Die Zunge eines Barbaren

Ich würde ja gerne behaupten, ich hätte die Augen geschlossen gehalten, aber das wäre gelogen. Als ich die Sohlen von Vashets Schuhen auf dem Boden knirschen hörte, öffnete ich sie unwillkürlich wieder.

Ich spähte nicht heimlich, das hätte kindisch gewirkt. Nein, ich machte sie ganz auf. Vashet erwiderte meinen Blick und sah mich länger an als Tempi in einer ganzen Spanne. Ihre hellgrauen Augen funkelten hart aus ihrem anmutigen Gesicht. Die gebrochene Nase wirkte nicht mehr fehl am Platz, sondern wie eine grimmige Warnung an alle, die mit Vashet zu tun bekamen.

Ein Windstoß fuhr zwischen uns hindurch, und ein Frösteln überlief meine nackten Arme.

Vashet holte resigniert Luft und zuckte mit den Schultern. Sie drehte das Holzschwert um und packte es am Griff. Nachdenklich schwang sie es mit beiden Händen hin und her, um ein Gefühl für sein Gewicht zu bekommen. Dann hob sie es hoch und schlug zu.

Nein, sie schlug nicht zu.

»Also gut, du kleine Rotznase!«, seufzte sie entnervt. »Also gut! Himmel und Donner! Zieh dein Hemd wieder an. Mir wird kalt, wenn ich dich sehe.«

Ich sank auf die Bank. »Gott sei Dank«, murmelte ich und begann mein Hemd wieder anzuziehen, was schwierig war, weil mir die Hände zitterten. Und zwar nicht vor Kälte.

Vashet sah es. »Ich wusste es!«, rief sie triumphierend und zeigte auf mich. »Du hast hier gestanden, als würdest du gleich gehenkt. Ich wusste, dass du wie ein Wiesel davongerannt wärst!« Verärgert stampfte sie mit dem Fuß auf. »Ich wusste es, ich hätte zuschlagen sollen!«

»Ich bin froh, dass du es nicht getan hast«, sagte ich. Ich hatte mein Hemd angezogen, allerdings verkehrt herum, wie ich nun erst feststellte. Ich beschloss, es lieber anzulassen als noch einmal über meinen brennenden Rücken zu ziehen.

»Woran hast du gemerkt, dass ich nicht zuschlagen würde?«, wollte sie wissen.

»An nichts. Du hast es durch nichts verraten.«

»Aber woher wusstest du es dann?«

»Durch Überlegen«, sagte ich. »Wenn Shehyn wirklich gewollt hätte, dass ich gehe, hätte sie mich nur wegzuschicken brauchen. Genauso leicht wäre es gewesen, mich zu töten.«

Ich rieb mir die verschwitzten Hände an der Hose ab. »Daraus folgte, dass du mich wirklich als Lehrerin unterrichten solltest. Und dann gab es nur drei Erklärungen für dein Verhalten.« Ich hob einen Finger. »Es handelte sich entweder um eine Art Initiation.« Ich hob den zweiten Finger. »Oder eine Prüfung meiner Entschlossenheit …«

»Oder ich sollte dich wirklich von hier vertreiben«, sprach Vashet zu Ende und setzte sich auf die Bank mir gegenüber. »Aber wenn ich es nun ernst gemeint und dich blutig geschlagen hätte?«

Ich zuckte die Achseln. »Dann hätte ich wenigstens gewusst, woran ich bin. Doch es erschien mir unwahrscheinlich. Wenn Shehyn das gewollt hätte, hätte sie Carceret damit beauftragt.« Ich legte den Kopf schief. »Nur aus Neugier: worum ging es? Um Initiation oder Prüfung meiner Entschlossenheit? Und muss jeder eine solche Prüfung bestehen?«

Vashet schüttelte den Kopf. »Um deine Entschlossenheit. Ich musste sicher sein, dass ich meine Zeit nicht mit einem Feigling verschwende, der bei jedem Klaps gleich in die Hose macht. Außerdem musste ich wissen, dass du es ernst meinst.«

Ich nickte. »Diese Erklärung erschien mir auch am wahrscheinlichsten. Und ich wollte meinem Rücken weitere Striemen ersparen und die Entscheidung beschleunigen.«

Vashet musterte mich mit unverhohlener Neugier. »Ich hatte zugegebenermaßen noch nie einen Schüler, der ein solches Wagnis einging, um sich als meiner würdig zu erweisen.«

»Das war noch gar nichts«, erwiderte ich gelassen. »Einmal bin ich für so etwas sogar von einem Dach gesprungen.«

Wir plauderten eine Stunde lang über alles Mögliche, und die Spannung zwischen uns löste sich allmählich. Vashet fragte, warum ich ausgepeitscht worden war, und ich gab ihr bereitwillig Auskunft. Schließlich sollte sie mich nicht für einen Verbrecher halten.

