Hände

Sobald Vashet fand, dass ich ihre Sprache sprechen konnte, ohne mich übermäßig zu blamieren, brachte sie mich zu Gesprächen mit einigen merkwürdigen Menschen aus Haert zusammen.

Einer davon war ein geschwätziger Alter, der Seide spann und dabei unaufhörlich plauderte und seltsam sinnlose, phantastische Geschichten erzählte. Eine handelte von einem Jungen, der Schuhe auf dem Kopf balancierte, um zu verhindern, dass eine Katze getötet wurde, eine andere von einer Familie, die vorhatte, Stein für Stein einen ganzen Berg aufzuessen. Ich verstand nicht, was die Geschichten sollten, hörte ihm aber höflich zu und trank das süße Bier, das er mir vorsetzte.

Des weiteren lernte ich Zwillingsschwestern kennen, die Kerzen herstellten und mir die Schritte einiger sonderbarer Tänze zeigten. Einen Nachmittag verbrachte ich mit einem Holzfäller, der stundenlang von nichts anderem als Holzfällen sprach.

Zuerst hielt ich diese Menschen für wichtige Mitglieder der Gemeinde. Ich glaubte, Vashet führe mich ihnen vor, um zu zeigen, wie viel ich schon gelernt hätte.

Erst als ich einen Vormittag mit Zweifinger verbrachte, wurde mir klar, dass sie mich zu diesen Menschen schickte, weil ich etwas lernen sollte.

Zweifinger hieß nicht in Wirklichkeit so, ich nannte ihn nur in Gedanken so. Er war der Koch der Schule und ich sah ihn bei jeder Mahlzeit. Seine linke Hand war gesund, die rechte dagegen furchtbar verstümmelt. Nur noch Daumen und Zeigefinger waren von ihr übrig.

Vashet schickte mich eines Morgens zu ihm und gemeinsam bereiteten wir das Mittagessen zu und unterhielten uns dabei. Der Koch hieß Naden und hatte zehn Jahre bei den Barbaren verbracht. In der Zeit vor seiner Verletzung, als er noch kämpfen konnte, hatte er über zweihundertdreißig Talente für die Schule verdient. Davon sprach er wiederholt, und ich schloss daraus, dass es ihn besonders stolz machte.

Die Glocke läutete und die Schüler strömten in den Speisesaal. Naden verteilte den Eintopf, den wir gemacht hatten, eine dicke, heiße Suppe mit Fleisch- und Karottenstücken. Ich schnitt für alle, die Brot dazu essen wollten, warmes Weißbrot in Scheiben, nickte den Wartenden zu und tauschte hin und wieder eine höfliche Geste aus. Außerdem achtete ich darauf, dass ich ihnen dabei nur ganz kurz in die Augen blickte, und ich redete mir ein, es sei Zufall, dass sich an diesem Tag nur so wenige für das Brot interessierten.

Carceret zeigte ihre Gefühle ganz offen und für alle sichtbar. Als sie am Kopf der Schlange stand, bekundete sie zuerst mit einer deutlichen Gebärde ihren tiefsten Abscheu, dann ließ sie ihren hölzernen Teller stehen und ging.

Später besorgten Naden und ich noch den Abwasch. »Vashet sagt, du machst im Schwertkampf nur langsam Fortschritte«, sagte er unvermittelt. »Sie meint, du hättest Angst um deine Hände, und das ließe dich zögern.« Strenger Tadel.

Ich erschrak über seine schroffe Ausdrucksweise und unterdrückte den Drang, seine verstümmelte Hand anzustarren. Da ich fürchtete, die Stimme könnte mir versagen, nickte ich nur.

Naden richtete sich von dem eisernen Topf auf, den er gerade schrubbte, und hielt seine Hand vor sich hin. Es war eine trotzige Bewegung, und sein Gesicht war zu einer grimmigen Maske erstarrt. Auch ich sah die Hand jetzt an, um nicht unhöflich zu sein. Nur noch Daumen und Zeigefinger waren übrig, genug, um etwas zu greifen, aber nicht genug für feinere Arbeiten. Der Rest der Hand bestand aus runzligen Narben.

