Die Straße nach Levinshir

Am folgenden Tag kamen wir nur mühsam voran, da Krin und ich die drei Pferde führen mussten und dazu noch Ellie. Zum Glück waren die Pferde brav, wie es von den Edema zugerittene Pferde meistens sind. Wenn sie so unberechenbar wie die arme Tochter des Bürgermeisters gewesen wären, hätten wir es womöglich nie bis nach Levinshir geschafft.

Trotzdem machten sie fast mehr Ärger, als sie wert waren. Vor allem der Eisenschimmel mit dem glänzenden Fell pflegte des öfteren im Unterholz zu verschwinden, um dort nach Futter zu suchen. Drei Mal hatte ich ihn schon von dort herausziehen müssen, und wir waren nicht mehr gut aufeinander zu sprechen. Aus naheliegenden Gründen hatte ich ihn auf den Namen Nervensäge getauft.

Als ich ihn das vierte Mal auf die Straße zurückziehen musste, überlegte ich ernsthaft, ob ich ihn der Einfachheit halber laufen lassen sollte. Natürlich tat ich es nicht. Ein gutes Pferd lässt sich für gutes Geld verkaufen. Außerdem war ich schneller, wenn ich nach Severen zurückritt, statt den ganzen Weg zu laufen.

Krin und ich versuchten nach Kräften, Ellie unterwegs in ein Gespräch zu verwickeln. Es schien auch ein wenig zu helfen. Um die Mittagszeit schien sie fast schon mitzubekommen, was um sie vorging. Fast.

Als wir uns nach dem Mittagessen zum Aufbruch bereit machten, hatte ich eine Idee. Ich ging mit dem Apfelschimmel zu Ellie. Ihr langes goldenes Haar war ungekämmt, und sie mühte sich gerade ab, die Finger einer Hand hindurchzuziehen, während ihre Augen gleichzeitig unruhig hin und her wanderten, als wisse sie nicht, wo sie war.

»Ell.« Sie sah mich an. »Kennst du unseren Grauschwanz schon?« Ich zeigte auf den Apfelschimmel.

Ein schwaches, verwirrtes Kopfschütteln.

»Du musst mir helfen, ihn zu führen. Hast du schon mal ein Pferd geführt?«

Ein Nicken.

»Er braucht jemanden, der sich um ihn kümmert. Kannst du das tun?« Grauschwanz sah mich mit einem großen Auge an, als wollte er mir zu verstehen geben, dass er so dringend geführt werden musste, wie ich Räder zum Laufen brauchte. Doch dann senkte er den Kopf und stieß Ellie fürsorglich mit der Schnauze an. Das Mädchen streckte automatisch die Hand aus und streichelte ihm das Maul. Dann nahm sie die Zügel.

Ich kehrte zu Krin zurück, um die anderen Pferde zu beladen. »Glaubst du, das geht gut?«, fragte Krin.

»Grauschwanz ist so sanft wie ein Lamm.«

»Bloß weil Ell dumm wie ein Schaf ist, passen sie noch lange nicht zusammen«, sagte Krin schelmisch

Ich lächelte. »Wir behalten sie die nächste Stunde im Auge. Wenn es nicht geht, dann eben nicht. Aber manchmal hilft es einem am meisten, wenn man jemand anderem hilft.«

Weil ich schlecht geschlafen hatte, war ich an diesem Tag doppelt müde. Ich hatte ein Brennen im Magen, und meine Haut fühlte sich wund an, als hätte jemand mit Schleifpapier die oberen beiden Schichten abgeschliffen. Ich war versucht, aufs Pferd zu steigen und im Sattel zu dösen, wollte aber nicht reiten, solange die Mädchen zu Fuß gingen.

Also trottete ich mechanisch neben ihnen die Straße entlang und führte mein Pferd hinter mir her. Doch gelang es mir nicht, wie sonst bei längeren Märschen in einen angenehmen Halbschlaf zu verfallen. Zu sehr plagten mich die Gedanken an Alleg. Ich hätte gern gewusst, ob er noch lebte.

