Wieder zu Hause

Schließlich legten wir in Tarbean an, wo mir die Seeleute zu einer preiswerten Koje auf einem Segelschiff verhalfen, das flussaufwärts nach Anilin fuhr. Zwei Tage später ging ich in Imre an Land und von dort im ersten Licht der Morgendämmerung hinüber zur Universität.

So etwas wie eine Heimat hatte ich nie gehabt. Als Kind war ich auf den nimmer endenden Reisen meiner Truppe aufgewachsen. Mein Zuhause war kein bestimmter Ort gewesen, sondern bestimmte Leute und bestimmte Wagen. Später dann in Tarbean besaß ich einen geheimen Unterschlupf, eine Stelle, an der drei Dächer zusammentrafen, die mir Schutz vor dem Regen boten. Dort schlief ich und bewahrte einige Dinge auf, die mir am Herzen lagen, aber ein Zuhause war das nicht gewesen.

Aus diesem Grund hatte ich auch nie das Gefühl der Heimkehr nach einer langen Reise erlebt. Ich empfand es an diesem Tag zum ersten Mal, als ich den Omethi überquerte und sich die Steine der Brücke vertraut unter meinen Füßen anfühlten. An der höchsten Stelle des Brückenbogens angelangt, sah ich die grauen Umrisse der Universitätsbibliothek hinter den Bäumen aufragen.

Es war tröstlich, die Straßen der Universität unter den Füßen zu spüren. Ich war ein Dreivierteljahr lang fort gewesen. In mancher Hinsicht erschien es mir sogar noch viel länger, doch zugleich war mir alles so vertraut, dass es mir vorkam, als wäre ich nur einen einzigen Tag verreist gewesen.

Es war noch sehr früh, als ich zum ANKER’S kam, und die Eingangstür war verschlossen. Ich überlegte kurz, ob ich zu meinem Fenster hinaufsteigen sollte, ließ es dann aber bleiben, da ich mit Lautenkasten und Reisesack beladen war und auch noch Caesura trug.

Stattdessen ging ich ins Mews und klopfte an Simmons Tür. Mir war klar, dass ich ihn zu so früher Stunde damit weckte, aber ich sehnte mich einfach nach einem vertrauten Gesicht. Ich wartete ein wenig, und als ich nichts hörte, klopfte ich noch einmal lauter und setzte mein schönstes lässiges Lächeln auf.

Sim öffnete die Tür, mit wirrem Haar und rot geränderten Augen. Er guckte mich verschlafen an, und einen Moment lang blieb sein Gesicht ausdruckslos. Dann stürzte er sich mir in die Arme.

»Beim geschwärzten Leib Gottes«, sagte er und griff damit zu dem stärksten Kraftausdruck, den ich ihn je hatte gebrauchen hören. »Kvothe. Du lebst.«

Sim vergoss einige Tränen, brüllte mich dann eine Zeit lang an, und schließlich lachten wir gemeinsam und klärten einiges auf. Graf Threpe hatte meine Reisen offenbar genauer verfolgt, als mir bewusst gewesen war. Als das Schiff, auf dem ich fuhr, als vermisst galt, hatte er das Schlimmste befürchtet.

Ein Brief hätte das alles klären können, aber auf die Idee war ich nie gekommen. Die Vorstellung, den Daheimgebliebenen zu schreiben, war mir vollkommen fremd.

»Das Schiff war angeblich gesunken, und es hatte keine Überlebenden gegeben«, sagte Sim. »Das sprach sich im EOLIAN herum, und rate mal, wer diese Nachricht brachte.«

»Stanchion?«, sagte ich, da ich ja wusste, dass er eine ziemliche Klatschbase war.

Sim blickte ernst und schüttelte den Kopf. »Ambrose.«

»Na wunderbar«, bemerkte ich trocken.

»Es wäre in jeden Fall eine böse Nachricht gewesen«, sagte Sim. »Ganz egal, von wem sie gekommen wäre. Aber dann kam sie ausgerechnet von ihm. Ich war halbwegs überzeugt, dass er irgendwie selbst hinter diesem Schiffbruch steckte.« Er lächelte matt. »Er hat abgewartet bis kurz vor meiner Zulassungsprüfung, und dann erst hat er es mir erzählt. Daraufhin habe ich bei der Prüfung natürlich komplett versagt und bin noch ein Trimester lang E’lir geblieben.«

»Aber mittlerweile hast du’s dann doch zum Re’lar gebracht?«, fragte ich.