Ich verzog keine Miene, aber es fiel mir schwer. In gewisser Weise sah ich meinen schlimmsten Albtraum vor mir. Ich musste an meine gesunden Hände denken und war versucht, sie zu Fäusten zu ballen oder hinter dem Rücken zu verstecken.

»Diese Hand hat seit einem Dutzend Jahre kein Schwert mehr gehalten«, sagte Naden. Stolz, Wut und Bedauern. »Ich habe viel über den Kampf nachgedacht, in dem ich meine Finger verloren habe. Ich habe sie nicht einmal an einen würdigen Gegner verloren, sondern an einen Barbaren, dessen Hände mit einer Schaufel besser umgehen konnten als mit einem Schwert.«

Er bewegte die beiden übriggebliebenen Finger. In gewisser Weise hatte er noch Glück gehabt. Andere Adem in Haert hatten ganze Hände, ihre Augen oder Gliedmaßen bis zum Ellbogen oder Knie eingebüßt.

»Ich habe lange nachgedacht. Wie hätte ich meine Hand retten können? Ich denke immer wieder an den Vertrag, der mich verpflichtete, einen Herrn zu schützen, dessen Untertanen rebellierten. Ich denke: Was wäre, wenn ich diesen Vertrag nicht geschlossen hätte? Oder wenn ich die linke Hand verloren hätte? Ich könnte dann zwar kein Gespräch führen, dafür aber ein Schwert halten.« Er ließ die Hand sinken. »Aber ein Schwert zu halten ist nicht genug. Ein richtiger Söldner braucht zwei Hände. Mit nur einer Hand kann ich nicht den Flüchtigen Liebhaber oder den Schlafenden Bären ausführen.«

Er zuckte die Achseln. »Im Rückblick kann man sich das alles fragen, immer wieder, aber es nützt nichts. Ich war stolz darauf, Söldner zu sein, und ich habe über zweihundertdreißig Talente für die Schule verdient. Ich gehörte dem zweiten Stein an und wäre zu gegebener Zeit zum dritten vorgerückt.«

Er hob wieder seine verkrüppelte Hand. »Das alles hätte ich nicht geschafft, hätte ich Angst gehabt, meine Hand zu verlieren. Wenn ich ängstlich gewesen wäre, wäre ich nie als Schüler des Latantha aufgenommen worden, hätte nie den zweiten Stein geschafft. Ich hätte meine Finger noch, wäre aber weniger, als ich jetzt bin.«

Er wandte sich erneut den Töpfen zu und begann sie zu schrubben. Nach einem kurzen Augenblick folgte ich seinem Beispiel.

Doch konnte ich nicht an mich halten. »Ist es schlimm?«, fragte ich leise.

Naden antwortete lange nicht. »Als es passierte, glaubte ich zunächst, es sei nicht so schlimm. Andere sind schlimmer verwundet worden oder sogar gestorben. Ich hatte mehr Glück als sie.«

Er atmete tief durch. »Ich redete mir ein, es sei nicht so schlimm und mein Leben würde weitergehen. Aber das stimmt nicht. Das Leben hört auf. Ich habe viel verloren. Alles.«

Er machte eine Pause. Dann sagte er: »Wenn ich träume, habe ich beide Hände.«

Schweigend machten wir den Abwasch zu Ende. Manchmal kann man nicht mehr tun als gemeinsam schweigen.

Auch Celean konnte mir etwas beibringen: dass es nämlich Gegner gibt, die Männern ohne zu zögern die Faust, den Fuß oder den Ellbogen in die Geschlechtsteile stoßen.

Wobei sie wohlgemerkt nie so heftig zustieß, dass ich bleibende Schäden davongetragen hätte. Sie kämpfte schon ihr ganzes junges Leben lang und besaß die von Vashet so hoch geschätzte Beherrschung. Das bedeutete freilich auch, dass sie genau wusste, wie hart sie zustoßen musste, um mich außer Gefecht zu setzen und sich unangefochten den Sieg zu sichern.

