Namen

Der Tag war gekommen, an dem ich entweder bleiben oder gehen würde. Ich saß mit Vashet auf der Kuppe eines grünen Hügels und sah zu, wie die Sonne hinter den Wolken im Osten aufging.

»Saicere bedeutet zu fliegen, zu fangen und zu brechen«, sagte Vashet leise. Sie hatte es schon hundert Mal gesagt. »Vergiss nicht die Hände all derer, die es vor dir gehalten haben. Viele Hände, die alle dem Lethani folgten. Du darfst das Schwert nicht missbrauchen.«

»Versprochen«, sagte ich zum hundersten Mal. Ich zögerte kurz, dann brachte ich etwas anderes zur Sprache, das mich beschäftigte. »Aber du hast mit deinem Schwert die Weidenrute zugeschnitten, mit der du mich geschlagen hast, Vashet. Einmal hast du es auch dazu verwendet, das Fenster offen zu halten, und du schneidest dir damit die Nägel …«

Vashet sah mich verständnislos an. »Und?«

»Missbrauchst du es damit nicht?«

Vashet legte den Kopf schräg und lachte. »Du meinst, ich sollte es nur zum Kämpfen verwenden?«

Ich machte die Geste für richtige Folgerung.

»Ein Schwert ist scharf«, sagte sie. »Es ist ein Werkzeug und ich trage es ständig bei mir. Warum sollte ich es also nicht auch für andere Dinge verwenden?«

»Es kommt mir respektlos vor«, erklärte ich.

»Man respektiert etwas, indem man es für einen nützlichen Zweck einsetzt«, erwiderte Vashet. »Ich kehre womöglich erst in einigen Jahren wieder als Söldner in ein barbarisches Land zurück. Warum sollte es meinem Schwert schaden, wenn es bis dahin Anzündholz und Karotten schneidet?« Sie wurde ernst. »Ein Schwert das ganze Leben mit sich herumzutragen und zu wissen, dass es nur zum Töten gedacht ist …« Sie schüttelte den Kopf. »Was stellt das mit einem an? Es wäre doch schrecklich.«

Vashet war am Abend zuvor nach Haert zurückgekehrt und unglücklich gewesen, dass sie meine Steinprüfung verpasst hatte. Sie meinte allerdings, es sei richtig gewesen, das Schwert wegzulegen, da Carceret es auch getan hatte, und dass sie stolz auf mich sei.

Shehyn hatte mich am Tag zuvor offiziell eingeladen, an der Schule zu bleiben und eine Ausbildung zu absolvieren. Theoretisch hatte ich mir dieses Recht verdient, doch hatte das, wie alle wussten, noch nichts zu sagen. Shehyns Angebot war sehr schmeichelhaft, eine Gelegenheit, die sich mir wahrscheinlich nie wieder bieten würde.

Wir sahen zu, wie ein Junge eine Herde Ziegen die Hügelflanke hinuntertrieb. »Stimmt es eigentlich, dass den Adem die Vorstellung einer Vaterschaft fremd ist, Vashet?«

Vashet nickte unbekümmert und sah mich an. »Sag jetzt bitte, dass du nicht mit allen darüber geredet hast, während ich weg war, und uns dadurch beide unmöglich gemacht hast.« Sie seufzte.

»Nur mit Penthe«, erwiderte ich. »Sie meinte, sie hätte schon lange nicht mehr etwas so Lustiges gehört.«

»Es ist ja auch lustig.« Vashets Lippen deuteten ein Lächeln an.

»Dann stimmt es?«, fragte ich. »Sogar du glaubst es? Du …«

Vashet hob die Hand und ich verstummte. »Reg dich nicht auf. Denk über deine Mann-Mütter, was du willst, mir ist das egal.« Sie lächelte in Erinnerungen versunken. »Mein Dichterkönig glaubte sogar, eine Frau sei lediglich der Boden, in den der Mann ein Baby pflanzt.«

Sie schnaubte belustigt. »Er war fest davon überzeugt, dass er recht hätte. Nichts konnte ihn darin erschüttern. Ich habe schon vor Jahren beschlossen, dass es nur Zeitverschwendung ist, mit einem Barbaren darüber zu streiten, wie Babys entstehen.« Sie zuckte die Achseln. »Denk dir, was du willst. Glaube meinetwegen an Dämonen oder bete zu Ziegen. Solange ich nicht darunter leide, warum sollte es mich kümmern?«

Ich dachte über ihre Worte nach. »Eine kluge Entscheidung«, sagte ich.

Sie nickte.

»Aber entweder ein Mann trägt zur Entstehung eines Babys bei oder nicht«, gab ich zu bedenken. »Man kann darüber verschiedener Meinung sein, aber es gibt nur eine Wahrheit.«

Vashet lächelte träge. »Wenn es mein Ziel wäre, die Wahrheit herauszufinden, würde mich das etwas angehen.« Sie gähnte ausgiebig und streckte sich wie eine zufriedene Katze. »Aber ich konzentriere mich lieber auf die Freude in meinem Herzen, das Wohl der Schule und das Verständnis des Lethani. Wenn mir dann noch Zeit bleibt, mache ich mir über die Wahrheit Gedanken.«

Wir betrachteten noch eine Weile stumm den Sonnenaufgang. Vashet kam mir wie ein anderer Mensch vor, wenn sie einmal nicht versuchte, mir in kürzester Zeit die Übungen des Ketan und die Regeln des Ademischen einzupauken.

