Der unterbrochene Kreis

Als die Sonne endlich über den Wipfeln der Bäume aufging und der Tau auf dem Gras verdunstete, war ich bereits seit einer Stunde rastlos tätig. Ich hatte mir einen flachen Stein als provisorischen Amboss gesucht und hämmerte auf ein Reservehufeisen ein, das eine andere Form bekommen sollte. Über dem Feuer kochte ein Topf Haferbrei.

Ich legte gerade letzte Hand an das Hufeisen, da sah ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Krin lugte um die Ecke des Wagens. Wahrscheinlich hatte ich sie mit meinen Hammerschlägen aufgeweckt.

»Oh mein Gott.« Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund und kam ein paar Schritte hinter dem Wagen hervor. »Du hast sie getötet.«

»Ja«, sagte ich nur. Meine Stimme hörte sich vollkommen leblos an.

Krin mustert mich und starrte dann mein zerrissenes Hemd an. »Bist du …« Die Frage blieb ihr im Hals stecken und sie schluckte. »Ist es schlimm?«

Ich schüttelte stumm den Kopf. Als ich endlich den Mut aufgebracht hatte, die Wunde zu untersuchen, hatte ich festgestellt, dass Felurians Mantel mir das Leben gerettet hatte. Alleg hatte mir mit seinem Messer nicht den Bauch aufgeschlitzt, sondern nur einen langen, nicht besonders tiefen Schnitt quer über den Unterleib zugefügt. Außerdem hatte er ein noch in jeder Beziehung gutes Hemd ruiniert, wobei sich mein Kummer darüber in Anbetracht der Gesamtlage in Grenzen hielt.

Ich betrachtete das Hufeisen prüfend und band es mit einem feuchten Lederriemen fest an das Ende eines langen, geraden Astes. Dann nahm ich den Topf mit dem Haferbrei vom Feuer und stieß das Hufeisen in die glühenden Kohlen.

Krin, die sich offenbar ein wenig von ihrem Schreck erholt hatte, kam langsam näher und betrachtete die Leichen auf der anderen Seite des Feuers. Ich hatte sie lediglich in einer Reihe nebeneinander abgelegt. Sie waren voller Blut und klaffender Wunden und boten keinen schönen Anblick. Krin starrte sie ängstlich an, als könnten sie jederzeit zum Leben erwachen.

»Was machst du da?«, fragte sie schließlich.

Als Antwort zog ich das inzwischen heiße Hufeisen aus der Glut und näherte mich der ersten Leiche, der von Tim. Ich drückte das heiße Eisen auf den Rücken seiner verbliebenen Hand. Die Haut zischte und qualmte und blieb an dem Eisen hängen. Ich zog es wieder weg. Auf der weißen Haut blieb ein schwarz verbranntes Mal zurück, ein unterbrochener Kreis. Ich kehrte zum Feuer zurück und erhitzte das Hufeisen erneut.

Krin stand nur stumm da, zu verwirrt, um normal zu reagieren. Vermutlich gibt es auf eine solche Situation keine normale Reaktion. Sie schrie jedenfalls nicht und rannte auch nicht weg, wie ich ziemlich sicher erwartet hatte, sondern starrte nur den unterbrochenen Kreis an und wiederholte schließlich: »Was machst du da?«

Als ich ihr endlich antwortete, klang meine Stimme für mich selbst fremd. »Die Edema Ruh bilden alle eine Familie«, sagte ich, »eine Art geschlossenen Kreis. Dabei spielt es keine Rolle, dass wir einander nicht alle kennen, wir sind trotzdem eine geschlossene Familie. Das muss so sein, denn wir sind sonst überall Fremde. Wir leben weit verstreut, und man hasst uns. Wir haben Gesetze, Regeln, denen wir folgen. Wenn einer von uns etwas tut, für das es keine Entschuldigung gibt und keine Wiedergutmachung, wenn er die Sicherheit oder Ehre der Edema Ruh gefährdet, wird er getötet und mit dem unterbrochenen Kreis gebrandmarkt zum Zeichen dafür, dass er nicht mehr zu uns gehört. Dazu kommt es allerdings selten, weil es selten notwendig ist.«

Ich zog das Eisen aus dem Feuer und ging zur nächsten Leiche. Otto. Ich drückte ihm den Stempel auf den Handrücken und hörte zu, wie es zischte. »Diese Menschen waren keine Edema Ruh, sie taten nur so. Sie haben Dinge getan, die kein Edema tun würde, deshalb sorge ich jetzt dafür, dass jeder weiß, dass sie nicht zu uns gehören. Die Ruh tun nicht, was diese Menschen getan haben.«

