Kapitel 85 Zwischenspiel: Zäune

Kvothe richtete sich auf seinem Stuhl auf und streckte den Hals, um besser aus dem Fenster sehen zu können. Er hob gerade die Hand für den Chronisten, als sie vom hölzernen Treppenabsatz draußen ein rasches, leichtes, tappendes Geräusch hörten, das zu schnell und leise für die schweren Stiefel eines Bauern war, gefolgt vom hellen Lachen eines Kindes.

Der Chronist deckte rasch den letzten Bogen Papier zu und steckte ihn unter einen Stapel leerer Blätter. Kvothe stand auf und ging zum Tresen. Bast lehnte sich zurück und kippelte mit dem Stuhl.

Da ging die Tür auf, und ein hoch gewachsener junger Mann mit breiten Schultern und schütterem Bart trat ein. Vor sich her schob er behutsam ein blondes Mädchen. Hinter ihm folgte eine junge Frau, auf deren Arm ein kleiner, noch nicht dem Säuglingsalter entwachsener Junge saß.

Kvothe hob lächelnd die Hand. »Mary! Hap!«

Das junge Paar besprach sich kurz, dann ging Hap zum Tisch des Chronisten. Das Mädchen schob er wieder fürsorglich vor sich her. Bast stand auf und bot Hap seinen Stuhl an.

Mary trat an den Tresen und machte nebenbei die Hände des kleinen Jungen von ihren Haaren los. Sie war jung und hübsch und ihr Mund lächelte, doch ihre Augen blickten müde. »Guten Tag, Kote.«

»Ich habe euch beide lange nicht gesehen«, sagte der Wirt. »Kann ich euch Apfelsaft bringen? Ich habe ihn am Vormittag frisch gepresst.«

Die Frau nickte, und der Wirt schenkte Apfelsaft in drei Krüge. Zwei davon trug Bast zu Hap und seiner Tochter. Hap nahm einen,

»Will der kleine Ben einen eigenen Becher?«, fragte Kote.

»Wollen schon«, sagte Mary und sah den Jungen, der die Finger in den Mund gesteckt hatte, lächelnd an. »Ich würde ihm allerdings keinen geben, wenn du den Saft nicht vom Boden aufwischen willst.« Sie griff in ihre Tasche.

Kote schüttelte entschieden den Kopf und hob die Hand. »Kommt nicht in Frage«, sagte er. »Als Hap die Zäune hinter dem Wirthaus repariert hat, hat er für seine Arbeit nicht mal die Hälfte dessen genommen, was ihm eigentlich zustand.«

Mary lächelte angespannt und nahm ihren Krug. »Ich danke dir, Kote.« Sie ging zu dem Tisch, an dem ihr Mann mit dem Chronisten saß, und sprach ebenfalls mit ihm. Das Baby wiegte sie dabei auf der Hüfte. Ihr Mann nickte zu dem, was sie sagte, und warf hin und wieder eine Bemerkung ein. Der Chronist tunkte seine Feder in die Tinte und begann zu schreiben.

Bast kehrte zum Tresen zurück, lehnte sich dagegen und sah neugierig zum Tisch des Chronisten hinüber. »Ich verstehe immer noch so vieles nicht«, sagte er. »Ich weiß zum Beispiel genau, dass Mary selber schreiben kann. Sie hat mir schon Briefe geschrieben.«

Kvothe betrachtete seinen Schüler, dann zuckte er die Achseln. »Er setzt wahrscheinlich Testamente und Urkunden auf, keine Briefe. Urkunden müssen sauber und ordentlich geschrieben sein und dürfen keine Rechtschreibfehler enthalten.« Er wies auf den Chronisten, der in diesem Augenblick ein schweres Siegel auf einen Bogen Papier drückte. »Siehst du? Er ist eine Art Beamter. Was er mit seinem Siegel versieht, hat rechtliches Gewicht.«

»Aber Priester tun dasselbe«, erwiderte Bast. »Abbe Grimes kann auch alles Mögliche beurkunden. Er stellt Heiratsurkunden aus und Verträge, wenn jemand ein Stück Land kauft. Du hast selbst gesagt, dass Priester so etwas gern erledigen.«

Kvothe nickte. »Stimmt, aber ein Priester erwartet, dass du dafür der Kirche Geld spendest. Wenn er dein Testament schreibt und du spendest keinen lumpigen Penny …« Er zuckte die Achseln. »In einem kleinen Ort wie diesem kann einem so etwas das Leben schwer

Bast sah Kvothe entrüstet an. »So etwas würde Abbe Grimes nie tun!«

»Er wahrscheinlich nicht«, gab Kvothe zu. »Für einen Priester ist er ein anständiger Kerl. Aber vielleicht willst du ja der jungen Witwe vom Ende der Straße ein Grundstück vererben und ihrem zweiten Sohn eine Summe Geld?« Kvothe hob vielsagend die Augenbrauen. »So etwas bespricht man ungern mit dem Priester. Es reicht, wenn es später herauskommt, wenn man längst tot und begraben ist.«

Bast nickte und betrachtete das junge Paar, als wollte er ergründen, welche Geheimnisse es wohl zu verbergen hatte.