Danach inspizierte sie meine Narben genauer. »Der Arzt, der dich damals behandelt hat, hat sich auf seine Kunst verstanden«, erklärte sie bewundernd. »Er hat deine Wunden sehr sauber vernäht. Ich habe nie bessere Nähte gesehen.«

»Ich werde das Kompliment weitergeben«, sagte ich.

Vashet strich vorsichtig mit der Hand über den neuen Striemen, der sich über meinen ganzen Rücken zog. »Der tut mir übrigens leid.«

»Er brennt auch besonders stark, kann ich dir sagen.«

»In ein, zwei Tagen ist das abgeklungen. Heute Nacht wirst du allerdings wohl auf dem Bauch schlafen müssen.« Sie zupfte mein Hemd zurecht und setzte sich dann wieder auf die Bank mir gegenüber.

Ich sagte nach kurzem Zögern: »Nimm es mir bitte nicht übel, Vashet, aber du kommst mir anders vor als die anderen Adem. Wobei ich natürlich noch nicht viele kenne.«

»Du achtest nur auf die dir vertraute Körpersprache«, erwiderte sie.

»Zugegeben. Aber ich habe das Gefühl, dass du … mehr durch Mimik ausdrückst als andere Adem.« Ich zeigte auf mein Gesicht.

Vashet zuckte mit den Schultern. »Wo ich herkomme, sprechen wir deine Sprache. Außerdem war ich vier Jahre lang Leibwächter und Hauptmann eines Dichters der kleinen Königreiche, der zufällig auch König war. Ich spreche wahrscheinlich besser Aturisch als sonst jemand in Haert, dich eingeschlossen.«

Ich ging nicht auf die letzte Bemerkung ein. »Du bist nicht hier aufgewachsen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich komme aus Feant, einem Ort weiter im Norden. Dort sind wir … offener. Haert hat nur diese eine Schule, und sie prägt das Leben hier sehr stark. Der Weg des Schwertbaums gehört außerdem zu den alten, sehr strengen Wegen. Wo ich aufgewachsen bin, folgt man dem Weg der Freude.«

»Es gibt andere Schulen?«

Vashet nickte. »Haert gehört zu den vielen Schulen, die dem Latantha folgen, dem Weg des Schwertbaums. Er ist nach Aethe und Aratan einer der ältesten Wege. Es gibt noch etwa drei Dutzend weitere Wege. Einige davon sind allerdings sehr klein, und nur ein oder zwei Schulen lehren ihren Ketan.«

»Sieht dein Schwert deshalb anders aus?«, fragte ich. »Hast du es von deiner anderen Schule mitgebracht?«

Vashet beäugte mich misstrauisch. »Was weißt du von meinem Schwert?«

»Du hast damit die Weidengerte zurechtgeschnitten. Tempi hatte auch ein gutes Schwert, aber deins sieht anders aus. Der Griff ist abgenutzt, die Klinge wirkt dagegen neu.«

Vashet sah mich merkwürdig an. »Deinem Blick entgeht nichts.«

Ich zuckte die Achseln.

»Genau genommen gehört das Schwert mir gar nicht«, sagte sie. »Es wurde mir nur zur Aufbewahrung anvertraut. Es ist schon sehr alt, und die Klinge ist der älteste Teil. Ich habe es von Shehyn.«

»Bist du deshalb an diese Schule gekommen?«

Vashet schüttelte den Kopf. »Nein, Shehyn gab mir das Schwert erst viel später.« Sie griff hinter sich und strich mit der Hand liebevoll über den Griff. »Nein, ich kam hierher, weil der Latantha zwar ein sehr strenger Weg ist, seine Anhänger sich aber im Schwertkampf hervortun. Vom Weg der Freude hatte ich alles gelernt, was ich lernen konnte. Drei andere Schulen wollten mich nicht, und dann nahm Shehyn mich auf. Sie ist sehr klug und erkannte, dass auch sie davon profitieren konnte, wenn sie mich unterrichtete.«

»Wir haben wahrscheinlich beide Glück, dass sie so offen ist«, sagte ich.

»Du noch mehr als ich«, erwiderte Vashet. »Zwischen den Wegen herrscht eine gewisse Konkurrenz. Als ich dem Latantha beitrat, hat das auch Shehyns Ansehen gehoben.«

»Es muss schwer gewesen sein, hierher zu kommen, ohne jemanden zu kennen«, sagte ich.