»Aber die Wagen«, protestierte Krin, »und die Instrumente.«

»Sie waren keine Ruh«, beharrte ich. »Wahrscheinlich waren sie nicht einmal fahrende Schauspieler, sondern einfach nur Diebe, die eine Truppe von Ruh getötet haben und ihren Platz einnehmen wollten.«

Krin starrte die Leichen an und dann mich. »Du hast sie also getötet, weil sie sich als Edema Ruh ausgaben?«

»Weil sie sich als Edema Ruh ausgaben? Nein.« Ich steckte das Eisen wieder in die Glut. »Weil sie eine Truppe von Ruh getötet und ihre Wagen gestohlen haben? Ja. Weil sie euch misshandelt haben? Ja.«

»Aber wenn sie keine Ruh sind …« Krin betrachtete die in leuchtenden Farben angemalten Wagen. »Woher haben sie die Wagen?«

»Das wüsste ich selbst gern«, sagte ich. Ich zog das Brandzeichen wieder aus dem Feuer, ging zu Alleg und drückte es ihm auf die Hand.

Der falsche Schauspieler zuckte zusammen, schrie und wachte dabei auf.

»Er ist nicht tot!«, kreischte Krin.

Ich hatte mir seine Wunde bereits angesehen. »Doch, er ist tot«, sagte ich kalt. »Er hat nur noch nicht aufgehört sich zu bewegen.« Ich blickte auf ihn hinab. »Wie habt ihr es angestellt, Alleg? Wie seid ihr an die Wagen der Edema gekommen?«

»Du elender Ruh«, beschimpfte er mich lallend.

»Ja«, sagte ich, »das bin ich. Und du bist keiner. Woher kennst du die Zeichen und Bräuche meiner Familie?«

»Wodurch haben wir uns verraten?«, fragte er. »Wir kannten die Wörter, den Handschlag, Wasser und Wein und die Lieder vor dem Abendessen.«

»Ihr dachtet, ihr könntet mich täuschen?« Ich spürte die Wut in mir wie eine unter Spannung stehende Feder. »Die Ruh sind meine Familie! Ich habe sofort gemerkt, dass ihr keine seid. Die Ruh tun nicht, was ihr getan habt. Sie stehlen nicht und sie entführen auch keine Mädchen.«

Alleg schüttelte mit einem spöttischen Lächeln den Kopf. An seinen Zähnen war Blut. »Alle wissen, was ihr tut.«

Da platzte ich vor Wut. »Alle bilden sich ein, es zu wissen! Sie halten Gerüchte für die Wahrheit! Aber die Ruh tun so etwas nicht!« Ich fuchtelte mit den Armen. »Die Menschen glauben das nur wegen Leuten wie euch!« Zorn übermannte mich und ich begann zu schreien. »Und jetzt sag mir, was ich wissen will, sonst wird Gott weinen, wenn er hört, was ich mit dir getan habe!«

Alleg erbleichte und musste schlucken, bevor er wieder sprechen konnte. »Die Truppe bestand aus einem alten Mann und seiner Frau und einigen weiteren Spielern. Ich begleitete sie ein halbes Jahr lang als Wache, und zuletzt nahmen sie mich bei sich auf.« Er schnappte keuchend nach Luft.

Aber er hatte genug gesagt. »Und dann hast du sie getötet.«

Alleg schüttelte heftig den Kopf. »Nein … wir wurden unterwegs überfallen.« Er zeigte auf die Leichen. »Sie haben uns angegriffen. Die anderen Schauspieler wurden getötet, aber ich … wurde nur bewusstlos geschlagen.«

Ich sah zu den Leichen hinüber und wieder stieg Zorn in mir auf, obwohl ich im Grund alles gewusst hatte. Nur so konnte jemand in den Besitz von zwei Wagen der Edema mit intakten Markierungen kommen.

Alleg redete weiter. »Später habe ich ihnen dann gezeigt … wie man als Schauspieltruppe auftritt.« Er schluckte vor Schmerzen. »Ein gutes Leben.«

Ich wandte mich voller Abscheu ab. Alleg gehörte in gewisser Weise zu uns, war in unsere Familie aufgenommen worden. Das zu wissen machte alles noch zehnmal schlimmer. Ich steckte das Hufeisen erneut in die Glut und sah Krin an. Sie betrachtete Alleg mit steinhartem Blick.

