Ankunft im Dorf

Levinshir war keine große Ortschaft. Etwa zweihundert Menschen lebten dort, vielleicht auch dreihundert, wenn man die umliegenden Bauernhöfe mit einrechnete. Bei unserer Ankunft war Essenszeit, und die unbefestigte Straße, die das Dorf teilte, war leer und verlassen. Ellie sagte, sie wohne auf der anderen Seite der Ortschaft. Ich hoffte, dass uns auf dem Weg dorthin niemand sehen würde. Die beiden Mädchen waren erschöpft und verstört, und ein Publikum klatschsüchtiger Nachbarn war das Letzte, was sie brauchten.

Aber es sollte nicht sein. Auf halbem Weg durch den Ort sah ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung in einem Fenster. »Ell!«, rief eine Frauenstimme, und nur wenige Augenblicke später kamen aus sämtlichen Türen Menschen heraus.

Die Frauen waren schneller als die Männer. Innerhalb einer Minute umringte etwa ein Dutzend von ihnen wie schützend die beiden Mädchen. Sie redeten, weinten und umarmten einander. Den Mädchen schien es nichts auszumachen. Vielleicht war es besser so. Ein herzliches Willkommen konnte ihre Genesung beschleunigen.

Die Männer hielten sich zurück, da sie wussten, dass sie in solchen Situationen nur störten. Die meisten sahen von der Haustür oder Treppe aus zu. Ein halbes Dutzend kam langsam auf der Straße näher. Es waren vorsichtige Menschen, Bauern und deren Freunde, die sich im Umkreis von zehn Meilen alle mit Namen kannten. In einer Ortschaft wie Levinshir gab es – mit Ausnahme von mir – keinen Fremden.

Keiner der Männer war ein naher Angehöriger der Mädchen. Und selbst wenn es so gewesen wäre, hätten sie doch gewusst, dass sie noch eine Stunde oder auch einen ganzen Tag warten mussten, bis sie mit ihnen sprechen konnten. Also überließen sie die Mädchen der Obhut ihrer Frauen und Schwestern. In Ermangelung einer anderen Beschäftigung wandten sie ihre Aufmerksamkeit den Pferden zu und dann mir.

Ich winkte einen etwa zehnjährigen Jungen zu mir. »Melde dem Bürgermeister, dass seine Tochter wieder da ist. Lauf!« Der barfüßige Junge rannte so schnell er konnte los und ließ eine Staubwolke hinter sich.

Die Männer näherten sich mir. Ihr angeborenes Misstrauen gegenüber Fremden war durch die jüngsten Ereignisse noch zehnfach verschärft worden. Ein zwölfjähriger Junge, der nicht so vorsichtig war wie die anderen, trat vor mich und betrachtete mein Schwert und meinen Mantel.

»Wie heißt du?«, fragte ich.

»Pete.«

»Kannst du reiten, Pete?«

Er sah mich gekränkt an. »Natürlich.«

»Weißt du, wo der Hof der Walkers liegt?«

Er nickte. »Am Mühlenweg zwei Meilen nördlich von hier.«

Ich trat zur Seite und reichte ihm die Zügel des Eisenschimmels. »Sag den Walkers, ihre Tochter ist wieder zu Hause. Sie sollen mit dem Pferd herkommen.«

Der Junge hatte sich bereits mit einem Bein hinaufgeschwungen, bevor ich ihm helfen konnte. Ich hielt die Zügel fest, während ich die Steigbügel kürzer schnallte, damit er unterwegs nicht herunterfiel.

»Wenn du es hin und zurück schaffst, ohne dir den Hals und meinem Pferd das Bein zu brechen, bekommst du einen Penny«, sagte ich.

»Dann bekomme ich zwei«, rief er.

Ich lachte und er wendete und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Die Männer waren inzwischen noch näher gekommen und hatten sich in einem losen Kreis um mich versammelt.

Ein hochgewachsener Mann mit schütterem Haar, finsterem Gesicht und grauem Bart schien sich als Anführer der Gruppe zu verstehen. »Wer bist du?«, fragte er. Sein Ton sprach eine deutlichere Sprache als seine Worte. Wer zum Teufel bist du?

»Kvothe«, antwortete ich freundlich. »Und du?«

»Wüsste nicht, was dich das angeht«, knurrte der Mann. »Was hast du hier zu suchen?« Was zum Teufel hast du mit unseren beiden Mädchen angestellt?

»Mein Gott, Seth«, fiel ein älterer Mann ein, »du hast so wenig Benehmen wie ein Hund. So redet man doch nicht mit …«

»Komm mir nicht damit, Benjamin«, gab der Mann mit dem finsteren Gesicht unwillig zurück. »Wir haben ein Recht darauf zu wissen, wer er ist.« Er wandte sich wieder an mich und trat einige Schritte vor die anderen. »Bist du einer von diesen elenden Schauspielern, die letzte Woche hier waren?«

Ich schüttelte den Kopf und versuchte, ganz harmlos auszusehen. »Nein.«

»Ich glaube schon. Für mein Gefühl siehst du wie einer von diesen Ruh aus. Du hast dieselben Augen.« Die anderen Männer reckten die Hälse, um mein Gesicht besser sehen zu können.

