Kapitel 48 Eine signifikante Lücke
Nun folgte die Auslosung der Prüfungstermine, und ich hatte das Glück, einen späten Termin zu ziehen. Ich war froh, dass mir noch ein bisschen mehr Zeit blieb, denn durch das Gerichtsverfahren war ich kaum dazu gekommen, mich auf die Zulassungsprüfung vorzubereiten.
Dennoch machte ich mir keine allzu großen Sorgen. Ich hatte Zeit zu lernen und Zugang zur Bibliothek. Darüber hinaus war ich zum ersten Mal, seit ich an die Universität gekommen war, nicht mehr arm wie eine Kirchenmaus. Ich hatte dreizehn Talente im Geldbeutel. Selbst wenn ich Devis Darlehenszinsen abzog, blieb mir damit sicherlich noch genug für meine Studiengebühren.
Und was das Beste war: In den vielen Stunden, die ich nach einem Gram-Bauplan gesucht hatte, hatte ich sehr viel über die Universitätsbibliothek gelernt. Ich kannte mich darin nun zwar vielleicht nicht so gut aus wie ein erfahrener Bibliothekar, war dafür aber mit vielen der verborgenen Winkel und Geheimnisse vertraut. Und so kam es, dass ich mir dort neben den Prüfungsvorbereitungen auch noch andere Lektüren gestattete.
Ich schlug das Buch zu, das ich eifrig studiert hatte – eine gut geschriebene und umfassende Geschichte der aturischen Kirche. Die Lektüre dieses Buchs hatte ebenso wenig ergeben wie der anderen Werke auch. Wilem hob den Blick, als er mich das Buch zuklappen hörte. »Nichts?«, fragte er.
Wir beide büffelten in einem Lesezimmer in der dritten Etage. Es war zwar viel kleiner als unser gewohntes Zimmer eine Etage tiefer, aber so kurz vor den Prüfungen konnten wir froh sein, überhaupt noch ein Zimmer für uns allein ergattert zu haben.
»Gib’s doch einfach auf«, sagte Wil. »Wie lange verschwendest du mit den Amyr nun schon deine Zeit? Seit zwei Spannen?«
Ich nickte, wollte ihm nicht gestehen, dass ich mit den Recherchen zu den Amyr schon lange vor unserer Wette begonnen hatte, die uns dann schließlich zu Puppet führte.
»Und was hast du bisher entdeckt?«
»Regaleweise Bücher«, sagte ich. »Dutzende Anekdoten. Erwähnungen in hundert Geschichtswerken.«
»Und diese Fülle an Informationen irritiert dich.«
»Nein«, erwiderte ich. »Der Mangel an Informationen ist es, was mich stört. Es gibt in all diesen Büchern keine einzige verlässliche Information über die Amyr.«
»Keine einzige?«, erwiderte Wilem skeptisch.
»Oh, jeder Historiker der letzten dreihundert Jahre erwähnt sie«, sagte ich. »Und dann spekulieren sie darüber, inwiefern die Amyr den Untergang des Reichs beeinflusst haben könnten. Philosophen diskutieren die ethischen Implikationen ihrer Taten.« Ich deutete auf die Bücher. »Das alles sagt viel darüber, was bestimmte Leute über die Amyr dachten. Es sagt aber nichts über die Amyr selbst.«
Wilem beäugte stirnrunzelnd meinen Bücherstapel. »Das können doch nicht alles nur Geschichtsschreiber und Philosophen sein.«
»Es gibt auch Anekdoten über sie«, sagte ich. »Anfangs waren es Geschichten über all das Unrecht, das sie aus der Welt schafften. Später dann waren es Geschichten über die schrecklichen Untaten, die sie selbst begingen. Ein Amyr hat in Renere einen korrupten Richter getötet. Ein anderer hat in Junpui einen Bauernaufstand niedergeschlagen. Ein dritter hat in Melithi den halben Adel der Stadt vergiftet.«
»Und das sind keine verlässlichen Informationen?«, fragte Wilem.