Ich saß also mit einem flauen Gefühl im Gras und kämpfte mit der Übelkeit. Celean hatte mir, nachdem sie mich kampfunfähig gemacht hatte, tröstend auf die Schulter geklopft und sich fröhlich hüpfend entfernt. Bestimmt wollte sie wieder unter den im Wind schwankenden Ästen des Schwertbaums tanzen.

»Du hast dich bis kurz vor Schluss gut gehalten«, sagte Vashet und setzte sich mir gegenüber auf den Boden.

Ich schwieg. Wie ein Kind, das Verstecken spielt, hoffte ich inbrünstig, dass die Schmerzen mich nicht finden würden, wenn ich die Augen schloss und mich nicht bewegte.

»Na komm, ich habe Celeans Tritt gesehen«, sagte Vashet ein wenig ungeduldig. »So schlimm war er nicht.« Ich hörte sie seufzen. »Aber wenn du meinst, du brauchst jemanden, der sich ansieht, ob noch alles dran ist …«

Ich kicherte ein wenig, aber das war ein Fehler. Unerträgliche Schmerzen fuhren mir durch den Unterleib und strahlten bis in die Knie und das Brustbein aus. Übelkeit und Schwindel schlugen über mir zusammen, und ich öffnete die Augen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Irgendwann wächst sie da heraus«, sagte Vashet.

»Hoffentlich«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Es ist wirklich eine lästige Angewohnheit.«

»So meine ich das nicht«, erwiderte Vashet. »Ich meinte, sie wird größer werden und ihre Aufmerksamkeit dann hoffentlich gleichmäßiger über den Körper ihres Gegners verteilen. Im Moment greift sie viel zu oft auf Höhe der Lenden an. Das macht sie berechenbar, und man kann sich leicht dagegen verteidigen.« Sie sah mich vielsagend an. »Wenn man einen Funken Verstand besitzt.«

Ich schloss die Augen wieder. »Bitte jetzt keinen Unterricht, Vashet«, bat ich. »Mir kommt gleich das Frühstück von gestern hoch.«

Vashet stand auf. »Dann ist das der beste Zeitpunkt für eine Unterrichtsstunde. Steh auf. Du musst lernen, auch mit Verletzungen zu kämpfen. Celean hat dir die Gelegenheit verschafft, diese unschätzbare Fähigkeit zu üben. Du solltest dich bei ihr bedanken.«

Da ich wusste, dass Widerspruch zwecklos war, stand ich auf und ging vorsichtig einige Schritte zu meinem Übungsschwert.

Vashet hielt mich an der Schulter fest. »Nein, nur mit den Händen.«

Ich seufzte. »Muss das sein, Vashet?«

Sie hob die Augenbrauen. »Muss was sein?

»Müssen wir immer nur mit den Händen kämpfen?«, fragte ich. »Ich falle im Schwertkampf immer stärker zurück.«

»Bin ich nicht deine Lehrerin?«, fragte sie. »Woher willst du wissen, was für dich am besten ist?«

»Ich muss später draußen in der Welt zurechtkommen«, sagte ich vorwurfsvoll. »Und dort kämpfe ich lieber mit einem Schwert als mit den Fäusten.«

Vashet senkte die Hände und sah mich verständnislos an. »Und warum bitteschön?«

»Weil die anderen auch Schwerter haben. Und wenn ich kämpfe, will ich schließlich gewinnen.«

»Und das ist mit einem Schwert leichter?«

Vashets äußerliche Ruhe hätte mich warnen sollen, dass ich mich mit meinen Argumenten auf dünnem Eis bewegte, aber ich war durch die Übelkeit erregenden Schmerzen abgelenkt, die von meinen Lenden ausstrahlten. Obwohl ich, wenn ich ehrlich bin, vielleicht auch sonst nicht darauf geachtet hätte. Vashet war mir inzwischen so vertraut, dass ich nicht mehr richtig aufpasste.