»Mein Gott, Seth«, mischte sich der Ältere wieder ein. »Von denen hatte doch keiner rote Haare. An solche Haare erinnert man sich doch. Er gehört nicht dazu.«

»Und warum sollte ich die Mädchen zurückbringen, wenn ich einer ihrer Entführer wäre?«, gab ich zu bedenken.

Die Miene des Mannes wurde noch finsterer, und er kam noch einen Schritt näher. »Willst du frech werden, Junge? Glaubst du, wir sind hier alle Dummköpfe? Vielleicht erhoffst du dir ja eine Belohnung, wenn du sie zurückbringst, oder dass wir dir nicht noch jemanden auf den Hals hetzen.« Er war fast auf Armeslänge herangekommen und starrte mich wütend an.

Ich sah mich um. Aus den Gesichtern der anderen Männer blickte mir derselbe Zorn entgegen, ein Zorn, wie er in den Herzen braver Männer wächst, die Gerechtigkeit wollen und, wenn das nicht geht, Rache.

Ich überlegte angestrengt, wie ich sie besänftigen könnte, doch noch ehe ich zu einem Ergebnis gekommen war, hörte ich Krin hinter mir erregt rufen: »Lass ihn in Ruhe, Seth!«

Seth, der schon angriffslustig die Hände gehoben hatte, hielt inne. »Also …«

Aber da eilte Krin schon zu ihm. Die Frauen ließen sie durch und folgten ihr. »Er hat uns gerettet, Seth«, rief sie wütend. »Du Esel! Idiot! Er hat uns doch gerettet! Wo wart ihr denn? Warum habt ihr uns nicht befreit?«

Seth trat von mir zurück und auf seinem Gesicht mischten sich Wut und Scham. Die Wut gewann die Oberhand. »Wir haben es ja versucht«, rief er empört. »Als wir gemerkt haben, was passiert ist, sind wir sofort aufgebrochen. Aber die haben das Pferd unter Bil weggeschossen, und Bil hat sich das Bein zerquetscht. Jim hat einen Stich in den Arm bekommen, und den alten Cupper haben sie so verprügelt, dass er immer noch bewusstlos ist. Sie hätten uns fast umgebracht.«

Ich sah mich erneut um und begriff, was der eigentliche Grund für den Zorn in den Gesichtern der Männer war: ihre Hilflosigkeit und dass sie das Dorf nicht vor den Übergriffen der falschen Schauspieler hatten schützen können. Sie schämten sich, weil sie die Töchter ihrer Freunde und Nachbarn nicht befreit hatten.

»Dann habt ihr euch nicht genug angestrengt!«, rief Krin. Ihre Augen blitzten. »Aber er hier hat uns befreit, weil er ein richtiger Mann ist. Im Unterschied zu euch, ihr hättet uns verrecken lassen!«

Ein etwa siebzehnjähriger Bursche links von mir konnte seine Wut nicht mehr bezähmen. »Das wäre doch alles gar nicht passiert, wenn Ellie sich nicht wie eine Hure aufgeführt hätte!«

Bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich ihm schon den Arm gebrochen. Er sackte schreiend zu Boden.

Ich zog ihn am Kragen wieder hoch. »Wie heißt du?«, herrschte ich ihn an.

»Mein Arm!«, stöhnte er. In seinen Augen war das Weiße zu sehen.

Ich schüttelte ihn wie eine Stoffpuppe. »Name!«

»Jason«, japste er. »Mein Gott, mein Arm …«

Ich fasste ihn mit meiner freien Hand am Kinn und drehte sein Gesicht zu Krin und Ellie. »Jason«, zischte ich ihm leise ins Ohr. »Schau dir diese Mädchen an. Stell dir vor, durch welche Hölle sie in den vergangenen Tagen gegangen sind, als sie an Händen und Füßen gefesselt in einem Wagen lagen. Und dann überleg dir, was schlimmer ist: sich den Arm zu brechen oder von Fremden entführt und vier Mal pro Nacht vergewaltigt zu werden.«

Ich drehte sein Gesicht zu mir und sagte so leise, dass man schon aus nächster Nähe nur noch ein undeutliches Flüstern hören konnte: »Und wenn du dir das überlegt hast, wirst du Gott um Verzeihung für das bitten, was du eben gesagt hast. Wenn du es ernst meinst, möge Tehlu dafür sorgen, dass dein Arm rasch und gut wieder zusammenwächst.« Jason starrte mich mit aufgerissenen, nassen Augen an. »Wenn du aber später je wieder schlecht von diesen beiden Mädchen denkst, soll dein Arm schmerzen, als stecke ein heißes Eisen im Knochen. Und wenn du ein einziges unfreundliches Wort zu ihnen sagst, wird er sich entzünden und langsam verfaulen und man wird ihn abhacken müssen, um dein Leben zu retten.« Ich packte ihn fester, und er riss die Augen noch weiter auf. »Und wenn du ihnen je etwas antust, werde ich es erfahren. Ich werde kommen und dich töten und deine Leiche an einen Baum hängen.«

Tränen liefen ihm jetzt über das Gesicht, obwohl ich nicht hätte sagen können, ob vor Scham, Angst oder Schmerzen. »Und jetzt wirst du Ellie sagen, dass deine Worte dir leid tun.« Ich ließ ihn los, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass er stehen konnte, und drehte ihn zu Krin und Ellie um. Die Frauen umgaben die beiden Mädchen wie ein schützender Kokon.