Kvothe zog einen weißen Lappen hervor und begann geistesabwesend, den Tresen zu wischen. »Meist handelt es sich um etwas ganz Harmloses. Man will zum Beispiel Ellie die Spieluhr vererben, sich aber nicht zehn Jahre lang die Klagen der Schwestern anhören müssen.«

»Wie damals, als die Witwe Graden starb?«

»Stimmt. Du hast selbst erlebt, wie sich die Angehörigen der Witwe im Streit um das Erbe bis aufs Blut bekämpft haben. Die Hälfte von ihnen spricht bis auf den heutigen Tag nicht miteinander.«

Am Tisch des Chronisten ging das Mädchen zu seiner Mutter und zog hartnäckig an ihrem Kleid. Wenig später kam Mary mit dem Mädchen im Schlepptau zum Tresen. »Die kleine Syl müsste mal«, sagte sie entschuldigend. »Können wir …?«

Kote nickte und zeigte auf die Tür neben der Treppe.

Mary hielt den kleinen Jungen Bast hin. »Wärst du so lieb?«

Bast streckte unwillkürlich die Hände aus, nahm den Jungen und stand ungeschickt mit ihm da, während Mary ihre Tochter begleitete.

Der Junge sah sich aufmerksam um, unsicher, was er von der neuen Lage halten sollte. Bast hielt ihn mit steifen Armen von sich weg und sah dabei zu Kvothe. Die Neugier im Gesicht des Jungen wich der Verwirrung und schließlich der Kümmernis. Leise begann er zu wimmern. Er schien noch zu überlegen, ob er weinen wollte oder nicht, und gelangte dann zu dem Schluss, dass er es in der Tat wollte.

Auf dem Tresen schien es dem Jungen besser zu gefallen. Neugierig fuhr er mit der Hand über die glatte Oberfläche und hinterließ einen Fleck. Er sah Bast an und lächelte. »Hund«, sagte er.

»Charmant«, murmelte Bast.

Der kleine Ben steckte die Finger in den Mund und sah sich wieder um. Er schien etwas zu suchen. »Mam«, sagte er. »Mamamama.« Ein bekümmerter Blick trat in seine Augen, und er begann wieder wie schon zuvor leise zu wimmern.

»Halte ihn«, sagte Kvothe und trat vor den Jungen. Sobald Bast ihn wieder genommen hatte, ergriff Kvothe die Füße des Jungen und begann zu deklamieren:

Schuster, Schuster, mache mir Schuh.

Bauer, Bauer, pflanz Weizen dazu.

Bäcker, Bäcker, backe mir Brot.

Schneider, mach mir ein Mützlein rot.

Der Junge sah aufmerksam zu, wie Kvothe zu jedem Vers eine andere Handbewegung machte und etwa Weizen säte oder Teig knetete. Beim letzten Vers gluckste er entzückt und schlug sich wie der rothaarige Mann vor ihm mit den Händen auf den Kopf.

Müller, Müller, kein falsches Gewicht.

Milchmagd, füll deinen Eimer recht.

Töpfer, Töpfer, dreh einen Krug.

Bübchen, küss Papa, dann ist’s genug.

Zum letzten Vers machte Kvothe keine Handbewegung. Stattdessen legte er den Kopf schräg und sah Bast erwartungsvoll an.

Bast erwiderte den Blick verwirrt. Dann dämmerte ihm, was Kvothe damit sagen wollte. »Wie kannst du das denken, Reshi?«, fragte er empört und zeigte auf den Jungen. »Er ist blond!«

Der Junge sah zwischen den beiden Männern hin und her und beschloss,

»Das ist jetzt deine Schuld«, sagte Bast entschieden.

Kvothe hob den Jungen vom Tresen hoch und wiegte ihn ein wenig hin und her, um ihn zu beruhigen, allerdings ohne hörbaren Erfolg. Im nächsten Augenblick kehrte Mary in den Schankraum zurück. Der Kleine heulte noch lauter und bog sich mit ausgestreckten Händen zu seiner Mutter hin.

»Tut mir leid«, sagte Kvothe ein wenig verlegen.

Mary nahm den Jungen auf und er verstummte augenblicklich. Die Tränen standen ihm noch in den Augen. »Dafür kannst du nichts«, sagte sie. »Er klammert sich in letzter Zeit furchtbar an seine Mutter.« Sie rieb lächelnd ihre Nase an Bens Nase und Ben fing wieder glucksend an zu lachen.