»Es sind nur Anekdoten«, sagte ich. »Aus zweiter oder gar dritter Hand. Drei Viertel davon beruhen lediglich auf Hörensagen. Und ich
»Das ist dreihundert Jahre her«, sagte Wilem. »Du kannst nicht erwarten, dass diese ganzen kleinen Einzelheiten sich erhalten haben.«
»Ich erwarte aber, dass wenigstens einige dieser kleinen Einzelheiten sich erhalten haben. Du weißt doch, wie penibel die Tehlaner mit ihren Akten sind«, sagte ich. »Wir haben hier im zweiten Untergeschoss Gerichtsakten aus tausend Jahren und hundert Städten. Ganze Räume voll …«
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber gut. Lassen wir die kleinen Einzelheiten beiseite. Es gibt nämlich auch große Fragen, auf die ich keine Antwort finde. Wann wurde der Orden der Amyr gegründet? Wie viel Amyr gab es? Wer hat sie bezahlt, und wie viel Geld haben sie bekommen? Woher stammte dieses Geld? Wo wurden sie ausgebildet? Wie kam es, dass sie ein Teil der Tehlanerkirche wurden?«
»Diese Frage hat Feltemi Reis beantwortet«, sagte Wilem. »Sie gingen aus der Tradition der Bettelrichter hervor.«
Ich nahm wahllos eines der Bücher und legte es vor ihm auf den Tisch. »Dann zeig mir einen einzigen Beweis für diese Theorie. Zeig mir einen einzigen Aktenvermerk, der belegt, dass ein Bettelrichter in den Rang eines Amyr erhoben wurde. Zeig mir einen einzigen Beleg dafür, dass ein Amyr in den Diensten eines Gerichtshofs stand. Zeig mir ein einziges Kirchendokument, dem sich entnehmen lässt, dass ein Amyr einen Fall verhandelt hat.« Ich verschränkte mit streitlustiger Miene die Arme vor der Brust. »Los, ich warte.«
Wilem beachtete das Buch gar nicht. »Vielleicht gab es gar nicht so viele Amyr, wie man immer annimmt. Vielleicht waren es nur einige wenige Personen, und ihr Ruf entstand durch die Macht, die sie ausübten.« Er sah mich vielsagend an. »Du müsstest doch wissen, wie so was funktioniert.«
»Nein«, sagte ich. »Das ist eine signifikante Lücke. Manchmal findet man nämlich etwas, indem man nichts findet.«
Ich sah ihn mit einem Stirnrunzeln an, beschloss aber, nicht darauf anzuspringen. »Nein, hör mir mal kurz zu. Wieso gibt es nur so wenige stichhaltige Informationen über die Amyr? Dafür gibt es nur drei mögliche Erklärungen.«
Ich streckte drei Finger hoch, um es an ihnen abzuzählen. »Erstens: Es wurde nichts schriftlich festgehalten. Ich denke mal, das können wir ausschließen. Sie waren zu bedeutsam, um von sämtlichen Historikern, Aktenschreibern und Protokollanten der Kirche vollkommen vernachlässigt zu werden.« Ich zog den ersten Finger wieder ein.
»Zweitens: Aufgrund irgendeines seltsamen Zufalls sind die Bücher, die Informationen über sie enthalten, einfach nie in diese Bibliothek gelangt. Aber auch das kann nicht sein. Es ist schlicht und einfach nicht vorstellbar, dass in all den Jahren nichts über dieses Thema in der größten Bibliothek der Welt gelandet sein sollte.« Ich zog auch den zweiten Finger wieder ein.
»Drittens«, sagte ich und reckte nun nur noch einen Finger empor. »Irgendjemand hat diese Informationen getilgt, abgeändert oder vernichtet.«
Wilem runzelte die Stirn. »Wer würde so was tun?«
»Tja, wer?«, sagte ich. »Wer würde am meisten davon profitieren, wenn alle Informationen über die Amyr verschwinden würden?« Ich zögerte, machte es spannend. »Wer außer den Amyr selbst?«
Ich hatte erwartet, dass er diese Idee sofort abtun würde, doch dem war nicht so. »Ein interessanter Gedanke«, sagte er. »Aber warum sollte man annehmen, dass die Amyr selbst dahinter stecken? Es wäre doch viel plausibler, anzunehmen, dass die Kirche dafür verantwortlich ist. Es würde den Tehlanern doch sicherlich sehr gefallen, wenn die Untaten der Amyr in Vergessenheit gerieten.«
»Das stimmt«, sagte ich. »Aber die Kirche hat hier im Commonwealth keinen allzu großen Einfluss. Und diese Bücher kommen aus der ganzen Welt. Ein kealdischer Historiker hätte doch keine Bedenken, eine Geschichte der Amyr zu schreiben.«
»Ein kealdischer Historiker hätte aber auch kein allzu großes Interesse, über den ketzerischen Zweig einer heidnischen Kirche zu
Ich beugte mich vor. »Ich glaube, die Amyr sind in Wirklichkeit viel älter als die Tehlanerkirche«, sagte ich. »In den Zeiten des Aturischen Reichs leiteten sie einen Großteil ihrer Macht von der Kirche her, aber sie waren weit mehr als nur eine Gruppe umherziehender Richter.«
»Und was führt dich zu dieser Auffassung?«, fragte Wil. Seinem Gesichtsausdruck entnahm ich, dass ich seine Zustimmung gerade eher verlor als gewinnen.