Vashet zuckte mit den Schultern, und das Schwert auf ihrer Schulter hob und senkte sich. »Anfangs ja«, gestand sie. »Aber wer etwas kann, wird anerkannt, und Talent habe ich genug. Unter den Schülern des Wegs der Freude galt ich als bieder und humorlos, hier gelte ich als ziemlich wild.« Sie grinste. »Ein schönes Gefühl, wie eine Garnitur neuer Kleider.«

»Lernt man auf dem Weg der Freude auch Lethani?«, fragte ich.

Vashet lachte. »Darüber streiten sich die Gelehrten. Zunächst einmal lautet die Antwort ja. Alle Adem befassen sich mit Lethani, besonders die Schüler der verschiedenen Schulen. Aber davon abgesehen versteht jeder etwas anderes darunter. Was manchen Schulen als heilig gilt, wird von anderen verachtet.«

Sie musterte mich nachdenklich. »Du sollst gesagt haben, Lethani käme vom selben Ort wie das Lachen. Stimmt das?«

Ich nickte.

»Eine gute Antwort. Mein Lehrer auf dem Weg der Freude hat einmal genau dasselbe zu mir gesagt.« Vashet runzelte die Stirn. »Aber du siehst mich so zweifelnd an. Warum?«

»Ich würde es dir ja sagen, aber dann hältst du mich bestimmt für dumm.«

»Ich würde dich für dumm halten, wenn du mir als deiner Lehrerin etwas verheimlichst«, erwiderte sie ernst. »Wir müssen einander vertrauen.«

Ich seufzte. »Also gut. Ich freue mich, dass dir meine Antwort gefällt, aber ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was sie bedeutet.«

»Danach habe ich dich ja auch nicht gefragt«, meinte Vashet unbekümmert.

»Ich habe sie nur aus Quatsch gesagt«, fuhr ich fort. »Ich weiß, dass Lethani für euch sehr wichtig ist, aber ich selber verstehe es nicht. Ich tu nur so als ob.«

Vashet lächelte nachsichtig. »Das geht nicht«, sagte sie überzeugt. »Genauso wenig wie beim Schwimmen. Man merkt, ob es einer kann.«

»Man kann auch beim Schwimmen nur so tun als ob«, erwiderte ich. »Ich bewege nur die Arme und gehe in Wirklichkeit auf dem Grund des Flusses entlang.«

Vashet musterte mich mit einem eigentümlichen Blick. »Also gut. Wie willst du uns denn getäuscht haben?«

Ich erklärte meine Technik des Kreiselnden Blattes und wie ich gelernt hatte, meine Gedanken in einen ganz leichten, schwerelosen Zustand zu versetzen, in dem mir Antworten auf alle möglichen Fragen einfielen.

»Du hast die Antworten also von dir selbst geklaut«, sagte Vashet mit gespieltem Ernst. »Du hast uns getäuscht, indem du dir selbst Antworten ausgedacht hast.«

»Du verstehst mich nicht«, erwiderte ich ein wenig gereizt. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was Lethani sein könnte! Es ist angeblich kein Weg, hilft aber, einen Weg zu wählen. Dann wieder ist es der einfachste Weg, aber nicht einfach zu finden. Ihr klingt für mich ehrlich gesagt ein wenig wie betrunkene Kartographen.«

Ich bereute meine Worte, kaum dass ich sie gesagt hatte, aber Vashet lachte nur. »Es gibt viele Betrunkene, die eine Menge von Lethani verstehen«, sagte sie, »darunter einige geradezu legendäre Gestalten.«

Weil sie merkte, dass ich noch immer aufgeregt war, machte sie eine beruhigende Handbewegung. »Auch ich verstehe Lethani nicht, jedenfalls nicht so, dass ich es einem anderen erklären könnte. Lethani zu unterrichten ist eine Gabe, die mir fehlt. Wenn Tempi einen Sinn dafür in dir wecken konnte, ist das ein großes Verdienst.«

Sie beugte sich vor. »Deine Schwierigkeiten haben auch mit deiner Sprache zu tun«, sagte sie. »Aturisch ist sehr eindeutig und klar. In unserer Sprache schwingt viel mehr mit, wir tun uns deshalb leichter mit der Vorstellung von Dingen, die man nicht erklären kann. Von diesen Dingen ist Lethani das Wichtigste.«

»Und was gehört noch dazu?«, fragte ich. »Sag jetzt bitte nicht ›blau‹, sonst werde ich hier auf dieser Bank auf der Stelle wahnsinnig.«

Vashet überlegte. »Zum Beispiel die Liebe. Wir kennen sie, können sie aber nicht erschöpfend beschreiben.«

»Liebe ist ein schwieriger Begriff«, gab ich zu. »Sie ist wie die Gerechtigkeit schwer zu fassen, aber man kann sie definieren.«

In Vashets Augen trat ein Funkeln. »Dann tu das bitte, mein kluger Schüler. Definiere die Liebe.«

Ich überlegte, erst kurz, dann lange.

