Anwendung ist dagegen sehr kompliziert.« Er setzte klackend einen Stein und in seinen Augenwinkeln erschienen belustigte Fältchen. »Ich habe übrigens erst gestern einen Fremden mit den Feinheiten dieses Brauchs vertraut gemacht.«

»Das war sehr freundlich von Euch.«

Bredon nickte lächelnd. »Auf den ersten Blick erscheint alles ganz einfach. Ein Baron rangiert über einem Baronet. Aber manchmal wiegt junges Geld schwerer als altes Blut. Manchmal ist die Herrschaft über einen Fluss wichtiger als die Zahl der Soldaten, die man aufbieten kann. Manchmal zählt eine Person auch genauso viel wie mehrere. Der Graf von Svanis etwa hat durch eine seltsame Fügung zugleich den Titel eines Viscount von Tevn geerbt. Derselbe Mann bekleidet zwei ganz verschiedene Ränge.«

Ich lächelte. »Meine Mutter kannte einmal einen, der sein eigener Lehnsmann war. Er war sich jährlich selbst einen Teil der Steuern schuldig, und im Fall einer Bedrohung musste er sich selbst mit Soldaten zu Hilfe kommen.«

»Stapes?«, fragte ich. »Aber er ist doch nur ein Diener.«

»Nun«, meinte Bredon langsam, »das ist er zweifellos, aber eben nicht nur. Er stammt aus einer alten Familie, führt aber keinen Titel. Streng genommen bekleidet er nur den Rang eines Kochs. Doch besitzt er große Ländereien und hat Geld. Und er ist der Diener des Maer. Die beiden kennen sich seit ihrer Kindheit. Jedermann weiß, dass Alveron auf ihn hört.«

Bredon musterte mich mit einem unergründlichen Blick. »Niemand würde es wagen, ihn mit einem eisernen Ring zu beleidigen. Besuche ihn in seinem Zimmer, und du wirst feststellen, dass in seiner Schale nur goldene Ringe liegen.«

Kurz nach unserer Partie verabschiedete sich Bredon. Als Grund nannte er eine andere Verpflichtung. Zum Glück hatte ich meine Laute wieder, um mir die Zeit zu vertreiben. Ich stimmte sie, überprüfte die Bünde und drehte eine Weile an dem Wirbel herum, der zu locker saß. Wir waren lange voneinander getrennt gewesen und mussten uns erst wieder aneinander gewöhnen.

Stunden vergingen. Ich ertappte mich dabei, wie ich abwesend Taubnessels Klage zupfte, und zwang mich, damit aufzuhören. Der Mittag kam und ging. Das Mittagessen wurde gebracht und wieder abgeräumt. Ich stimmte die Laute neu und spielte einige Tonleitern. Unversehens spielte ich Verlass die Stadt, Kessler. Erst jetzt begriff ich, was meine Hände mir sagen wollten. Wenn der Maer noch lebte, hätte er mich inzwischen gerufen.

Ich hörte auf zu spielen und dachte angestrengt nach. Ich musste von hier verschwinden, und zwar sofort. Stapes hatte mitbekommen, dass ich den Maer mit Medikamenten behandelte. Man konnte mich auch beschuldigen, den Inhalt des Fläschchens ausgetauscht zu haben, das ich von Caudicus gebracht hatte.

Nach und nach begriff ich die Aussichtslosigkeit meiner Lage,

Das Klopfen an der Tür klang lauter als gewöhnlich und heftiger als das Klopfen des Botenjungen, der mir sonst die Einladungen des Maer überbrachte. Wachen. Ich saß wie gelähmt da. Sollte ich aufmachen und die Wahrheit sagen? Oder durch das Fenster in den Garten klettern und weglaufen?

Es klopfte wieder, diesmal noch lauter.

Die Stimme wurde durch die Tür gedämpft, aber sie gehörte nicht einer Wache. Ich machte auf. Vor mir stand ein Laufbursche mit einem Tablett, auf dem der eiserne Ring und die Karte des Maer lagen.

Ich nahm beides. Auf der Karte stand in zittriger Schrift ein einziges Wort: Sofort.