Der Bursche hielt sich benommen den Arm. »Ich hätte das nicht sagen sollen, Ellie«, schluchzte er. Er klang so unglücklich und reumütig, wie ich es trotz des gebrochenen Arms nicht erwartet hatte. »Da hat ein Teufel aus mir gesprochen. Aber ich habe mir solche Sorgen gemacht, ich schwöre es. Wir alle haben uns Sorgen gemacht. Und wir haben versucht, euch zu befreien, aber da waren so viele, und sie haben sich aus dem Hinterhalt auf uns gestürzt. Und dann mussten wir Bil heimbringen, weil er sonst an seinem Bein gestorben wäre.«

Der Name des Jungen weckte plötzlich eine Erinnerung in mir. Jason? Mir dämmerte, dass ich soeben Ellies Freund den Arm gebrochen hatte. Aber es tat mir in diesem Moment nicht leid. Im Grunde war es nur zu seinem Besten.

Ich blickte mich wieder um. Der Zorn war aus den Gesichtern der Männer gewichen, als hätte ich auf einen Schlag den ganzen Vorrat des Dorfes aufgebraucht. Stattdessen hörten sie ein wenig verlegen Jason zu, als entschuldigte er sich für sie alle.

Auf der Straße näherte sich im Laufschritt ein großer, stattlicher Mann, gefolgt von einem Dutzend weiterer Dorfbewohner. Dem Blick seines Gesichts nach zu schließen handelte es sich um Ellies Vater, den Bürgermeister. Er zwängte sich zwischen den Frauen hindurch, schloss seine Tochter in die Arme und schwenkte sie hin und her.

Es gibt in solchen Dörfern zwei Sorten von Bürgermeistern. Die einen sind schon älter, haben schütteres Haar und einen Bauch, können gut mit Geld umgehen und ringen ausgiebig die Hände, sobald etwas Unerwartetes passiert. Die anderen sind groß und breitschultrig und stammen aus Familien, die sich zwanzig Generationen lang in harter Feldarbeit zu einem gewissen Wohlstand hochgearbeitet haben. Ellies Vater gehörte zur zweiten Sorte.

Er legte seiner Tochter den Arm um die Schulter und kam zu mir. »Wenn ich es recht verstehe, muss ich mich bei dir bedanken, dass du uns unsere Töchter zurückgebracht hast.« Er streckte mir die Hand entgegen, und ich sah, dass er einen Verband am Arm trug. Sein Händedruck war trotzdem kräftig. Außerdem lächelte er so breit, wie ich zuletzt vor meinem Weggang von der Universität Simmon hatte lächeln sehen.

»Wie geht es dem Arm?«, fragte ich, ohne zu überlegen, wie das klingen musste. Sein Lächeln verging, und ich fügte hastig hinzu: »Ich habe eine Weile als Arzt gelernt und weiß, wie heikel so etwas sein kann, wenn man nicht zu Hause ist.« Wenn man in einem Land lebt, in dem Quecksilber als Arznei gilt, fügte ich in Gedanken hinzu.

Sein Lächeln kehrte zurück und er spreizte die Finger. »Er ist noch ein wenig steif, aber mehr nicht. Nur eine Fleischwunde. Sie griffen aus dem Hinterhalt an. Ich bekam einen von ihnen zu fassen, aber er stach auf mich ein und entkam. Wie hast du es geschafft, die Mädchen aus den Händen dieser Ruh, dieses gottlosen Gesindels, zu befreien?« Er spuckte aus.

»Das waren keine Edema Ruh«, erwiderte ich. Meine Stimme klang gepresster, als mir lieb war. »Es waren nicht einmal richtige Schauspieler.«

Das Lächeln des Bürgermeisters verging wieder. »Was soll das heißen?«

»Es waren keine Edema Ruh. Wir tun so etwas nicht.«

»Hör mal«, sagte der Bürgermeister ein wenig lauter. »Ich weiß ganz genau, was die Ruh tun und was nicht. Als sie kamen, waren sie die Freundlichkeit in Person. Sie spielten ein wenig Musik und sammelten etwas Geld ein. Aber dann wurden sie plötzlich unverschämt. Und als wir sie aufforderten zu gehen, entführten sie meine Tochter.« Er redete sich zunehmend in Rage.