Eine antike Vase, dachte ich. Eine Geschichte, die ich in Tarbean von einem alten Mann gehört habe. Ich weiß es, weil einem der Chandrian etwas Entsprechendes rausgerutscht ist, nachdem sie meine ganze Familie niedergemetzelt hatten.
Ich seufzte und schüttelte den Kopf. Mir war klar, wie verrückt es klingen würde, wenn ich ihm die Wahrheit sagte. Deshalb hatte ich die Universitätsbibliothek durchstöbert. Ich brauchte irgendetwas Greifbares, das meine Theorie untermauerte, etwas, womit ich mich nicht dem allgemeinen Gelächter preisgab.
»Ich habe Abschriften von Gerichtsakten gefunden, aus der Zeit, als die Amyr verurteilt wurden«, sagte ich. »Weißt du, wie viele Amyr sie damals in Tarbean vor Gericht gestellt haben?«
Wil zuckte die Achseln.
Ich hob einen Finger. »Einen. Einen einzigen Amyr in ganz Tarbean. Und der Schreiber, der das Verfahren protokollierte, hat deutlich vermerkt, dass es sich bei dem Mann, der da vor Gericht gestellt wurde, um einen Einfaltspinsel handelte, der gar nicht begriff, worum es ging.«
Ich sah immer noch Zweifel auf Wilems Gesicht. »Man stelle sich das vor«, sagte ich. »Die Bruchstücke, die ich gefunden habe, deuten darauf hin, dass es im ganzen Reich zu dem Zeitpunkt, als sie aufgelöst wurden, mindestens dreitausend Amyr gab. Dreitausend bestens ausgebildete, schwer bewaffnete, finanzkräftige Männer und Frauen, die felsenfest entschlossen waren, dem allgemeinen Wohl zu dienen.
Ich sah ihn mit ernstem Blick an und schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein. Das ginge gegen die Natur des Menschen. Und außerdem habe ich keinen einzigen Anhaltspunkt dafür gefunden, dass auch nur ein Mitglied der Amyr von der Kirche vor Gericht gestellt worden wäre. Keinen einzigen. Ist es da wirklich so weit hergeholt, sich vorzustellen, dass sie beschlossen haben könnten, in den Untergrund zu gehen, um ihre Arbeit im Geheimen fortzuführen?
Und wenn diese Annahme plausibel erscheint«, fuhr ich fort, bevor Wilem mich unterbrechen konnte, »erscheint es dann nicht auch plausibel, dass sie versuchen könnten, ihr Geheimnis zu wahren, indem sie über Jahrhunderte hinweg ihre Spuren aus den Geschichtsbüchern tilgen?«
Darauf herrschte erst mal Schweigen.
Wilem tat es nicht von vornherein ab. »Eine interessante Theorie«, sagte er. »Aber sie führt mich zu einer letzten Frage.« Er sah mich besorgt an. »Hast du was getrunken?«
Ich sank auf meinem Stuhl zusammen. »Nein.«
Er stand auf. »Dann solltest du damit anfangen. Du hast viel zu viel Zeit mit diesen Büchern verbracht. Du musst dir den Staub aus dem Gehirn spülen.«
Also gingen wir etwas trinken, aber von meinem Verdacht ließ ich nicht ab. Ich trug die Idee Simmon vor, als ich das nächste Mal Gelegenheit dazu hatte. Er akzeptierte sie bereitwilliger als Wilem. Damit will ich nicht sagen, dass er mir glaubte – er akzeptierte einfach nur, dass diese Möglichkeit bestand. Und er sagte, ich sollte es Lorren gegenüber erwähnen.
Doch das tat ich nicht. Der stets ausdruckslos dreinblickende Meister der Bibliothek machte mich immer noch nervös, und ich