Von meiner Zeit an der Mediho wusste ich, dass die Bauchwunde, die ich ihm zugefügt hatte, tödlich war. Ich wusste allerdings auch, dass man daran nur langsam starb, langsam und qualvoll. Bei entsprechender Pflege konnte bis zum Eintritt des Todes eine ganze Spanne vergehen. Selbst allein in der Wildnis konnte Alleg mit einer solchen Wunde noch Tage leben.

Freilich keine angenehmen Tage. Er würde Fieber bekommen, wenn die Wunde sich entzündete, und ins Delirium verfallen. Bei jeder Bewegung würde die Wunde wieder aufreißen. Gehen konnte er mit seinem gelähmten Bein sowieso nicht. Wenn er sich also fortbewegen wollte, musste er kriechen. Inzwischen würde er Hunger haben und schrecklichen Durst.

Aber verdursten würde er nicht, nein. Ich hatte vor dem Aufbruch einen vollen Wasserschlauch neben ihn gelegt. Nicht aus Menschenfreundlichkeit und nicht um seine letzten Stunden erträglicher zu machen, sondern weil ich wusste, dass er mit dem Wasser länger leben und mehr leiden würde.

Ihm den Wasserschlauch dazulassen war das Schrecklichste, das ich je getan hatte, und jetzt, da mein Zorn abgekühlt war, bereute ich es. Ich hätte gern gewusst, wie viele Tage er wegen des Wassers länger leben würde. Einen? Zwei? Bestimmt nicht mehr als zwei. Ich wollte mir diese beiden Tage gar nicht vorstellen.

Aber wenn ich den Gedanken an Alleg verdrängte, musste ich gegen andere Dämonen kämpfen. Mir fielen immer wieder neue Einzelheiten jener Nacht ein: was die falschen Schauspieler gesagt hatten, als ich sie niederschlug, das Geräusch meines Schwerts beim Zuschlagen oder der Gestank der gebrandmarkten Haut. Ich hatte zwei Frauen getötet. Was würde Vashet dazu sagen? Was konnte man überhaupt dazu sagen?

Weil ich so erschöpft von Sorgen und Schlafmangel war, drehten meine Gedanken sich nur noch im Kreis. Mit von der Gewohnheit diktierten Bewegungen schlug ich abends das Lager auf, und ich musste meinen ganzen Willen aufbieten, um das Gespräch mit Ellie aufrechtzuerhalten. Noch bevor ich dazu bereit war, war es wieder Schlafenszeit, und ich lag in meinen Schattenmantel eingewickelt vor dem Zelt der Mädchen. Nur am Rande meines Bewusstseins nahm ich wahr, dass Krin mich jetzt mit denselben besorgten Blicken musterte wie seit zwei Tagen schon Ellie.

Vor dem Einschlafen an diesem Abend lag ich noch eine Stunde mit weit aufgerissenen Augen da und dachte an Alleg.

Als ich dann endlich eingeschlafen war, träumte ich wieder davon, wie ich die falschen Schauspieler tötete. Im Traum schlich ich durch den Wald wie der grimme Tod persönlich.

Doch diesmal war etwas anders. Ich tötete Otto, und sein Blut spritzte über meine Hände wie heißes Fett. Dann tötete ich Laren und Josh und Tim. Sie jammerten und schrien und wanden sich auf dem Boden. Ihr Wunden sahen schrecklich aus, aber ich konnte den Blick nicht abwenden.

Dann veränderten sich ihre Gesichter. Ich tötete plötzlich Teren, den bärtigen Ex-Söldner meiner eigenen Truppe, und dann Trip. Anschließend rannte ich mit gezogenem Schwert hinter Shandi her durch den Wald. Shandi schrie und weinte vor Angst. Als ich sie endlich einholte, klammerte sie sich an mich, warf mich um und vergrub schluchzend das Gesicht an meiner Brust. »Nein, nein, nein«, flehte sie. »Nein, nein, nein.«

An dieser Stelle wachte ich auf. Ich lag schreckensstarr auf dem Rücken und wusste nicht, wo der Traum endete und die Wirklichkeit begann. Nach einem kurzen Moment begriff ich, was geschehen war. Ellie war aus dem Zelt zu mir gekrochen, hatte das Gesicht an meiner Brust vergraben und umklammerte verzweifelt meinen Arm.