Er grinste. »Erst gestern. Ich war gerade dabei, meinen Rausch von der Feier auszuschlafen, als du mich geweckt hast.«

»Und wie geht es Wil?«, fragte ich. »Hat ihn die Nachricht schwer getroffen?«

»Der ist wie eh und je«, sagte Sim. »Aber was das angeht: Ja, das hat ihn mitgenommen.« Er verzog das Gesicht. »Und dann hat ihm Ambrose auch noch in der Bibliothek das Leben schwer gemacht. Wil hatte die Faxen dicke und ist für ein Trimester in seine Heimat gereist. Er müsste eigentlich heute wiederkommen.«

»Und wie geht es den anderen?«, fragte ich.

Da schien Sim ganz plötzlich etwas einzufallen. Er stand auf. »Oh Gott, Fela!« Er setzte sich wieder. »Oh Gott, Fela«, sagte er noch einmal, aber in einem ganz anderen Ton.

»Was ist denn?«, fragte ich. »Ist ihr irgendwas zugestoßen?«

»Sie hat die Nachricht auch nicht gut verkraftet.« Er lächelte mich unsicher an. »Wie sich herausgestellt hat, war sie ziemlich verknallt in dich.«

»Fela?«, sagte ich törichterweise.

»Weißt du nicht mehr? Wil und ich waren doch immer überzeugt, dass sie auf dich steht.«

Das schien Ewigkeiten her zu sein. »Ja, ich erinnere mich.«

Sim wirkte beklommen. »Na ja, jedenfalls … Als du dann weg warst, haben Wil und ich uns oft mit ihr getroffen und viel Zeit mit ihr verbracht. Und …« Er machte eine unbeholfene Geste und wusste offenbar nicht, ob er verlegen gucken oder grinsen sollte.

Da ging mir ein Licht auf. »Du und Fela? Sim, das ist doch großartig!« Ich spürte, wie ich übers ganze Gesicht strahlte, doch dann sah ich seinen Blick. »Oh.« Mein Lächeln schwand. »Sim, ich würde dir da doch nie in die Quere kommen.«

»Ich weiß, dass du das nicht tun würdest.« Er lächelte matt. »Und ich vertraue dir.«

Ich rieb mir die Augen. »Das ist ja wirklich eine tolle Heimkehr. Und dabei habe ich noch nicht mal die Zulassungsprüfung absolviert.«

»Heute ist der letzte Tag«, bemerkte Sim.

»Ja, ich weiß«, sagte ich und stand auf. »Aber vorher habe ich noch etwas zu erledigen.«

Ich ließ mein Gepäck bei Simmon und ging zum Quästor im Untergeschoss des Hollows. Riem war ein Mann mit verkniffenem Gesicht und schütterem Haar, der mich nicht ausstehen konnte, seit mir die Meister in meinem ersten Trimester negative Studiengebühren auferlegt hatten. Er war es nicht gewohnt, Geld auszuzahlen, und die ganze Sache war ihm komplett gegen den Strich gegangen.

Ich zeigte ihm meinen Kreditbrief von Alveron. Es handelte sich dabei, wie gesagt, um ein beeindruckendes Dokument. Eigenhändig vom Maer unterschrieben. Mit Wachssiegeln versehen. Auf feinstem Pergament. Ein kalligraphisches Meisterwerk.

Ich machte den Quästor darauf aufmerksam, dass dieses Schreiben der Universität gestattete, jedweden Betrag einzuziehen, der zur Begleichung meiner Studiengebühren erforderlich war. Jedweden Betrag.

Der Quästor las sich alles genau durch und bestätigte, dass dem offenbar tatsächlich so sei.

Es sei doch sehr schade, dass meine Studiengebühren immer so niedrig ausfielen, dachte ich laut nach. Nie mehr als zehn Talente. Das sei doch für die Universität eine verpasste Chance. Denn der Maer sei ja schließlich reicher als der König von Vint. Und er würde Studiengebühren in beliebiger Höhe begleichen …

Riem war ein gewiefter Mann und verstand sofort, worauf ich hinauswollte. Nach kurzem, energischem Feilschen schüttelten wir einander die Hand, und ich sah ihn zum allerersten Mal lächeln.