»Wir?«, hörte ich hinter mir leise jemanden sagen. »Jim, er hat wir gesagt

Seth drängte sich neben den Bürgermeister und musterte mich finster. »Ich sagte doch, er sieht wie einer von ihnen aus«, rief er triumphierend. »Ich weiß, wovon ich rede. Man erkennt sie an den Augen.«

»Moment mal«, sagte der Bürgermeister langsam und ungläubig. »Heißt das, du bist einer von denen?« Er lief dunkelrot an.

Bevor ich etwas zu meiner Rechtfertigung sagen konnte, hatte Ellie ihn am Arm gefasst. »Reg ihn nicht auf, Papa«, sagte sie hastig und zerrte an seinem unversehrten Arm, als wollte sie ihn von mir wegziehen. »Mach ihn nicht wütend. Er gehört nicht zu denen. Er hat mich gerettet und nach Hause gebracht.«

Der Bürgermeister schien ein wenig besänftigt, aber er klang nicht mehr freundlich. »Erkläre mir das«, sagte er unwirsch.

Ich seufzte innerlich über den Schlamassel, den ich da angerichtet hatte. »Die Entführer waren keine fahrenden Schauspieler und erst recht keine Edema Ruh, sondern Banditen, die Angehörige meiner Familie getötet und ihre Wagen gestohlen haben. Sie haben nur so getan, als seien sie Ruh.«

»Warum sollte jemand so tun, als sei er ein Ruh?«, fragte der Bürgermeister, als könnte er sich so etwas beim besten Willen nicht vorstellen.

»Um die Verbrechen zu begehen, die sie begangen haben«, antwortete ich ungehalten. »Ihr habt sie ins Dorf gelassen, und sie haben euer Vertrauen missbraucht. Das würde kein Edema Ruh je tun.«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte der Bürgermeister. »Wie konntest du die Mädchen befreien?«

»Ich habe es einfach getan«, antwortete ich kurz.

»Er hat die Banditen getötet«, sagte Krin so laut, dass jeder es hören konnte. »Alle.«

Ich spürte die Blicke der Anwesenden auf mir. Die eine Hälfte von ihnen dachte: Alle? Er hat alle sieben getötet? Die andere Hälfte dachte: Da waren doch auch zwei Frauen dabei, hat er die auch umgebracht?

»Ach so.« Der Bürgermeister betrachtete mich lange. »Gut«, sagte er schließlich, als sei er soeben zu einer Entscheidung gelangt. »Gut. Das ist für alle besser.«

Ich spürte, wie die Anspannung bei den anderen ein wenig nachließ. »Das sind ihre Pferde.« Ich zeigte auf die beiden Pferde, die unser Gepäck trugen. »Sie gehören jetzt den Mädchen. Die beiden Wagen findet ihr ungefähr vierzig Meilen östlich von hier. Krin kann euch zeigen, wo sie versteckt sind. Sie gehören ebenfalls den Mädchen.«

»Dafür bekommt man in Temsford einen guten Preis«, überlegte der Bürgermeister.

»Zusammen mit den Instrumenten und Kleidern dürften sie eine hübsche Summe bringen«, stimmte ich zu. »Durch zwei geteilt, ergibt es eine schöne Aussteuer.«

Er erwiderte meinen Blick, verstand, was ich meinte, und nickte langsam. »So ist es.«

»Und die Sachen, die sie uns gestohlen haben?«, protestierte ein vierschrötiger Mann mit einer Schürze. »Die Banditen haben bei mir alles kurz und klein geschlagen und zwei Fässer meines besten Biers gestohlen!«

»Hast du Töchter?«, fragte ich ihn ruhig. Der betroffene Blick, der plötzlich in seine Augen trat, verriet, dass dem so war. Ich sah ihn unverwandt an. »Dann meine ich, du hast eher noch Glück gehabt.«

Der Bürgermeister bemerkte erst jetzt, dass Jason sich den Arm hielt. »Was ist mit dir passiert?«

Jason sah betreten zu Boden, und Seth antwortete für ihn: »Er hat Dinge gesagt, die er nicht hätte sagen sollen.«

Der Bürgermeister sah sich unter den Umstehenden um und merkte, dass er eine ausführlichere Antwort nicht ohne peinliche Befragung bekommen würde. Also beließ er es bei einem Achselzucken.

»Ich kann den Arm für dich schienen«, bot ich freundlich an.

»Nein!«, erwiderte Jason etwas zu hastig und fügte wie entschuldigend hinzu: »Ich gehe lieber zu Gran.«

Ich sah den Bürgermeister an. »Gran?«

Der Bürgermeister lächelte. »Wenn wir uns das Knie aufschlagen, macht Gran es wieder heil.«

»Ist Bil auch bei ihr?«, fragte ich. »Der Mann mit dem zerschmetterten Bein?«

Er nickte. »Und wie ich sie kenne, wird sie ihn auch noch eine ganze Spanne dabehalten.«

»Ich begleite dich zu ihr«, sagte ich zu dem schwitzenden Jason, der sich ängstlich den Arm hielt. »Ich würde ihr gern bei der Arbeit zusehen.«

Da wir weit von jeder Zivilisation entfernt waren, stellte ich mir Gran als bucklige Alte vor, die ihre Patienten mit Blutegeln und Holzgeist behandelte.