Stapes machte einen ungewöhnlich zerzausten Eindruck und begrüßte mich mit einem eisigen Blick. Gestern hatte er gewirkt, als sähe er mich am liebsten tot und begraben. Heute schien sein Blick zu sagen, dass ihm begraben reichte.

Im Schlafzimmer des Maer standen überall Selasblumen. Den Gestank, dessentwegen man sie ins Zimmer gebracht hatte, konnten sie mit ihrem feinen Duft allerdings nicht vollständig überdecken. Das im Verein mit Stapes’ zerzaustem Äußeren bestätigte mir, dass meine Vorhersage einer unangenehmen Nacht in etwa der Wahrheit entsprochen hatte.

Alveron saß mit geschlossenen Augen auf ein Kissen gestützt im Bett. Er sah den Umständen entsprechend müde aus, schwitzte aber nicht mehr und schien auch keine quälenden Schmerzen mehr zu leiden. Sein Aussehen erinnerte mich geradezu an einen Engel: Die Sonne, die durch das Fenster auf ihn fiel, verlieh seiner Haut etwas Zartes, Durchscheinendes, und sein ungekämmtes Haar umgab seinen Kopf wie eine silbern leuchtende Krone.

»Ich hoffe doch, es geht Euch gut?«, fragte ich höflich.

»Danke, bestens«, antwortete er, doch es war nur eine nichtssagende Floskel.

»Wie fühlt Ihr Euch?«, fragte ich ernster.

Er gab mir durch einen langen Blick zu verstehen, dass er meinen vertraulichen Ton nicht billigte. Dann sagte er: »Alt. Alt und schwach.« Er holte tief Luft. »Aber insgesamt besser als seit Tagen. Ein wenig Schmerzen habe ich noch, und ich bin sehr müde. Aber ich fühle mich … gereinigt. Ich glaube, ich habe die Krise überstanden.«

Ich fragte nicht nach der vergangenen Nacht. »Soll ich wieder Tee für Euch kochen?«

»Ja bitte.« Er klang ruhig und höflich. Sein Ton verriet nicht, in welcher Stimmung er sich befand. Ich bereitete hastig den Tee zu und reichte ihm die Tasse.

Der Maer nahm einen Schluck und hob den Kopf. »Er schmeckt anders.«

»Er enthält weniger Laudanum«, erklärte ich. »Zu viel davon würde Euch schaden. Euer Körper würde davon abhängig werden wie zuvor vom Ophalum.«

Der Maer nickte. Dann sagte er ein wenig zu beiläufig: »Wie du siehst, geht es den Vögeln gut.«

Ich blickte durch die Tür. Die Flittiche flatterten munter durch ihren goldenen Käfig. Mich überlief es kalt. Offenbar glaubte er immer noch nicht, dass Caudicus ihn vergiften wollte.

Mir fiel auf die Schnelle keine passende Antwort ein. Erst nachdem ich ein paar Mal Luft geholt hatte, brachte ich heraus: »Ihre Gesundheit kümmert mich viel weniger als Eure. Und es geht Euch doch wirklich besser, nicht wahr, Euer Gnaden?«

»Das liegt an der Art meiner Krankheit. Sie kommt und geht.« Der Maer stellte die Tasse ab. Sie war noch zu drei Vierteln voll. »Manchmal vergeht sie auch ganz, und dann kann Caudicus einige Monate durch die Gegend ziehen und Zutaten für seine Zaubertränke und Arzneien sammeln. Da fällt mir etwas ein.« Er faltete die Hände im Schoß. »Holst du mir bitte meine Arznei von Caudicus?«

Der Maer bedankte sich mit einem Nicken, schloss die Augen und sank in einen ruhigen, von der Sonne beschienenen Schlummer.

»Unser Junghistoriker!«, rief Caudicus. Er winkte mich herein und bot mir einen Stuhl an. »Wenn Ihr mich einen Augenblick entschuldigt, ich komme gleich wieder.«

Ich sank auf das Polster und bemerkte erst jetzt die auf einem nahen Tisch ausgestellten Ringe. Caudicus hatte sogar eigens ein Gestell für sie anfertigen lassen. Die darauf eingravierten Namen zeigten jeweils nach vorn. Er besaß viele Ringe in Silber, Eisen und Gold.