Ich aß eine Kleinigkeit zu Mittag und stellte mich dann mit den anderen Studenten an, die noch einen Prüfungstermin brauchten. Die meisten von ihnen waren Ersttrimester, aber es waren auch einige Rückkehrer darunter, so wie ich. Die Schlange war lang, und alle waren sichtlich mehr oder weniger nervös. Ich pfiff vor mich hin, um mir die Zeit zu vertreiben, und kaufte mir bei einem Mann, der mit einem Karren herumging, eine Fleischpastete und einen Glühwein.

Als ich schließlich in den Lichtkreis vor dem Tisch der Meister trat, erregte ich einiges Aufsehen. Sie hatten die Nachricht gehört und waren überrascht, mich am Leben zu sehen, doch bei den meisten schien es eine freudige Überraschung zu sein. Kilvin verlangte mich baldmöglichst in seiner Werkstatt zu sehen, und Mandrag, Dal und Arwyl debattierten darüber, welche Fächer ich künftig studieren sollte. Elodin winkte mir lediglich zu. Er war der Einzige, den meine wundersame Rückkehr aus dem Reich der Toten nicht zu beeindrucken schien.

Nach diesem kurzen angenehmen Durcheinander stellte der Rektor die Ordnung wieder her und begann mit meiner Befragung. Dals und Kilvins Fragen beantwortete ich mit Leichtigkeit. Bei Brandeur jedoch kam ich mit einigen Zahlen durcheinander und musste dann gestehen, dass ich auf Mandrags Frage, bei der es um Sublimation ging, schlicht und einfach keine Antwort wusste.

Elodin verzichtete mit einem Achselzucken auf seine Gelegenheit, mich zu befragen, und gähnte stattdessen herzhaft. Lorren stellte mir eine erstaunlich einfach Frage über die ketzerischen Lehren der Mender, auf die ich eine schnelle und kluge Antwort wusste. Über Arwyls Frage, bei der es um Lacillium ging, musste ich dagegen etwas länger nachdenken.

Damit blieb nur noch Hemme übrig, der mich finster angeblickt hatte, seit ich vor dem Tisch der Meister aufgetaucht war. Meine bisher allenfalls durchwachsene Prüfungsleistung hatte ihm mittlerweile ein selbstgefälliges Lächeln entlockt. Bei jeder falschen Antwort von mir hatten seine Augen gefunkelt.

»Nun denn«, sagte er und kramte in den vor ihm liegenden Papieren. »Ich hätte ja nicht gedacht, dass wir uns noch einmal mit einem Unruhestifter wie dir herumschlagen müssen.« Er warf mir ein unaufrichtiges Lächeln zu. »Ich hatte gehört, du seist tot.«

»Und ich habe gehört, dass Ihr ein rotes Spitzen-Korsett tragt«, erwiderte ich in sachlichem Ton. »Aber ich glaube ja schließlich nicht jeden Blödsinn, den man sich so erzählt.«

Darauf gab es einiges Herumgebrülle, und ich wurde des ungehörigen Verhaltens gegenüber einem Meister beschuldigt. Man verurteilte mich, zur Strafe ein Entschuldigungsschreiben aufzusetzen und eine Buße von einem Silbertalent zu entrichten. Bestens angelegtes Geld.

Es war tatsächlich ungehörig von mir, und der Zeitpunkt dafür hätte nach meinen durchwachsenen Prüfungsleistungen kaum ungünstiger sein können. Die Folge war, dass man mir Studiengebühren in Höhe von vierundzwanzig Talenten aufbrummte. Das war mir natürlich äußerst unangenehm.

Anschließend ging ich zurück ins Büro des Quästors. Ich legte Riem das Bürgschaftsschreiben von Alveron nunmehr offiziell vor und strich inoffiziell meinen mit ihm vereinbarten Anteil ein: Die Hälfte von allem über zehn Talente. Als ich die sieben Talente einsackte, fragte ich mich, ob wohl jemals schon jemand für seine Unverschämtheit und sein Unwissen so gut bezahlt worden war.