Ich änderte meine Meinung, sobald ich ihr Haus betrat. An den Wänden hingen Bündel getrockneter Kräuter, und in den Regalen standen sorgfältig beschriftete Fläschchen. Auf einem kleinen Schreibtisch lagen drei schwere, in Leder gebundene Bücher. Eins war aufgeschlagen. Ich kannte es, es handelte sich um die Heroborica. An die Ränder hatte jemand Anmerkungen geschrieben, und einige Einträge waren verbessert oder ganz durchgestrichen.

Gran war nicht so alt, wie ich sie mir vorgestellt hatte, hatte aber schon ziemlich graues Haar. Sie hatte auch keinen Buckel und war sogar etwas größer als ich, mit breiten Schultern und einem runden, lächelnden Gesicht.

Sie hängte einen Kupferkessel über das Feuer und summte dabei vor sich hin. Dann holte sie eine Schere, ließ Jason Platz nehmen und betastete vorsichtig seinen Arm. Der Junge war bleich und schwitzte und redete in seiner Aufregung ununterbrochen, während sie mit einigen raschen Schnitten sein Hemd auftrennte. In kürzester Zeit hatte er ihr, ohne dass sie einmal nachfragte, alles über Ellies und Krins Heimkehr erzählt, wenn auch stellenweise etwas durcheinander.

»Ein glatter, sauberer Bruch«, unterbrach sie ihn schließlich. »Was ist passiert?«

Jason warf mir einen Blick zu und sah sofort wieder weg. »Nichts«, sagte er hastig. Dann merkte er, dass er die Frage nicht beantwortet hatte. »Ich meine …«

»Das war ich«, sagte ich. »Deshalb dachte ich auch, ich sollte zumindest mitkommen und sehen, ob ich beim Schienen helfen kann.«

Gran musterte mich. »Hast du damit Erfahrung?«

»Ich habe an der Universität Medizin studiert.«

Sie zuckte die Achseln. »Dann kannst du ja die Schiene halten, während ich sie festbinde. Eigentlich habe ich ein Mädchen, das mir hilft, aber sie ist nach draußen gerannt, als sie das Geschrei auf der Straße hörte.«

Jason sah mich nervös aus einem Augenwinkel an, während ich die hölzerne Schiene an seinen Arm hielt, aber Gran brauchte nicht einmal drei Minuten, um die Schiene mit geübten und zugleich demonstrativ gelangweilten Bewegungen zu befestigen. Ich sah ihr zu und kam zu dem Schluss, dass sie mehr von ihrem Beruf verstand als die Hälfte der Studenten, die ich von der Mediho kannte.

Dann waren wir fertig und sie sah Jason an. »Du hast Glück gehabt«, sagte sie. »Ich musste den Arm nicht einrichten. Schone ihn einen Monat, dann müsste er wieder ganz gesund sein.«

Jason ging, so schnell er konnte, und ich konnte Gran dazu überreden, mich Bil sehen zu lassen, der im Hinterzimmer lag.

Während Jason einen glatten Bruch hatte, war der von Bil so kompliziert, wie ein Bruch nur sein kann. Beide Knochen des Unterschenkels waren gleich mehrfach gebrochen. Ich konnte zwar nicht unter den Verband sehen, aber das Bein war mächtig geschwollen. Die Haut oberhalb des Verbands war aufgeschürft, von Blutergüssen gefleckt und so straff gespannt wie die Haut einer zu prall gefüllten Wurst.

Bil war bleich, aber bei vollem Bewusstsein, und es sah so aus, als werde er das Bein behalten. Inwiefern er es noch verwenden konnte, stand auf einem anderen Blatt. Vielleicht kam er ja mit einem Hinken davon, rennen würde er meiner Einschätzung nach jedenfalls nicht mehr.

»Was sind das für Menschen, die einem das Pferd wegschießen?«, fragte er empört. Sein Gesicht glänzte schweißnass. »Das geht doch nicht.«

Das Pferd hatte natürlich ihm gehört, und die Bewohner dieses Dorfes hatten keine Pferde übrig. Bil war ein junger Mann, frisch verheiratet und Besitzer eines kleinen Bauernhofes, und er würde vielleicht nie wieder gehen können, weil er versucht hatte, das Richtige zu tun. Der Gedanke tat mir weh.

Gran gab ihm zwei Löffel einer Flüssigkeit aus einer braunen Flasche, und daraufhin fielen ihm die Augen zu. Sie schob mich aus dem Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.

»Ist der Knochen durch die Haut gedrungen?«, fragte ich.

Sie nickte und stellte die Flasche ins Regal zurück.

»Was hast du ihm gegeben, damit die Wunde sich nicht entzündet?«

»Nicht sauer wird, meinst du? Bocksklette.«

»Wirklich? Nicht Pfeilwurz?«

»Pfeilwurz«, schnaubte sie. Sie legte Holz nach und zog den inzwischen dampfenden Kessel vom Feuer weg. »Hast du es je mit Pfeilwurz versucht?«

»Nein«, gestand ich.