»Was habt Ihr ihnen berechnet?«, fragte Kvothe, nachdem er zum Tisch des Chronisten zurückgekehrt war.

Der Chronist hob die Schultern. »Anderthalb Pennys.«

Kvothe hielt mitten im Hinsetzen inne und kniff die Augen zusammen. »Das deckt nicht einmal die Kosten des Papiers.«

Der Chronist sah ihn an. »Aber ich habe schließlich Ohren. Der Schmiedelehrling sagte, die Bentleys hätten nicht viel Geld. Und selbst wenn er es nicht gesagt hätte, hätte ich es doch gesehen. Die Hosen des Mannes sind an den Knien zerschlissen und seine Stiefel fast durchgelaufen. Das Kleid des Mädchens ist zu kurz und besteht zur Hälfte aus Flicken.«

Kvothe nickte grimmig. »Ihr Feld im Süden ist zwei Jahre hintereinander überschwemmt worden. Und in diesem Frühjahr sind ihre beiden Ziegen gestorben. Selbst wenn wir gute Zeiten hätten, wäre es für sie ein schlechtes Jahr. Und mit dem kleinen Baby …« Er holte tief Luft und ließ sie mit einem langen, nachdenklichen Seufzer entweichen. »Schuld sind die Steuern. Wir mussten dieses Jahr schon zweimal zahlen.«

»Soll ich den Zaun noch einmal einreißen, Reshi?«, fragte Bast eifrig.

»Pst, Bast!« Ein Lächeln zuckte um Kvothes Mundwinkel. »Diesmal

»Vielleicht kommt keine mehr«, sagte der Chronist.

Kvothe schüttelte den Kopf. »Bis zur Ernte nicht, aber dann bestimmt. Die regulären Steuereintreiber sind schon schlimm genug, aber sie wissen wenigstens, dass sie gelegentlich auch einmal wegsehen müssen. Sie wissen, dass sie im folgenden Jahr und im Jahr darauf wiederkommen. Aber die Blutsauger …«

Der Chronist nickte. »Sie sind anders«, sagte er grimmig. Dann zitierte er: »›Wenn’s ginge, nähmen den Regen sie dir. Gibt’s Gold nicht, nehmen sie Korn dafür.‹«

Kvothe lächelte schmallippig und fuhr fort:

Hast du kein Korn, nehmen sie dir die Kuh.

Sie nehmen dein Brennholz und die Joppe dazu.

Hast du eine Katze, nehmen sie deine Maus.

Und am Ende nehmen sie dir das Haus.

»Alle hassen sie«, stimmte der Chronist düster zu. »Und die Adligen hassen sie noch einmal so sehr.«

»Das kann ich mir nur schwer vorstellen«, sagte Kvothe. »Ihr solltet hören, wie man hier über sie spricht. Wenn der letzte Steuereintreiber nicht einen schwerbewaffneten Begleiter dabeigehabt hätte, hätte er den Ort kaum lebend verlassen.«

Der Chronist lächelte schief. »Und Ihr hättet hören sollen, wie mein Vater über diese Leute sprach. Dabei bekam er in zwanzig Jahren nur zweimal Besuch von ihnen. Er sagte, Heuschrecken und dann noch eine Feuersbrunst wären ihm lieber als die Blutsauger des Königs.« Der Chronist blickte zur Eingangstür des Schankraums. »Sie sind zu stolz, um sich helfen zu lassen?«

»Noch stolzer«, sagte Kvothe. »Je größer die Armut, desto mehr ist der Stolz wert. Ich kenne das Gefühl. Ich hätte nie einen Freund um Geld gebeten. Eher wäre ich verhungert.«

»Und Geld leihen?«, fragte der Chronist.

»Wer hat dieser Tage schon Geld zu verleihen?«, fragte Kvothe bitter. »Die meisten Menschen werden im kommenden Winter hungern.

Er sah auf seine Hände hinab, die auf dem Tisch lagen, und schien überrascht, dass eine davon zur Faust geballt war. Langsam öffnete er sie und drückte beide Hände mit gespreizten Fingern auf die Tischplatte. Dann sah er den Chronisten mit einem reuigen Lächeln an. »Wusstet Ihr, dass ich nie Steuern gezahlt habe, bevor ich hierher kam? Die Edema haben in der Regel keinen Grundbesitz.« Er zeigte auf den Schankraum. »Ich konnte mir nie vorstellen, wie schrecklich das ist. Wenn so ein aufgeblasener Wicht mit einem Buch daherkommt und einem für das Privileg, etwas zu besitzen, Geld abknöpfen will.«

Kvothe bedeutete dem Chronisten, die Feder aufzunehmen. »Inzwischen verstehe ich es viel besser. Ich kenne die finsteren Wünsche, die eine Gruppe von Männern dazu bringen, den Steuereintreibern an der Straße aufzulauern und sie in offener Auflehnung gegen den König zu töten.«

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