Vashet grinste. »Du ahnst, dass ich jede Erklärung, die du gibst, mit Leichtigkeit widerlegen kann.«

»Liebe ist die Bereitschaft, für einen anderen alles zu tun«, sagte ich. »Selbst wenn einem dadurch ein Nachteil entsteht.«

»Was unterscheidet die Liebe dann von Treue und Pflichtbewusstsein?«

»Sie ist außerdem mit körperlicher Anziehung verbunden«, sagte ich.

»Auch die Mutterliebe?«, fragte Vashet.

»Dann eben mit größter Zuneigung«, verbesserte ich mich.

»Und was genau soll das heißen?«, fragte Vashet aufreizend ruhig.

»Zuneigung ist …« Ich verstummte und überlegte verzweifelt, wie ich Liebe ohne Zuhilfenahme anderer, ähnlich abstrakter Begriffe beschreiben konnte.

»So ist das mit der Liebe«, sagte Vashet. »Jeder Versuch einer Beschreibung macht eine Frau ganz kirre. Deshalb finden die Dichter ja auch kein Ende, wenn sie über die Liebe schreiben. Wenn einer sie letztgültig beschreiben könnte, könnten die anderen aufhören. Aber es ist unmöglich.«

Sie hob einen Finger. »Aber nur ein Narr würde behaupten, es gäbe die Liebe deshalb nicht. Es gibt sie, sobald zwei junge Wesen einander mit feuchten Augen anblicken. Man kann sie förmlich mit Händen greifen. Dasselbe gilt für Mutter und Kind. Sobald es im Bauch kribbelt, weiß man, sie ist da, auch wenn man es nicht in Worte fassen kann.«

Sie sah mich triumphierend an. »Und genauso ist es mit Lethani. Nur ist Lethani etwas noch Größeres und deshalb noch schwieriger zu beschreiben. Darin besteht der Sinn der Fragen. Man stellt sie, wie man ein Mädchen nach dem Jungen fragt, den es mag. Das Wort ›Liebe‹ kommt in ihrer Antwort vielleicht gar nicht vor, aber ihre Antwort zeigt, ob sie ihn liebt oder nicht.«

»Aber wie können meine Antworten irgendwelche Kenntnisse über Lethani verraten, wenn ich gar nicht weiß, um was es sich handelt?«, fragte ich.

»Du bist ganz gewiss mit Lethani vertraut«, erwiderte Vashet. »Es ist tief in dir verwurzelt, so tief, dass du es nicht siehst. Manchmal geht es einem mit der Liebe ähnlich.«

Sie streckte die Hand aus und klopfte mir an die Stirn. »Aber zu deinem Kreiselnden Blatt. Wie ich gehört habe, werden von anderen Schulen ähnliche Dinge praktiziert. Im Aturischen gibt es meines Wissens kein Wort dafür. Es handelt sich um eine Art Ketan des Bewusstseins zur Übung des Denkens.«

Sie machte eine abschließende Handbewegung. »Jedenfalls ist es kein Betrug. Du zeigst, was in den Tiefen deines Geistes verborgen ist. Dass du von selbst auf diese Technik gekommen bist, ist bemerkenswert.«

Ich nickte. »Ich beuge mich deiner Weisheit, Vashet.«

»Du beugst dich der Tatsache, dass ich unbestreitbar recht habe.«

Sie klatschte in die Hände. »Du kannst viel von mir lernen. Aber da dein Rücken noch wund ist, wollen wir heute auf den Ketan verzichten. Führe mir stattdessen dein Ademisch vor. Lass hören, wie du meine schöne Sprache mit deiner groben, barbarischen Zunge verunstaltest.«

In den folgenden Stunden erfuhr ich eine Menge über das Ademische. Ich genoss es, ausführlich fragen zu können und verständliche und aufschlussreiche Antworten zu erhalten. Nach wochenlangem Tasten im Dunkeln kam mir diese Art zu lernen fast schon verboten leicht vor.