»Nein, nein«, rief sie erstickt, »nein, nein, nein, nein, nein.« Dann brachte sie nichts mehr heraus, und hilfloses Schluchzen schüttelte ihren Körper. Mein Hemd war von ihren heißen Tränen nass und mein Arm blutete dort, wo sie ihn umklammert hielt.

Ich machte einige tröstende Laute und strich ihr mit der Hand übers Haar. Endlich beruhigte sie sich und fiel in einen erschöpften Schlaf, ohne mich freilich loszulassen.

Ich wagte nicht, mich zu bewegen, um sie nicht zu wecken. Mit zusammengebissenen Zähnen lag ich da und dachte an Alleg, Otto und die anderen. Ich dachte an das Blut und an die Schreie und den Gestank der verbrannten Haut. An all das dachte ich und ich träumte von noch schlimmeren Dingen, die ich ihnen hätte antun können.

Danach hatte ich die Albträume nie wieder. Manchmal kommt mir auch heute noch Alleg in den Sinn, und dann lächle ich.

Am nächsten Tag erreichten wir Levinshir. Ellie war wieder bei klarem Bewusstsein, blieb aber schweigsam und in sich gekehrt. Doch kamen wir jetzt schneller voran, vor allem weil die Mädchen sich wieder so weit bei Kräften fühlten, dass sie abwechselnd den Grauschimmel ritten.

Wir legten sechs Meilen zurück, bevor wir eine Mittagspause machten. Die Mädchen wurden immer aufgeregter, denn die Landschaft kam ihnen zunehmend bekannt vor und sie erkannten die Silhouette der Berge in der Ferne und einen schiefen Baum am Straßenrand.

Doch als wir uns Levinshir näherten, wurden sie auf einmal wieder still.

»Gleich hinter der nächsten Anhöhe ist es«, sagte Krin und stieg vom Apfelschimmel. »Reite du das letzte Stück, Ell.«

Ellie sah sie an und dann mich. Dann blickte sie auf ihre Füße und schüttelte den Kopf.

Ich musterte die beiden. »Alles in Ordnung?«

»Mein Vater bringt mich um.« Krin sagte es mit einem kaum hörbaren Flüstern. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Dein Vater ist heute Abend der glücklichste Mensch der Welt«, erwiderte ich. Doch ich wollte ganz ehrlich sein. »Vielleicht ist er auch wütend, aber nur, weil er die letzten acht Tage besinnungslos vor Angst war.«

Krin schien ein wenig beruhigt, doch dann begann Ellie zu schluchzen. Krin nahm sie in die Arme und machte beruhigende Laute.

»Niemand wird mich heiraten«, schluchzte Ell. »Ich wollte Jason Waterson heiraten und ihm in seinem Laden helfen. Aber jetzt heiratet er mich bestimmt nicht mehr. Niemand heiratet mich.«

Ich sah Krin an. Aus ihren nassen Augen sprach dieselbe Furcht, im Unterschied zu Ell allerdings auch Zorn.

»Wer das denkt, ist ein Dummkopf«, sagte ich mit aller Überzeugung, die ich aufbieten konnte. »Und ihr beide seid viel zu klug und zu schön, als dass ihr Dummköpfe heiraten würdet.«

Das schien auch Ellie zu beruhigen. Sie musterte mich, wie um sich zu vergewissern, dass sie mir glauben konnte.

»Stimmt doch«, sagte ich. »Und ihr könnt ja nichts dafür. Das dürft ihr in den nächsten Tagen nicht vergessen.«

»Ich hasse Männer!«, rief Ellie in einer plötzlichen Zornesaufwallung. »Ich hasse sie!« Sie umklammerte die Zügel des Apfelschimmels, dass die Knöchel ihrer Hand weiß hervortraten, ihr Gesicht war dabei vor Wut verzerrt. Krin legte den Arm um sie, aber als sie dann mich ansah, bemerkte ich in ihren dunklen Augen denselben Zorn.

»Dazu hast du alles Recht«, sagte ich so wütend und hilflos wie nie zuvor in meinem Leben. »Aber ich bin auch ein Mann. Wir sind nicht alle so.«

So standen wir noch eine Weile da, nur eine halbe Meile vom Dorf entfernt. Zur Beruhigung unserer Nerven tranken wir einen Schluck Wasser und aßen einen Bissen Brot. Dann brachte ich die beiden vollends nach Hause.

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