Mein goldener Ring und der eiserne von Alveron lagen auf einem kleinen Tablett daneben. Ich nahm beide an mich. Eine sehr taktvolle Art, die Rückgabe eines Rings ohne Worte anzubieten, fand ich.

Interessiert sah ich mich in dem Turmzimmer um. Warum sollte der Arzt den Maer vergiften wollen? Vom fehlenden Zugang zur Universität abgesehen war das Zimmer der Traum eines jeden Arkanisten.

Neugierig stand ich auf und trat an das Bücherregal. Dort war auf engstem Raum eine ansehnliche Bibliothek von fast hundert Büchern versammelt. Viele Titel kannte ich. Einige beschäftigten sich mit Chemie, andere mit Alchemie, wieder andere mit Naturwissenschaften wie der Kräuterkunde, der Physiologie und der Tierkunde. Die überwiegende Mehrheit der Bücher galt jedoch historischen Themen.

Mir kam eine Idee. Vielleicht konnte ich den Aberglauben der Vintaner zu meinem Vorteil ausnützen. Wenn Caudicus ein ernsthafter Gelehrter war und auch nur halb so abergläubisch wie ein gebürtiger Vintaner, hatte er sich womöglich auch mit den Chandrian beschäftigt. Da ich sowieso den einfältigen Junker spielte, brauchte ich mich um meinen Ruf nicht zu sorgen.

Ich drehte mich um und schüttelte den Kopf. »Nein. Wisst Ihr eigentlich etwas über die Chandrian?«

Caudicus starrte mich einen Moment verständnislos an und begann dann zu lachen. »Nur so viel, dass sie nicht nachts kommen und einen aus dem Bett entführen«, sagte er. Er drohte mir neckisch mit dem Zeigefinger, wie man es bei einem kleinen Kind tut.

Ich unterdrückte meine Enttäuschung. »Dann befasst Ihr Euch nicht mit den alten Sagen?« Ich tröstete mich damit, dass ich durch meine Frage wenigstens seinen Eindruck von mir als Einfaltspinsel bestätigt hatte.

Caudicus schnaubte. »Die Chandrian verdienen es noch nicht einmal, Sage genannt zu werden«, sagte er verächtlich. »Höchstens ein Märchen. Abergläubischer Unsinn, mit dem ich meine Zeit nicht verschwende. Kein ernsthafter Gelehrter beschäftigt sich damit.«

Er machte sich im Zimmer zu schaffen, stöpselte Flaschen zu und verstaute sie in Schränken, begradigte Papierstapel und stellte Bücher an ihren Platz im Regal zurück. »Da wir schon von ernsthaftem Studium sprechen: Ihr hattet nach der Familie Lackless gefragt, wenn ich mich recht erinnere.«

Ich sah ihn einen Augenblick begriffsstutzig an. Angesichts der dramatischen Ereignisse der vergangenen Stunden hatte ich meinen Vorwand der Geschichtsschreibung in Form von Anekdoten vom Vortag ganz vergessen.

»Wenn es Euch keine Mühe macht«, sagte ich rasch. »Ich weiß wie gesagt so gut wie nichts über sie.«

Caudicus nickte ernst. »In diesem Fall wärt Ihr gut beraten, Euch zunächst mit ihrem Namen zu beschäftigen.« Er schob eine Alkohollampe unter einen sprudelnden gläsernen Destillierkolben, der von einer eindrucksvollen Anordnung kupferner Röhren umgeben war. Was immer er da destillierte, Pfirsichschnaps schien es jedenfalls nicht zu sein. »Namen verraten bereits eine Menge über ihren Gegenstand.«

Er drehte sich zu mir um, aber da hatte ich meinen Gesichtsausdruck schon wieder unter Kontrolle. »Oh ja«, sagte er. »Sie sind zuweilen aus anderen, älteren Namen entstanden. Je älter ein Name ist, desto mehr verrät er über seine Träger. Lackless ist ein vergleichsweise neuer Name der Familie. Er ist kaum mehr als sechshundert Jahre alt.«

Diesmal brauchte ich mein Erstaunen nicht zu heucheln. »Sechshundert Jahre sind nicht alt?«

»Die Familie Lackless selbst ist viel älter.« Caudicus setzte sich in einen verschlissenen Armsessel. »Noch viel älter als das Geschlecht der Alveron. Vor tausend Jahren war sie mindestens genauso mächtig. Damals gehörten ihr Teile des heutigen Vintas, Modeg und ein großes Gebiet der kleinen Königreiche.«

»Wie hieß die Familie früher?«, fragte ich.