»Wenn du also unbedingt an deinen barbarischen Vorstellungen von Mann-Müttern festhalten willst«, fügte sie hinzu, »tätest du gut daran, nicht darüber zu sprechen. Du erntest damit höchstens Gelächter. Die meisten werden dich einfach für verrückt halten.«

Ich nickte. Eine lange Pause entstand, und dann beschloss ich, endlich die Frage zu stellen, die mir bereits seit Tagen auf den Nägeln brannte. »Magwyn hat mir den Namen Maedre gegeben. Was bedeutet er?«

»Es ist dein Name«, sagte Vashet. »Sprich mit niemandem darüber.«

»Er ist also geheim?«

Sie nickte. »Nur du, deine Lehrer und Magwyn kennen ihn. Es wäre gefährlich, ihn anderen zu verraten.«

»Warum gefährlich?«

Vashet sah mich an wie den letzten Deppen. »Wenn du einen Namen kennst, hast du Macht über ihn, das weißt du doch.«

»Aber ich kenne deinen Namen und auch den von Shehyn und Tempi. Inwiefern ist das gefährlich?«

Vashet machte eine Handbewegung. »Es geht nicht um diese Namen, es geht um die verborgenen Namen. Tempi hat von Magwyn nicht den Namen Tempi bekommen, genauso wenig wie du den Namen Kvothe. Verborgene Namen aber haben tiefere Bedeutungen.«

Ich wusste schon, was Vashets Name bedeutete. »Was bedeutet Tempi?«

»›Kleines Eisen‹. Tempa bedeutet Eisen und zugleich ›auf Eisen schlagen‹ und es bedeutet auch wütend. Shehyn hat ihm den Namen vor Jahren gegeben. Er war ein sehr aufsässiger Schüler.«

»Im Aturischen gibt es ein ähnliches Wort für lebhaftes Wesen: Temperament«, warf ich aufgeregt ein, erstaunt über den Zufall.

Vashet zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »So ist das mit Namen. Tempi ist ein kurzer Name und bedeutet doch so vieles. Deshalb solltest du nicht über deinen Namen sprechen, nicht einmal mit mir.«

»Aber ich spreche nicht gut genug Ademisch und weiß deshalb selber nicht, was er bedeutet«, protestierte ich. »Und man sollte doch wenigstens die Bedeutung des eigenen Namens kennen.«

Vashet zögerte und gab schließlich nach. »Er bedeutet Flamme, Donner und gespaltener Baum.«

Ich dachte nach. Die Bedeutung gefiel mir. »Du schienst damals überrascht darüber, dass Magwyn mir diesen Namen gab. Warum?«

»Es gehört sich nicht, Bemerkungen über den Namen eines anderen abzugeben.« Entschiedenste Ablehnung. Vashets Geste war so heftig, dass schon das Zusehen beinahe wehtat. Sie stand auf und streifte sich die Hände an der Hose ab. »Komm, es ist Zeit, Shehyn deine Antwort zu überbringen.«

Als wir bei Shehyn eintraten, bedeutete sie uns, dass wir uns setzen sollten. Dann nahm sie ebenfalls Platz und überraschte mich mit dem Anflug eines Lächelns, eine ungeheuer schmeichelhafte, vertrauliche Geste. »Du hast dich entschieden?«, fragte sie.

Ich nickte. »Danke für Euer Angebot, Shehyn, aber ich kann nicht bleiben. Ich muss nach Severen zurückkehren und mit dem Maer sprechen. Tempis Auftrag war mit der Beseitigung der Banditen erfüllt, aber ich muss zurückkehren und Bericht erstatten.« Ich dachte auch an Denna, erwähnte sie allerdings nicht.

Shehyn mischte geschickt in einer Geste Zustimmung und Bedauern. »Seine Pflicht zu erfüllen entspricht dem Lethani.« Sie musterte mich ernst. »Vergiss nicht, du hast zwar Schwert und Namen, darfst dich aber nicht als Söldner verdingen, als würdest du schon Rot tragen.«

»Vashet hat mir alles erklärt«, sagte ich. Versicherung. »Ich werde Vorkehrungen treffen, dass das Schwert im Fall meines Todes nach Haert zurückgebracht wird. Und ich werde weder andere im Ketan unterrichten noch das Rot des Söldners tragen.« Höfliche Neugier. »Aber darf ich anderen sagen, dass ich hier im Kämpfen unterrichtet wurde?«

Zustimmung mit Vorbehalt. »Du darfst sagen, dass du bei uns gelernt hast, aber nicht, dass du einer von uns bist.«