»Dann kann ich es dir ersparen, jemanden damit umzubringen.« Sie holte zwei hölzerne Becher. »Pfeilwurz nützt nichts. Man kann sie essen, wenn man will, aber das ist auch schon alles.«

»Aber eine Salbe aus Pfeilwurz und Bessamy ist angeblich ideal.«

»Bessamy könnte helfen«, gab sie zu. »Aber Bocksklette ist besser. Noch lieber wäre mir Rotblatt, aber man kann nicht immer haben, was man will. Ich verwende eine Salbe aus Mutterblatt und Bocksklette und du siehst ja, es geht ihm gut. Pfeilwurz ist natürlich leicht zu finden und ergibt einen glatten Brei, aber es hat keine nützlichen Eigenschaften.«

Sie schüttelte den Kopf. »Man kann Pfeilwurz mit Kampfer, mit Bessamy oder mit Salzranke mischen. Pfeilwurz selbst hat keinerlei lindernde Eigenschaften, es taugt nur als Trägermasse für andere Heilmittel.«

Ich wollte schon protestieren, doch dann fiel mein Blick auf die Kräuter an den Wänden und das Exemplar der Heroborica, und ich machte den Mund wieder zu.

Gran schenkte aus dem Kessel heißes Wasser in die beiden Becher. »Setz dich doch«, sagte sie. »Du siehst aus, als würdest du selbst gleich umfallen.«

Ich betrachtete sehnsüchtig einen Stuhl. »Ich sollte wahrscheinlich zu den anderen zurück«, sagte ich.

»Für einen Becher hast du Zeit.« Gran nahm mich am Arm und drückte mich entschieden auf den Stuhl. »Und für eine Kleinigkeit zu essen. Du bist so bleich wie ein getrockneter Knochen, und ich habe hier einen Kuchen, den bisher noch niemand essen wollte.«

Ich überlegte, ob ich überhaupt etwas zu Mittag gegessen hatte. Den Mädchen hatte ich etwas gemacht … »Ich will dir nicht noch mehr Arbeit machen«, sagte ich. »Einige habe ich ja schon gemacht.«

»Es war Zeit, dass jemand diesem Burschen den Arm bricht«, meinte sie unbekümmert. »Ein Schandmaul, wie’s im Buche steht.« Sie reichte mir einen hölzernen Becher. »Trink das, ich hole inzwischen den Kuchen.«

Der Dampf, der von dem Becher aufstieg, roch köstlich. »Was ist da drin?«, fragte ich.

»Hagebutte und ein Apfelschnaps, den ich selber brenne.« Sie lächelte breit, und um ihre Augen erschienen kleine Fältchen. »Wenn du willst, kann ich auch noch etwas Pfeilwurz dazutun.«

Ich lächelte und nippte an dem Getränk. Es breitete sich heiß in mir aus, und meine Anspannung, die ich seltsamerweise bisher gar nicht bemerkt hatte, ließ ein wenig nach.

Gran eilte geschäftig im Zimmer herum, stellte schließlich zwei Teller auf den Tisch und setzte sich ebenfalls.

»Du hast diese Banditen wirklich getötet?«, fragte sie unvermittelt. Sie klang nicht anklagend, es war nur eine Frage.

Ich nickte.

»Du hättest es wohl besser niemandem gesagt«, meinte sie. »Bestimmt gibt es jetzt eine große Aufregung. Man wird nach einem Prozess rufen und den Richter von Temsford zuziehen müssen.«

»Ich habe es nicht gesagt«, erwiderte ich. »Das war Krin.«

»Aha.«

Es entstand eine Pause. Ich trank den letzten Schluck, doch als ich den Becher auf dem Tisch abstellen wollte, zitterten meine Hände so heftig, dass ich ihn auf das Holz schlug. Es klang, als klopfe ein ungeduldiger Besucher an die Tür.

Gran nippte seelenruhig an ihrem Becher.

»Ich will nicht darüber sprechen«, sagte ich endlich. »Ich habe etwas Schlimmes getan.«

»Nicht alle würden das so sehen«, sagte Gran freundlich. »Ich glaube, dass du richtig gehandelt hast.«

Ich spürte auf einmal ein brennendes Ziehen hinter den Augen, als würde ich gleich in Tränen ausbrechen. »Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte ich. Meine Stimme klang ganz fremd, und meine Hände zitterten noch heftiger.

Gran schien darüber nicht überrascht. »Du hast einige anstrengende Tage hinter dir, nicht wahr?« Ihr Ton machte deutlich, dass es sich nicht um eine Frage handelte. »Ich sehe es dir an. Du hattest alle Hände voll zu tun, hast die Mädchen versorgt, nicht geschlafen und wahrscheinlich auch kaum etwas gegessen.« Sie schob mir den Teller hin. »Iss den Kuchen, das wird dir gut tun.«

Ich aß. Als ich die Hälfte gegessen hatte, begann ich zu weinen und hätte mich beinahe verschluckt.