Caudicus zog ein dickes Buch aus dem Regal und blätterte ungeduldig darin. »Hier haben wir es. Die Familie hieß ursprünglich Sloeclos, Sloklos oder Sloeloes. Alle Varianten bedeuten dasselbe: »schlosslos«, »ohne Schloss«. Die genaue Schreibung war damals noch nicht so wichtig.«

»Zu welcher Zeit?«

Er versenkte sich wieder in das Buch. »Vor etwa neunhundert Jahren. In anderen Geschichtsbüchern werden die Sloeclos allerdings schon tausend Jahre vor dem Untergang von Atur erwähnt.«

Dass eine Familie älter sein sollte als ein ganzes Reich, konnte ich mir nur schwer vorstellen. »Aus Sloeclos wurden also Lackless? Warum sollte eine Familie ihren Namen ändern?«

»Manche Historiker würden für die Antwort auf diese Frage ihre rechte Hand geben«, sagte Caudicus. »Als gesichert gilt nur, dass die Familie sich aufgrund eines Streits spaltete. Jeder Zweig nahm dann einen eigenen Namen an. In Atur wurden daraus die Lack-key, eine große Familie, die allerdings in der Folgezeit an Bedeutung verlor. Von Lack-key kommt übrigens das Wort ›Lackai‹ für die vielen verarmten Adligen, die sich überall andienern müssen, um über die Runden zu kommen. Im Süden wurden aus den Sloklos die Slaclith.

Caudicus schloss das Buch und hielt es mir hin. »Ihr könnt es ausleihen, wenn Ihr wollt.«

»Danke.« Ich nahm es. »Das ist sehr freundlich von Euch.«

In der Ferne schlug ein Glockenturm die Stunde. »Aber da rede ich die ganze Zeit und erzähle Euch nutzloses Zeug«, rief Caudicus.

»Ich fand es sehr interessant«, beeilte ich mich zu sagen.

»Wollt Ihr wirklich keine Geschichten über andere Familien hören?« Caudicus stand auf und trat an einen Arbeitstisch. »Ich habe unlängst einen Winter bei der Familie Jakis verbracht. Der Baron ist Witwer. Ihr kennt ihn. Sehr reich und ein wenig exzentrisch.« Er sah mich mit hochgezogenen Brauen und funkelnden Augen an. »Wenn man mir zusichert, dass mein Name nicht genannt wird, würden mir gewiss einige pikante Geschichten einfallen.«

Ich war versucht, eine Ausnahme zu machen, doch dann schüttelte ich den Kopf. »Vielleicht wenn ich mit dem Abschnitt über die Lackless fertig bin«, sagte ich mit der Wichtigkeit dessen, der sich mit seiner ganzen Kraft einem wahrhaft nutzlosen Vorhaben hingibt. »Mein Thema ist sehr heikel, und ich möchte nichts durcheinanderbringen.«

Caudicus runzelte leicht die Stirn, doch dann zuckte er nur die Achseln, krempelte die Ärmel auf und machte sich daran, die Arznei für den Maer zusammenzurühren.

Ich sah ihm wieder bei seinen Vorbereitungen zu. Er betrieb keine Alchemie, dazu hatte ich Simmon zu oft bei der Arbeit beobachtet. Aber auch von Chemie konnte im Grunde nicht die Rede sein. Er schien lediglich einem bestimmten Rezept zu folgen. Doch welche Zutaten verwendete er?

Bei den getrockneten Blättern handelte es sich vermutlich um Bissklein. Die Flüssigkeit in der Flasche mit dem Stöpsel war zweifellos Muratum oder Aqua fortis, jedenfalls eine Säure. In der Bleischale zum Kochen gebracht, löste sie einen kleinen Teil des Bleis aus, vielleicht ein Viertelskrupel. Das weiße Pulver war vermutlich Ophalum.