»Natürlich nicht. Und auch nicht, dass ich euch gleichgestellt wäre.«

Shehyn bekundete durch eine Geste ihre vollkommene Zufriedenheit. Dann machte sie mit den Händen eine kleine Bewegung für verlegenes Eingeständnis. »Diese Erlaubnis ist nicht ganz uneigennützig«, sagte sie. »Du wirst besser kämpfen als viele Barbaren, und wenn du siegst, werden die Barbaren sagen: Kvothe hat die Künste der Adem nur kurz studiert und ist trotzdem ein gewaltiger Krieger. Wie viel besser müssen dann erst die Adem selbst sein?« Jedoch. »Und wenn du verlierst, werden sie denken: Er hat von den Adem nur wenig gelernt.«

In die Augen der Alten trat ein kaum merkliches Funkeln und sie machte die Handbewegung für Belustigung. »Unser Ruf wird in jedem Fall profitieren, und das nützt Ademre.«

Ich nickte. Bereitwillige Zustimmung. »Auch meinem Ruf wird es nicht schaden«, sagte ich. Untertreibung.

Es entstand eine Pause. Dann machte Shehyn die Gebärde für sehr wichtig. »Du hast mich bei einer früheren Gelegenheit nach den Rhinta gefragt, erinnerst du dich?« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Vashet sich unruhig auf ihrem Stuhl bewegte.

Ich nickte und war plötzlich sehr aufgeregt.

»Mir ist eine Geschichte über sie eingefallen. Willst du sie hören?«

Ich bekundete mit meinen Händen größtes Interesse.

»Die Geschichte ist schon alt, so alt wie Ademre, und man erzählt sie immer gleich. Bist du bereit, sie anzuhören?« Sehr förmlich. In Shehyns Stimme schwang ein offizieller Ton.

Ich nickte wieder. Inständige Bitte.

»Es gibt Regeln, wie bei allen Dingen. Ich werde die Geschichte nur einmal erzählen. Anschließend darfst du nicht darüber sprechen und auch keine Fragen stellen.« Shehyn sah zwischen Vashet und mir hin und her. Größter Ernst. »Erst wenn du tausend Nächte geschlafen hast, darfst du darüber sprechen, und erst wenn du tausend Meilen gegangen bist, Fragen stellen. Bist du also trotzdem bereit, sie anzuhören?«

Ich nickte zum dritten Mal und wurde noch aufgeregter.

»Es lebte einst in einem großen Reich ein großes Volk«, begann Shehyn förmlich. »Die Menschen dieses Volkes waren keine Adem. Sie waren das, was Ademre war, als es uns noch nicht gab. Damals also lebten sie, und sie waren ein schönes und starkes Geschlecht. Sie besangen ihre Macht in Liedern und kämpften so gut, wie die Adem es tun.

Diese Menschen hatten ein großes Reich. Sein Name ist heute vergessen, doch er ist nicht wichtig, denn das Reich ist untergegangen und das Land seitdem zerbrochen und der Himmel ist ein anderer geworden.

In diesem Reich gab es sieben Städte und eine Stadt. Die Namen der sieben Städte sind vergessen. Sie sind dem Verrat anheimgefallen und wurden durch die Zeit zerstört. Auch die eine Stadt wurde zerstört, aber ihr Name blieb bestehen. Sie hieß Tariniel.

Das Reich hatte einen Feind, wie jede große Macht notwendig einen hat. Doch der Feind war nicht stark genug, es zu zerstören. Er mochte diesem Reich noch so sehr zusetzen, er konnte es nicht zu Fall bringen. Der Name des Feindes ist bekannt, aber er muss noch warten.

Da der Feind nicht durch seine Stärke siegen konnte, tat er es wie der Wurm, der durch die Frucht kriecht. Er handelte nicht in Übereinstimmung mit dem Lethani. Er stachelte sieben andere gegen das Reich auf, und sie vergaßen Lethani. Sechs von ihnen verrieten die Städte, die ihnen vertrauten. Sechs Städte fielen und ihre Namen sind vergessen.

Doch einer erinnerte sich an Lethani und verriet die Stadt nicht. Die Stadt fiel nicht. Einer erinnerte sich und dem Reich blieb Hoffnung. Eine Stadt war nicht gefallen. Doch selbst der Name dieser Stadt ist vergessen und in der Vergangenheit begraben.

Doch an sieben Namen erinnert man sich noch. An den Namen des einen und die Namen der sechs, die ihm folgten. Sieben Namen wurden bewahrt, während das Reich unterging, das Land zerbrach und der Himmel ein anderer wurde. An sieben Namen erinnerten die Adem sich auf ihrer langen Wanderschaft, sieben Namen, die Namen der sieben Verräter. Merke sie dir und erkenne sie an ihren sieben Zeichen:

Cyphus trägt die blaue Flamme.

Stercus ist im Bann des Eisens.

Ferule kalt und dunklen Auges.

Usnea lebt einzig in Verfall.

Dalcenti stumm und grau und ernst.

Die bleiche Alenta bringt die Plage.

Zuletzt kommt der Herr der sieben:

Verhasst. Hoffnungslos. Schlaflos. Glasklar.

Alaxel trägt das Joch des Schattens.

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