Ich wusste nicht, ob es richtig war, aber ich hielt ihr das Brandzeichen hin. Ihr Gesicht erstarrte zu einer grimmigen Maske, und sie nahm es.

Alleg schien erst zu begreifen, was sie vorhatte, als sie ihm das heiße Eisen mit aller Kraft auf die Brust drückte. Er schrie und wand sich, hatte aber nicht die Kraft, das Eisen abzuschütteln. Auf seine kraftlosen Versuche hin biss Krin nur die Lippen zusammen. In ihren Augen standen Tränen des Zorns.

Dann endlich, nach einer langen Weile, nahm sie das Eisen weg. Sie weinte leise. Ich schwieg.

Alleg blickte zu ihr auf und fand mühsam seine Stimme wieder. »Aber wir hatten es doch auch schön miteinander, oder?« Sie hörte auf zu weinen und sah ihn an. »Nicht …«

Bevor er noch etwas sagen konnte, trat ich ihn heftig in die Seite. Er erstarrte vor Schmerzen, dann spuckte er blutigen Schleim auf mich. Ich trat noch einmal zu, und er erschlaffte.

Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte, also nahm ich das Eisen und steckte es wieder in die Glut.

Es folgte langes Schweigen. »Schläft Ellie noch?«, fragte ich schließlich.

Krin nickte.

»Glaubst du, es würde ihr helfen, das hier zu sehen?«

Krin überlegte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich glaube nicht«, sagte sie schließlich. »Ich glaube nicht, dass sie es überhaupt wahrnehmen würde. Sie ist seit damals nicht ganz bei Sinnen.«

»Ihr kommt aus Levinshir?«, fragte ich, weil ich das Schweigen nicht ertragen konnte.

»Meine Familie lebt auf einem Bauernhof nördlich von Levinshir«, sagte Krin. »Ellies Vater ist der Bürgermeister.«

»Wann sind diese Leute in euer Dorf gekommen?« Ich drückte das Brandzeichen auf einen weiteren Handrücken. Der süßliche Gestank verkohlten Fleisches wurde immer aufdringlicher.

»Welchen Tag haben wir heute?«

Ich zählte im Kopf nach. »Felling.«

»Sie kamen am Theden.« Krin verstummte. »Vor fünf Tagen?« Sie klang, als könnte sie es nicht recht glauben. »Wir freuten uns auf die Gelegenheit, ein Theaterstück anzusehen und Neuigkeiten zu hören. Und Musik.« Sie senkte den Blick. »Sie schlugen ihr Lager am östlichen Dorfrand auf. Als ich zu ihnen ging, um mir wahrsagen zu lassen, sagten sie, ich solle abends wiederkommen. Sie waren so nett und alles war so aufregend.«

Krin betrachtete die Wagen. »Als ich am Abend kam, saßen alle um das Feuer. Sie sangen mir Lieder vor und die alte Frau gab mir Tee zu trinken. Nie im Leben hätte ich gedacht … ich meine … sie sah aus wie meine Oma.« Ihr Blick verweilte kurz auf der Leiche der Alten. »Was dann geschah, weiß ich nicht. Als ich aufwachte, war es dunkel und ich lag in einem der Wagen. Ich war gefesselt und ich …« Die Stimme drohte ihr zu versagen und sie rieb sich abwesend die Handgelenke. Sie sah zu unserem Zelt zurück. »Wahrscheinlich hat Ellie auch so eine Einladung bekommen.«

Ich hatte inzwischen alle Handrücken mit dem Brandzeichen versehen. Eigentlich hatte ich auch noch die Gesichter brandmarken wollen, aber das Eisen wurde im Feuer nur langsam heiß und die Arbeit widerte mich mittlerweile heftig an. Außerdem hatte ich die ganze Nacht nicht geschlafen, und die Wut, die so lange und so heftig in mir getobt hatte, war nahezu erloschen. Mir war kalt und ich fühlte mich wie betäubt.

Ich zeigte auf den Topf mit Haferbrei, den ich vom Feuer genommen hatte. »Hast du Hunger?«

»Ja«, sagte Krin. Ihr Blick streifte die Leichen. »Nein.«

»Ich auch nicht. Geh Ellie wecken, dann bringe ich euch nach Hause.«

Krin eilte zum Zelt. Als sie darin verschwunden war, wandte ich mich an die nebeneinander aufgereihten Leichen. »Hat jemand etwas dagegen, dass ich die Truppe verlasse?«, fragte ich.

Keiner hatte etwas dagegen. Also ging ich.

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