»Natürlich«, sagte ich. »Warum trägt man sonst ein Schwert?«

»Gute Frage«, überlegte sie. »Warum trägt man ein Schwert?«

»Warum trägt man etwas? Damit man es verwenden kann.«

Vashet sah mich mit einem Ausdruck größter Empörung an. »Warum mühen wir uns dann damit ab, dass du unsere Sprache lernst?«, fragte sie wütend. Sie packte mich mit einer Hand am Kinn, drückte mir die Finger in die Wangen und zwang mich so, den Mund aufzumachen, als sei ich ein Patient der Mediho, der seine Arznei nicht nehmen will. »Wozu brauchst du eine Zunge, wenn ein Schwert ausreicht? Kannst du mir das sagen?«

Vergeblich versuchte ich mich aus ihrem Griff zu befreien, sie war stärker als ich. Ich versuchte sie wegzustoßen, aber sie schob meine fuchtelnden Hände ungeduldig zur Seite, als sei ich ein Kind.

Dann ließ sie mein Gesicht los, fasste mich am Handgelenk und riss meine Hand vor meinem Gesicht nach oben. »Warum hast du überhaupt Hände an den Armen und nicht Messer?«

Sie ließ mich wieder los und schlug mich mit der flachen Hand hart ins Gesicht.

Wenn ich sage, sie schlug mich, bekommt ihr einen falschen Eindruck. Sie schlug mich nicht mit einer dramatisch ausholenden Geste, wie man es auf der Bühne erlebt. Genauso wenig handelte es sich um den empörten, schmerzhaft brennenden Klaps der Kammerfrau auf die glatte Haut eines zudringlichen Edelmanns und nicht einmal um den kräftigeren Schlag, mit dem eine Kellnerin sich gegen die unliebsame Aufmerksamkeit eines grapschenden Betrunkenen zur Wehr setzt.

Nein, es handelte sich nicht um einen gewöhnlichen Schlag, der mit den Fingern oder der Handfläche ausgeführt wird und brennt oder einen erschreckt. Vashet schlug mich mit der offenen Hand, aber dahinter spürte ich die Kraft ihres Armes. Und hinter ihrem Arm stand ihre Schulter und dahinter der ganze komplexe Zusammenhang ihrer sich drehenden Hüften, ihrer starken, in den Boden gestemmten Beine und des Bodens unter ihren Füßen. Mir war, als stecke hinter dem Schlag ihrer flachen Hand die ganze Schöpfung, und er machte mich nur deshalb nicht zum Krüppel, weil Vashet bei aller Wut nie die Beherrschung über sich verlor.

Weil sie sich beherrschte, renkte sie mir nicht den Kiefer aus und schlug mich auch nicht bewusstlos. Doch mir klapperten die Zähne und dröhnten die Ohren. Mir wurde schwindlig und meine Beine zitterten und wollten mich nicht mehr tragen. Ich wäre gestürzt, hätte Vashet mich nicht an den Schultern festgehalten.

»Glaubst du, ich lehre dich die Geheimnisse des Schwertes, damit du sie in der Welt draußen benützen kannst?«, herrschte sie mich an. Ich nahm wie von ferne wahr, dass sie schrie. Es war das erste Mal, dass ich einen Adem die Stimme erheben hörte. »Glaubst du das?«

Während ich wie betäubt in ihren Händen hing, schlug sie mich erneut. Diesmal traf sie auch meine Nase. Die Schmerzen waren unerwartet stark, als hätte mir jemand einen Eissplitter direkt ins Gehirn gestoßen. Ich schreckte aus meiner Betäubung auf und war bei vollem Bewusstsein, als Vashet mich zum dritten Mal schlug.

Sie hielt mich noch einen Moment lang fest, während sich alles um mich drehte, dann ließ sie mich los. Torkelnd ging ich einen Schritt und sackte dann zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden gekappt hat. Ich war nicht bewusstlos, aber ich fühlte mich wie gelähmt.

Es dauerte lange, bis ich mich ein wenig erholt hatte. Als ich mich endlich aufsetzen konnte, fühlte mein Körper sich ganz lose und sperrig an, als hätte ihn jemand zerlegt und nicht ganz richtig wieder zusammengesetzt.

Als ich endlich wieder so weit zu mir gekommen war, dass ich mich umsehen konnte, war ich allein.

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