Gran schenkte mir Tee nach und fügte einen zusätzlichen Schluck Schnaps hinzu. »Trink das aus«, wiederholte sie.

Ich nahm einen Schluck. Obwohl ich nicht sprechen wollte, hörte ich mich trotzdem etwas sagen. »Mit mir stimmt vielleicht etwas nicht«, sagte ich leise. »Ein normaler Mensch hätte nicht getan, was ich getan habe. Ein normaler Mensch würde nie einfach so Menschen umbringen.«

»Mag sein«, gab Gran zu und nippte an ihrem Becher. »Aber was wäre, wenn ich dir sagte, Bils Bein hätte sich unter dem Verband grünlich verfärbt und rieche süßlich?«

Ich hob erschrocken den Kopf. »Er hat die Fäule?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich sagte doch, es geht ihm gut. Aber wenn es nun so wäre?«

»Dann müssten wir das Bein abnehmen.«

Gran nickte ernst. »Richtig, und zwar schnell, noch heute. Wir dürften nicht zögern und hoffen, dass er es schon irgendwie übersteht. Er würde sterben.« Sie nahm einen kleinen Schluck und sah mich über den Rand ihres Bechers hin an, als habe sie eine Frage gestellt.

Ich nickte, denn ich wusste, dass sie recht hatte.

»Du hast selbst medizinische Kenntnisse«, fuhr sie fort. »Du weißt, dass ein guter Arzt schwere Entscheidungen treffen muss.« Sie sah mich unverwandt an. »Das unterscheidet uns von den anderen. Man brennt jemanden mit einem Eisen, um eine Blutung zu stoppen. Man rettet die Mutter und verliert das Baby. Es ist hart und niemand bedankt sich je bei dir. Aber wir müssen die Entscheidungen treffen.«

Sie nahm wieder einen langsamen Schluck. »Die ersten Male sind die schlimmsten. Man zittert und schläft schlecht. Aber das ist der Preis dafür, dass man tut, was getan werden muss.«

»Es waren auch Frauen dabei«, sagte ich. Die Worte blieben mir fast im Hals stecken.

Grans Augen blitzten. »Sie haben es doppelt verdient.« Die Wut, die plötzlich ihr freundliches Gesicht verzerrte, traf mich vollkommen unvorbereitet. Ein ängstlicher Schauder überlief mich. »Ein Mann, der einem Mädchen so etwas antut, ist wie ein verrückter Hund. Er ist eigentlich kein Mensch mehr, nur ein Tier, das eingeschläfert werden muss. Aber eine Frau, die ihm dabei hilft? Das ist noch schlimmer. Denn sie weiß, was sie tut und was es für das Mädchen bedeutet.«

Gran stellte ihren Becher behutsam auf dem Tisch ab. Ihre Miene war wieder gefasst. »Wenn ein Bein fault, nimmt man es ab.« Sie machte eine entschiedene Bewegung mit der flachen Hand, nahm ihr Stück Kuchen und begann es mit den Fingern zu essen. »Und manche Menschen müssen getötet werden. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«

Als ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte, kehrte ich nach draußen zurück. Auf der Straße hatten sich noch mehr Menschen versammelt. Der Wirt der Dorfschenke hatte ein Fass vor die Schenke gerollt, und der süße Geruch von Bier erfüllte die Luft.

Krins Eltern waren auf dem Eisenschimmel ins Dorf geritten. Auch Pete war da, er hatte zu Fuß zurückkehren müssen. Er zeigte mir seinen Hals als Beweis dafür, dass er nicht sein Genick gebrochen hatte, und verlangte dann für seine Dienste zwei Pennys.

Krins Eltern dankten mir bewegt. Sie waren brave Leute, wie die meisten Menschen, wenn man sie lässt. Ich nahm die Zügel des Eisenschimmels, zog ihn wie eine tragbare Wand vor mich und konnte mich so einen Moment lang halbwegs ungestört mit Krin unterhalten.

Ihre dunklen Augen waren rot gerändert, aber ihr Gesicht strahlte vor Glück. »Sieh zu, dass du die Graue Hexe bekommst«, sagte ich und wies mit einem Nicken auf eins der Pferde. »Sie gehört dir.« Die Tochter des Bürgermeisters würde sowieso eine anständige Aussteuer haben, deshalb belud ich Krins Pferd mit den wertvolleren Sachen und außerdem dem meisten Geld der Banditen.

Wir sahen uns an, und Krin wurde ernst und erinnerte mich wieder an eine jüngere Denna. »Du gehst«, sagte sie.

Das hatte ich vor. Sie versuchte nicht, mich zum Bleiben zu überreden. Stattdessen umarmte sie mich zu meiner Überraschung plötzlich. Sie küsste mich auf die Wange und flüsterte mir ins Ohr: »Danke.«

Dann gingen wir wieder auseinander, wie es der Anstand gebot. »Verkauf dich nicht unter Wert und heirate keinen Narren«, sagte ich noch, weil ich das Gefühl hatte, etwas sagen zu sollen.