Doch Vashet gab mir unmissverständlich zu verstehen, dass meine Gebärdensprache beschämend primitiv war. Zwar konnte ich mich verständlich machen, aber höchstens auf dem Niveau eines Kleinkinds. Im schlimmsten Fall hörte ich mich an wie ein wild drauflos brabbelnder Verrückter.

»Jetzt klingst du in etwa so.« Vashet stand auf, fuchtelte mit den Händen über ihrem Kopf herum und zeigte mit den Daumen auf sich. »Ich gut kämpfen.« Sie grinste dümmlich. »Mit Schwert!« Sie schlug sich mit den Fäusten an die Brust und hüpfte wie ein aufgeregtes Kind auf und ab.

»Ach komm«, protestierte ich verlegen. »So schlimm ist es nicht.«

»Aber fast«, entgegnete Vashet ernst und setzte sich wieder. »Wenn du mein Sohn wärst, würde ich dich nicht aus dem Haus lassen. Als mein Schüler ist deine einzige Entschuldigung, dass du ein Barbar bist. Es kommt mir vor, als hätte Tempi einen Hund mitgebracht, der pfeifen kann. Dass du auch noch falsch pfeifst, spielt dabei keine Rolle mehr.«

Sie tat, als wollte sie aufstehen. »Aber wenn es dir reicht, wie ein Dummkopf zu sprechen, brauchst du es nur zu sagen. Dann wenden wir uns anderen Dingen zu …«

Ich beeilte mich zu versichern, dass ich unbedingt besser sprechen lernen wollte.

Vashet nickte. »Zunächst einmal sagst du zu viel und sprichst zu laut. Das Ademische besteht in seinem Kern aus Stille und Schweigen. Die Sprache spiegelt das. Zweitens musst du viel genauer darauf achten, wann du welche Gebärden verwendest. Sie relativieren bestimmte Worte und Gedanken und verstärken nicht immer, was du sagst. Manchmal stehen sie auch absichtlich im Widerspruch dazu.«

Vashet machte in rascher Folge sieben oder acht verschiedene Gesten. Alle bedeuteten Belustigung, doch jeweils in einer anderen Schattierung. »Außerdem musst du auch die feinen Bedeutungsnuancen kennen, den Unterschied zwischen rank und schlank, wie mein Dichterkönig zu sagen pflegte. Bisher hast du nur ein einziges Lächeln, und damit macht man unweigerlich einen einfältigen Eindruck.«

Wir arbeiteten mehrere Stunden lang, und ich lernte etwas, das Tempi mir nie richtig hatte erklären können. Aturisch war wie ein großer, flacher Teich. Es bestand aus sehr vielen Wörtern, die alle eine genaue Bedeutung besaßen. Ademisch dagegen ähnelte einem tiefen Brunnen. Es hatte weniger Wörter, dafür besaß jedes Wort mehrere Bedeutungen. Ein gut formulierter Satz auf Aturisch ist wie eine gerade Linie, die in eine bestimmte Richtung zeigte. Ein entsprechender Satz im Ademischen ist wie ein Spinnennetz: jeder Faden hat eine eigene Bedeutung und ist Teil eines größeren, komplexen Ganzen.

Viel besser gestimmt als zuvor kehrte ich zum Abendessen in den Speisesaal zurück. Die Striemen auf Rücken und Wange brannten zwar noch, aber ich spürte mit meinen Fingern, dass die Schwellung auf der Wange bereits deutlich abgeklungen war. Ich saß immer noch für mich allein am Tisch, hielt den Kopf aber nicht mehr gesenkt wie noch beim Mittagessen. Stattdessen beobachtete ich die Hände der anderen und versuchte die feinen Bedeutungsunterschiede zwischen Neugier und Interesse, Ablehnung und Weigerung zu erkennen.

Nach dem Essen kam Vashet mit einem kleinen Tiegel Salbe, mit der sie mir großzügig den Rücken einrieb und dann etwas sparsamer das Gesicht. Ich spürte zuerst ein Kribbeln und Brennen, dann eine taube, dumpfe Wärme. Erst als das Brennen nachließ, merkte ich, wie angespannt ich am ganzen Körper gewesen war.

»So«, sagte Vashet und verschloss den Tiegel wieder mit einem dicken Korken. »Wie fühlte sich das an?«

»Ich könnte dich küssen«, sagte ich dankbar.

»Das könntest du natürlich, aber mit deiner dicken Lippe würde das nichts werden. Zeig mir lieber deinen Ketan.«

Ich hatte an diesem Tag noch keine Dehnübungen gemacht, wollte mich aber nicht drücken. Also nahm ich die Stellung der Offenen Hände ein und arbeitete mich langsam weiter.