Caudicus gab noch eine Prise einer letzten Zutat in den Tiegel. Ich

Währenddessen plauderte Caudicus ununterbrochen. Sein Thema war der Klatsch des Hofes. DeFerres ältester Sohn war aus dem Fenster eines Bordells gesprungen und hatte sich dabei das Bein gebrochen. Lady Hesuas neuester Liebhaber war ein Yller und sprach kein Wort Aturisch. Die nach Norden führende Straße des Königs wurde angeblich durch Wegelagerer unsicher gemacht, aber das war nichts Neues, solche Gerüchte gibt es immer.

Ich hege keinerlei Interesse für derlei Klatsch, kann es im Bedarfsfall aber geschickt vortäuschen. Unterdessen ließ ich Caudicus nicht aus den Augen. Ich wartete darauf, dass er sich durch ein nervöses Zucken verriet, durch eine Schweißperle, ein kurzes Innehalten. Doch ich bemerkte nichts, nicht den leisesten Hinweis darauf, dass er ein Gift für den Maer anrührte. Er war die Ruhe selbst und schien vollkommen mit sich im Reinen.

Wusste er etwa gar nicht, dass er den Maer vergiftete? Unmöglich. Jeder Arkanist, der sein Gildenabzeichen wert war, verstand genug von Chemie, um …

Mir dämmerte plötzlich ein Verdacht. Vielleicht war Caudicus gar kein Arkanist, sondern einfach nur ein Mann in einem schwarzen Talar, der nicht zwischen Alligator und Krokodil unterscheiden konnte. Vielleicht war er nur ein Betrüger, der den Maer aus Unwissenheit vergiftete.

Womöglich destillierte er in seinem Kolben tatsächlich Pfirsichschnaps.

Caudicus drückte den Korken auf das Fläschchen mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit und reichte es mir. »Bitte sehr«, sagte er. »Bringt es dem Maer auf dem schnellsten Weg. Es sollte noch warm sein, wenn er es bekommt.«

Die Temperatur einer Arznei hat keinen Einfluss auf deren Wirksamkeit, das weiß jeder Physikus.

Ich nahm das Fläschchen und zeigte auf Caudicus’ Brust, als hätte ich dort soeben etwas bemerkt. »Meiner Treu, ist das ein Amulett?«

Er schien zuerst verwirrt, doch dann zog er den Lederriemen unter seinem Talar hervor. »Jedenfalls etwas in der Art«, erwiderte er

»Dient es als Schutz vor bösen Geistern?«, fragte ich ehrfürchtig.

»Oh ja«, antwortete er ein wenig schnippisch. »Vor allen möglichen Geistern.«

Ich schluckte nervös. »Darf ich es berühren?«

Er zuckte die Schultern, beugte sich vor und hielt es mir hin.

Ich nahm es ängstlich mit Daumen und Zeigefinger und sprang zurück. »Es hat mich gebissen!«, rief ich in einer Mischung aus Empörung und Angst und wrang die Hände.

Caudicus unterdrückte ein Lächeln. »Wirklich? Wahrscheinlich muss ich ihm etwas zu essen geben.« Er steckte das Amulett wieder ein. »Geht jetzt.« Er scheuchte mich mit den Händen zur Tür.

Ich kehrte in die Gemächer des Maer zurück und massierte mir unterwegs die tauben Finger. Das Gildenabzeichen war tatsächlich echt. Caudicus war ein Arkanist und wusste genau, was er tat.

Ich tauschte mit dem Maer befangen einige Floskeln aus, während ich die Futterspender der Schnipper mit der noch warmen Arznei auffüllte. Die Vögel flatterten aufreizend lebendig durch ihren Käfig und flöteten und zwitscherten lieblich.

Der Maer nippte unterdessen an einer Tasse Tee und folgte meinen Verrichtungen vom Bett aus mit den Augen. Ich versorgte die Vögel und verabschiedete mich, sobald der Anstand es erlaubte.

Wir hatten in unserem Gespräch nur über Belanglosigkeiten wie das Wetter geplaudert, trotzdem verstand ich seine Botschaft so deutlich, als hätte er sie für mich aufgeschrieben. Er war wieder Herr der Lage und hielt sich alle Möglichkeiten offen. Er vertraute mir nicht.

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