»Du auch nicht«, sagte sie, und in ihren Augen funkelte ein sanfter Spott.

Ich nahm den Eisenschimmel am Zügel, ging mit ihm zum Bürgermeister und musterte die Menge dabei mit dem stolzen Blick des Besitzers. Der Bürgermeister sah mir mit einem Nicken entgegen.

Ich holte tief Luft. »Ist der Wachtmeister hier?«

Der Bürgermeister hob die Augenbrauen, dann zuckte er mit den Schultern und zeigte vage auf die Menge. »Der dort drüben ist es. Allerdings war er schon zu drei Vierteln betrunken, als du mit den beiden Mädchen gekommen bist. Ich glaube nicht, dass er dir in seinem jetzigen Zustand viel nützen kann.«

»Hm«, meinte ich zögernd, »aber es muss mich doch wohl jemand einsperren, bis ihr den Richter in Temsford verständigt habt.« Ich machte eine Kopfbewegung zu einem kleinen, steinernen Gebäude in der Mitte des Dorfes.

Der Bürgermeister sah mich von der Seite an und runzelte die Stirn. »Willst du eingesperrt werden?«

»Eigentlich nicht«, gab ich zu.

»Du kannst kommen und gehen, wie es dir beliebt.«

»Das wird der Richter nicht gern hören«, sagte ich. »Und ich will nicht, dass wegen dem, was ich getan habe, noch jemand gegen das Eiserne Gesetz verstößt. Wer einem Mörder zur Flucht verhilft, kann dafür gehängt werden.«

Der Bürgermeister musterte mich eingehend. Sein Blick verweilte auf meinem Schwert und dem abgetragenen Leder meiner Stiefel. Ich spürte förmlich, wie er wahrnahm, dass ich keinerlei ernsthafte Verletzungen hatte, obwohl ich vor einigen Tagen ein halbes Dutzend bewaffnete Banditen getötet hatte.

»Du würdest also zulassen, dass wir dich einsperren?«, fragte er. »Einfach so?«

Ich zuckte mit den Schultern.

Er runzelte wieder die Stirn, dann schüttelte er den Kopf, als könnte er mich nicht verstehen. »Du bist sanft wie ein Lamm«, sagte er verwirrt. »Aber nein, ich will dich gar nicht einsperren. Du hast nur getan, was richtig war.«

»Ich habe dem Jungen den Arm gebrochen«, warf ich ein.

»Hm«, brummte er. »Das habe ich ganz vergessen.« Er griff in die Tasche, holte einen halben Penny heraus und gab ihn mir. »Besten Dank dafür.«

Ich steckte den Penny grinsend ein.

»Ich schlage folgendes vor«, sagte er. »Ich gehe da nachher rüber und sehe, ob ich den Wachtmeister finden kann. Dann erkläre ich ihm, dass wir dich einsperren müssen. Wenn du in diesem Durcheinander verschwindest, dann haben wir dir ja nicht zur Flucht verholfen, oder?«

»Er hätte seine Pflicht als Wachtmeister vernachlässigt«, erwiderte ich. »Er könnte dafür mit einigen Peitschenhieben bestraft werden oder seine Stelle verlieren.«

»Dazu wird es kaum kommen«, sagte der Bürgermeister. »Und wenn doch, wird er diesen Preis gewiss gern zahlen. Er ist Ellies Onkel.« Er ließ den Blick über die Menge wandern. »Reicht dir eine Viertelstunde, um in diesem Durcheinander zu verschwinden?«

»Wenn’s dir nicht drauf ankommt«, sagte ich, »könntest du ja sagen, ich sei in einem Moment der Unachtsamkeit auf seltsame und geheimnisvolle Weise verschwunden.«

Der Bürgermeister lachte. »Das könnte ich. Und brauchst du dafür länger als eine Viertelstunde?«

»Zehn Minuten müssten gut reichen.« Ich nahm meinen Lautenkasten und den Reisesack vom Apfelschimmel und drückte dem Bürgermeister die Zügel in die Hand. »Es wäre mir eine Beruhigung, das Pferd versorgt zu wissen, bis Bil wieder auf den Beinen ist«, sagte ich.

»Du willst dein Pferd hier lassen?«

»Er hat seines gerade verloren.« Ich zuckte die Achseln. »Und wir Ruh sind es gewohnt, zu Fuß zu gehen.« Und nur halb aufrichtig fügte ich hinzu: »Ich wüsste gar nicht, was ich mit einem Pferd anfangen sollte.«

Der Bürgermeister nahm die Zügel und sah mich lange an, als sei er unschlüssig, was er von mir halten sollte. »Können wir etwas für dich tun?«, fragte er schließlich.

»Vergesst nicht, dass die Mädchen von Banditen entführt wurden«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. »Und vergesst nicht, dass es ein Edema Ruh war, der sie euch zurückgebracht hat.«

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