Wie bereits erwähnt, unterbrach Tempi mich gewöhnlich, sobald ich den kleinsten Fehler machte. Als ich deshalb ohne Unterbrechung bei der zwölften Stellung angelangt war, war ich sehr stolz. Doch dann passierte mir beim Pflaumenpflücken ein schwerer Stellungsfehler. Als Vashet immer noch nichts sagte, begriff ich, dass sie mir nur zusah und sich ihr Urteil bis zum Ende aufhob. Ich begann zu schwitzen und machte verbissen zehn Minuten bis zum Ende des Ketan weiter.

Als ich fertig war, stand Vashet auf und strich sich über das Kinn. »Hm«, sagte sie langsam, »es könnte auf jeden Fall schlimmer sein …« Ich fühlte mich schon ein wenig geschmeichelt, da fuhr sie fort: »… wenn du zum Beispiel nur ein Bein hättest.«

Sie ging um mich herum und musterte mich eingehend. Verschiedentlich streckte sie die Hand aus und drückte mich in Brust und Bauch. Sie betastete meine Oberarme und den dicken Muskel oberhalb meines Beines. Ich kam mir vor wie ein Spanferkel auf dem Markt.

Zuletzt fasste sie mich an den Händen, drehte sie um und betrachtete sie. Sie schien angenehm überrascht. »Du hast nie gekämpft, bevor Tempi es dir beigebracht hat?«, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf.

»Du hast gute Hände«, sagte sie. Sie strich mit den Fingern über meine Unterarme und befühlte die Muskeln. »Die Hälfte von euch Barbaren hat vom Nichtstun weiche, schwache Hände. Die andere Hälfte hat vom Holzhacken oder Pflügen starke, grobe Hände.« Sie drehte meine Hände in den ihren. »Aber du hast starke und kluge Hände und bewegliche Handgelenke.« Sie hob fragend den Kopf. »Wovon bestreitest du deinen Lebensunterhalt?«

»Ich bin Student der Universität und arbeite dort mit Werkzeugen zur Bearbeitung von Metall und Stein«, erklärte ich. »Außerdem bin ich Musiker. Ich spiele Laute.«

Vashet sah mich erschrocken an und brach dann in Lachen aus. Sie ließ meine Hände los und schüttelte bestürzt den Kopf. »Auch das noch«, sagte sie. »Ein Musiker. Wunderbar. Wer weiß davon?«

»Warum?«, fragte ich. »Ich schäme mich nicht dafür.«

»Nein, natürlich nicht. Das ist ja unter anderem das Problem.« Vashet atmete tief durch. »Also gut, ich sage es dir lieber gleich, damit sparen wir uns langfristig eine Menge Ärger.« Sie sah mich an. »Du bist eine Hure.«

Ich erwiderte ihren Blick entgeistert. »Wie bitte?«

»Hör mir bitte kurz zu. Du bist ja nicht schwer von Begriff und hast bestimmt schon bemerkt, dass es riesige Unterschiede gibt zwischen hier und dem Land, in dem du aufgewachsen bist …«

»Dem Commonwealth?«, fiel ich ein. »Da hast du recht. Im Vergleich zu den anderen Söldnern aus Vintas waren die Unterschiede zwischen Tempi und mir riesig.«

Vashet nickte. »Was natürlich zum Teil auch daran liegt, dass Tempi keine Unze Verstand im Kopf hat und in weltlichen Dingen so naiv ist wie ein Neugeborener.« Sie machte eine Handbewegung. »Aber davon abgesehen hast du recht. Die Unterschiede sind immens.«

Ich nickte. »Zum Beispiel scheint es euch nichts auszumachen, nackt herumzulaufen. Oder aber Tempi ist ein Exhibitionist.«

»Würde mich ja interessieren, wie du das herausgefunden hast.« Vashet kicherte. »Aber stimmt. So seltsam es für dich klingen mag, wir haben tatsächlich keine Angst vor einem nackten Körper.«

Sie sah mich nachdenklich an und schien zu einem Entschluss zu gelangen. »Es ist wahrscheinlich am einfachsten, wenn ich es dir zeige. Sieh mir zu.«

Ich sah also zu, wie ihr Gesicht den für die Adem typischen teilnahmslosen Ausdruck annahm, bis es so leer war wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Auch ihre Stimme klang auf einmal monoton und ausdruckslos. »Sage mir, was ich jetzt mache.«

Sie trat auf mich zu, ohne mich anzusehen. Mit der Hand machte sie die Bewegung für Respekt. »Du kämpfst wie ein Tiger.« Ihr Gesicht war unbewegt, ihre Stimme klang ruhig und eintönig. Sie fasste mich mit der einen Hand an der Schulter, mit der anderen nahm sie meinen Arm und drückte ihn.