Dann ging ich zum ANKER’S, wo ich zu meiner Freude feststellte, dass niemand den Wirt von meinem Tod unterrichtet hatte. Mein Zimmerschlüssel lag zwar auf dem Grunde der Sundersee, aber Anker hatte noch einen zweiten in Reserve. Ich ging hinauf und erblickte mit einem Gefühl der Erleichterung die altvertrauten Dachschrägen und das schmale Bett. Alles in dem Zimmer war mit einer Staubschicht bedeckt.

Man sollte ja meinen, dass mir diese enge Dachkammer nach den üppigen Gemächern bei Alveron beengt vorgekommen wäre. Doch dem war überhaupt nicht so. Schnell begann ich, meinen Reisesack auszupacken und die Zimmerecken von Spinnweben zu befreien.

Eine Stunde später hatte ich das Schloss der Truhe am Fußende meines Betts geknackt und die Sachen herausgeholt, die ich darin eingelagert hatte. Ich stieß auf die Einzelteile der Harmonie-Uhr und beschäftigte mich ein wenig damit, wobei ich mich zu erinnern versuchte, ob ich damals gerade dabei gewesen war, sie auseinanderzunehmen oder wieder zusammenzusetzen.

Da ich keine dringenden Verpflichtungen hatte, ging ich anschließend wieder hinüber nach Imre. Ich schaute im EOLIAN vorbei, wo mich Deoch mit einer begeisterten Umarmung empfing, die mich von den Füßen hob. Nachdem ich mich so lange unter Fremden und Feinden aufgehalten hatte, wusste ich fast gar nicht mehr, wie es war, von der Wärme freundlicher Gesichter umgeben zu sein. Deoch, Stanchion und ich tranken etwas miteinander und erzählten uns alles Mögliche, bis es draußen dunkel wurde, und dann ging ich, damit sie sich um ihre Geschäfte kümmern konnten.

Ich streifte eine Zeit lang durch die Stadt, schaute in ein paar altbekannten Pensionen und Wirtshäusern vorbei, in zwei oder drei öffentliche Gärten und bei einer Bank unter einem Baum auf einem Hof. Deoch hatte mir gesagt, dass er Denna seit einem Jahr nicht mehr gesehen hatte. Doch sogar nach ihr zu suchen und sie nicht zu finden war in gewisser Weise tröstlich. In mancher Hinsicht schien das die Quintessenz unseres Verhältnisses zu sein.

Später an diesem Abend stieg ich aufs Hauptgebäude hinauf und bahnte mir meinen Weg durch das altvertraute Labyrinth aus Schornsteinen und Dachabschnitten aus Schiefer, Ziegeln und Zinnblech. Als ich um eine Ecke bog, sah ich Auri auf einem Schornstein sitzen. Ihr langes, feines Haar schwebte ihr um den Kopf, als wäre sie unter Wasser. Sie blickte zum Mond empor und ließ ihre nackten Füße baumeln.

Ich räusperte mich dezent, und sie sah sich zu mir um. Sie sprang von dem Schornstein herab, huschte übers Dach und blieb ein paar Schritte vor mir stehen. Ihr Lächeln strahlte heller als der Mond. »In Grillistan lebt jetzt eine ganze Igelfamilie!«, sagte sie aufgeregt.

Sie kam noch zwei Schritte näher und nahm mit beiden Händen meine Hand. »Die Jungen sind winzig!« Sie zog mich sacht. »Kommst du dir das ansehen?«

Ich nickte, und Auri führte mich über das Dach zu dem Apfelbaum, an dem wir in den Hof hinabklettern konnten. Dort unten angelangt, sah sie zu dem Baum hinauf und dann auf meine gebräunte Hand hinab, die sie nun wieder in ihren weißen Händchen hielt. Ihr Griff war fest, und sie schien nicht so schnell wieder loslassen zu wollen.

»Du hast mir gefehlt«, sagte sie leise, ohne hochzusehen. »Geh nicht wieder weg.«

»Ich habe nicht vor, wieder wegzugehen«, sagte ich sacht. »Dafür habe ich hier viel zu viel zu tun.«

Auri neigte den Kopf seitwärts und spähte durch ihre Haarwolke zu mir hoch. »Wie zum Beispiel mich zu besuchen?«

»Wie zum Beispiel dich zu besuchen.«

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