»Du lobst mich«, sagte ich.

Vashet nickte und trat zurück. Dann veränderte sie sich. Ihr Gesicht belebte sich, sie sah mich lächelnd an und trat dicht vor mich. »Du kämpfst wie ein Tiger«, sagte sie. In ihrer Stimme schwang Bewunderung. Sie legte mir eine Hand auf die Schulter, mit der anderen umfasste sie meinen Oberarm und drückte ihn.

Ihre Nähe machte mich auf einmal verlegen. »Das ist ein Annäherungsversuch«, sagte ich.

Vashet trat wieder zurück und nickte. »Ihr empfindet bestimmte Dinge als intim. Nackte Haut, Körperkontakt, die Nähe eines anderen Körpers, Streicheln und Küssen. Für die Adem ist das nichts Besonderes.«

Sie sah mich an. »Hast du ein einziges Mal einen von uns schreien hören? Die Stimme erheben? Oder auch nur so laut sprechen, dass alle ihn verstehen?«

Ich überlegte kurz und schüttelte den Kopf.

»Das liegt daran, dass das Sprechen für uns etwas Privates ist, wie übrigens auch die Mimik. Oder das.« Sie drückte sich die Finger an den Hals. »Wie die Wärme, die von einer Stimme ausgehen kann, und die damit verbundenen Gefühle. Das ist für uns sehr intim.«

»Und nichts ist stärker mit Gefühlen verbunden als Musik«, sagte ich und nickte. Die Vorstellung war so seltsam, dass ich mich erst daran gewöhnen musste.

Vashet nickte ernst. »Die Mitglieder einer Familie singen vielleicht zusammen, wenn sie sich nahe stehen. Eine Mutter singt vielleicht ihrem Kind etwas vor oder eine Frau ihrem Mann.« Bei diesen Worten errötete Vashet ein wenig. »Aber nur, wenn sie sich sehr lieb haben und wenn sie allein sind.«

Sie zeigte auf mich. »Aber du als Musiker? Du spielst vor einem ganzen Saal, vor vielen Menschen gleichzeitig. Und wofür? Ein paar Pennys? Eine Mahlzeit?« Sie sah mich ernst an. »Und dasselbe tust du immer wieder, Abend für Abend. Vor ganz beliebigen Menschen.«

Sie schüttelte den Kopf, erschauerte und machte mit der linken Hand unwillkürlich die Gesten für Erschrecken, Abscheu und Tadel. Auf beiden Ebenen zugleich emotionale Zeichen von ihr zu empfangen war furchterregend.

Ich sah mich auf einmal nackt auf der Bühne des EOLIAN stehen. Dann schob ich mich nackt durch die Zuhörer und drückte mich an sie, egal ob sie jung oder alt waren, dick oder dünn, reich, adlig oder mittellos. Es war eine ernüchternde Vorstellung, und ich verdrängte sie rasch.

»Aber die achtunddreißigste Stellung des Ketan heißt Lautenspiel«, protestierte ich. Ich klammerte mich an einen Strohhalm, das war mir klar.

»Und die zwölfte Schlafender Bär.« Vashet zuckte mit den Schultern. »Doch es gibt hier weder Bären noch Löwen, noch Lauten. Manche Namen enthüllen etwas. Die Namen des Ketan dagegen sollen die Wahrheit verbergen, damit wir über sie sprechen können, ohne ihre Geheimnisse der Öffentlichkeit preiszugeben.«

»So ist das also«, sagte ich nach kurzem Schweigen. »Aber viele von euch sind doch in der Welt herumgekommen. Du selbst sprichst ein schönes und sehr ausdrucksvolles Aturisch. Bestimmt weißt du auch, dass jemand, der singt, nicht zwangsläufig ein schlechter Mensch ist.«

»Du kennst die Welt ebenfalls«, erwiderte Vashet ruhig. »Und du weißt auch, dass es nicht zwangsläufig schlecht ist, wenn man es in einem belebten Schankraum, direkt vor dem Kamin, hintereinander mit drei Männern oder Frauen treibt.« Sie sah mich vielsagend an.

»Der Steinboden wäre vermutlich etwas hart«, meinte ich.

Vashet kicherte. »Aber angenommen, auf dem Boden läge eine Decke? Wie würdest du so jemanden nennen?«

Wenn sie mich das zwei Spannen zuvor gefragt hätte, kurz nach meiner Rückkehr von Felurian, hätte ich die Frage womöglich nicht verstanden. Wäre ich noch länger bei Felurian geblieben, wäre mir Sex vor dem Kamin am Ende ganz normal vorgekommen. Aber ich lebte schon eine ganze Weile wieder in der Welt der Menschen …

Eine Hure, dachte ich stumm, eine billige, schamlose Hure. Ich war froh, dass ich niemandem von Tempis Wunsch, Laute zu lernen, erzählt hatte. Wie musste er sich für sein unschuldiges Verlangen geschämt haben! Bei der Vorstellung, er habe vielleicht schon als Junge Musik machen wollen, aber aus Scham nie davon gesprochen, wurde mir ganz weh ums Herz.

Mein Gesicht musste meine Gefühle verraten haben, denn Vashet ergriff meine Hand und drückte sie. »Ich weiß, dass ihr das nur schwer verstehen könnt. Schließlich habt ihr nie in Erwägung gezogen, dass es auch anders sein könnte.«

Meine Gedanken überschlugen sich. »Aber wie haltet ihr Kontakt zur Außenwelt, wenn keine Schauspieler von Stadt zu Stadt ziehen?«, fragte ich. »Wie erfahrt ihr, was es Neues gibt?«

Vashet grinste schief und wies auf die windgepeitschte Landschaft. »Meinst du, dass man sich hier übermäßig für die Geschehnisse der Welt interessiert?« Sie ließ den Arm wieder sinken. »Aber es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Reisende Händler sind hier willkommener als an den meisten anderen Orten und Kessler sowieso. Außerdem reisen wir auch selbst. Wer sich als Söldner verdingt, lernt andere Länder kennen und kehrt mit Nachrichten zurück.«

Sie legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. »In seltenen Fällen kommt sogar ein Sänger oder Musikant durch Haert. Er spielt dann allerdings nicht für die ganze Stadt auf einmal, sondern nur für eine Familie. Und selbst dort sitzt er beim Spielen hinter einem Wandschirm, damit ihn niemand sieht. Daran erkennt man übrigens die Musiker der Adem: Sie tragen auf Reisen hohe Wandschirme auf dem Rücken.« Vashet schürzte die Lippen. »Aber selbst sie stehen nicht im besten Ruf. Ihre Kunst wird geschätzt, ist aber nicht ehrenhaft.«

Ich atmete ein wenig auf. Dass Künstler irgendwo nicht willkommen sein könnten, kam mir völlig abwegig, ja krank vor. Dass anderswo andere Sitten herrschten, konnte ich mir dagegen eher vorstellen. Sich dem jeweiligen Publikum anzupassen ist den Edema Ruh so vertraut wie das Wechseln der Kostüme.

»So halten wir es jedenfalls hier«, fuhr Vashet fort, »und du tätest gut daran, dich früher oder später damit abzufinden. Ich sage das als Frau, die viel gereist ist. Ich habe acht Jahre lang unter Barbaren gelebt und sogar in einer größeren Gruppe einem Musiker zugehört.« Sie sagte es stolz und mit trotzig schräg gelegtem Kopf. »Und zwar mehr als nur einmal.«

»Hast du je vor anderen gesungen?«, fragte ich.

Vashet Miene versteinerte sich. »Diese Frage ist sehr unhöflich«, sagte sie steif. »Damit machst du dir hier keine Freunde.«

»Ich meine doch nur, wenn du es versuchen würdest, würdest du vielleicht feststellen, dass es gar nicht schlimm ist. Musik bereitet den Menschen viel Freude.«

Vashet musterte mich streng und machte eine schroffe Gebärde für Ablehnung und endgültig. »Ich bin viel gereist und in der Welt herumgekommen, Kvothe, genauso wie zahlreiche andere Adem. Wir haben auch Musiker kennengelernt. Ich will ganz offen sprechen: Viele von uns sind insgeheim von ihnen fasziniert, ähnlich wie bei euch viele die Künste der modeganischen Kurtisanen bewundern.«

Sie sah mich scharf an. »Trotzdem würde ich nicht wollen, dass meine Tochter mit einem Musiker nach Hause kommt, wenn du verstehst, was ich meine. Und es würde Tempis Ruf nicht guttun, wenn andere mitbekämen, dass er den Ketan mit einem wie dir geübt hat. Behalte das für dich. Du hast schon Probleme genug, auch ohne dass bekannt wird, dass du zu allem Überfluss auch noch Musiker bist.«

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