Die Geschichten der Steine
Auf der langen Fahrt zurück nach Imre sprachen Denna und ich über alles Mögliche. Sie erzählte mir von den Städten, die sie gesehen hatte: Tinuë, Vartheret, Andenivan. Ich erzählte ihr von Ademre und führte ihr ein wenig Gebärdensprache vor.
Sie zog mich mit meiner zunehmenden Berühmtheit auf, und ich erzählte ihr die Wahrheit hinter all den Geschichten. Ich erzählte ihr auch, wie es mit dem Maer ausgegangen war, und sie zeigte sich angemessen empört.
Doch es gab viel, worüber wir nicht sprachen. Keiner von uns kam darauf zu sprechen, auf welche Weise wir in Severen auseinander gegangen waren. Ich wusste nicht, ob sie nach unserem Streit verärgert abgereist war, oder ob sie der Meinung war, ich hätte sie verlassen. Jede Frage danach erschien mir gefährlich. Ein Gespräch darüber wäre bestenfalls unangenehm verlaufen, und schlimmstenfalls hätte es womöglich unseren damaligen Streit erneut angefacht, und das wollte ich unbedingt vermeiden.
Denna hatte ihre Harfe und eine große Reisetruhe dabei. Ich nahm an, dass ihr Lied mittlerweile fertig war und sie es öffentlich aufführte. Der Gedanke behagte mir gar nicht, dass sie es möglicherweise in Imre vortragen würde, wo zahllose fahrende Sänger es hören und von dort in alle Welt hinaustragen würden.
Dennoch sagte ich nichts dazu. Es war ein schwieriges Thema, für das ich den richtigen Moment abwarten musste.
Ich sprach sie auch nicht auf ihren Schirmherrn an, obwohl mich das, was mir der Cthaeh dazu gesagt hatte, quälte. Ich dachte ständig daran. Es verfolgte mich bis in meine Träume.
Felurian war ein weiteres Thema, das wir aussparten. Trotz all der Scherze, die Denna darüber machte, dass ich Banditen gerettet und Jungfrauen getötet hätte, erwähnte sie Felurian mit keiner Silbe. Das Lied, das ich geschrieben hatte, musste sie gehört haben, denn es war viel populärer als die übrigen Geschichten, die sie alle in- und auswendig zu kennen schien. Doch sie sprach es nicht an, und ich war nicht so dumm, selbst das Gespräch darauf zu bringen.
So blieben auf dieser Fahrt also viele Dinge ungesagt. Während unsere Kutsche die Straße hinabholperte, wuchs die Anspannung zwischen uns. Unsere Unterhaltung stockte immer wieder, das Schweigen hielt zu lange an oder war, obzwar nur kurz, abgrundtief.
Wir steckten gerade mitten in einem solchen langen Schweigen, als wir schließlich in Imre eintrafen. Ich brachte Denna zum KEILER, wo sie sich ein Zimmer nahm. Ich half ihr, das Gepäck hinaufzutragen, doch das Schweigen wurde immer tiefer. Und so verabschiedete ich mich herzlich, aber auch hastig von ihr und eilte von dannen, ohne auch nur ihre Hand geküsst zu haben.
In dieser Nacht fielen mir tausenderlei Dinge ein, die ich ihr hätte sagen können. Ich lag da, starrte an die Zimmerdecke und konnte bis spätnachts nicht einschlafen.
Am nächsten Morgen wachte ich früh auf und war besorgt und beklommen. Ich frühstückte mit Simmon und Fela und ging dann in mein Seminar über Fortgeschrittene Sympathie, wo mich Fenton mühelos dreimal hintereinander im Duell besiegte, was ihm zum ersten Mal seit meiner Rückkehr an die Universität den Sieg eintrug.
Da weiter nichts auf meinem Stundenplan stand, badete ich anschließend und überlegte dann minutenlang, was ich anziehen sollte, bis ich mich schließlich für ein schlichtes Hemd und eine grüne Weste entschied, von der Fela meinte, dass sie meine Augen gut zur Geltung brachte. Ich machte aus meinem Shaed einen kurzen Umhang und entschied mich dann dagegen, ihn überhaupt zu tragen. Ich wollte Dennas Gedanken, wenn ich sie besuchte, nicht durch irgendetwas auf Felurian lenken.
Zu guter Letzt steckte ich mir Dennas Ring in eine Tasche meiner Weste und ging dann auf die andere Seite des Flusses, nach Imre.
Als ich beim KEILER angelangt war, kam Denna, ehe ich auch nur nach der Türklinke gegriffen hatte, aus dem Haus spaziert und drückte mir einen Picknickkorb in die Hand.
Ich war verblüfft. »Woher wusstest du …?«
Sie trug ein hellblaues Kleid, das ihr fabelhaft stand, lächelte liebreizend und hängte sich bei mir ein. »Weibliche Intuition.«
»Ach so«, sagte ich, bemüht, locker zu sein. Ihre Nähe war beinahe schmerzhaft. Die Wärme ihrer Hand auf meinem Arm, ihr Duft nach grünem Laub und der Luft kurz vor einem Sommergewitter. »Weißt du denn auch schon, wohin wir gehen?«
»Ich weiß nur, dass du mich dorthin führen wirst.« Als sie das sagte, wandte sie mir ihr Gesicht zu, und ich spürte ihren Atem seitlich am Hals. »Ich vertraue mich dir gerne an.«
Ich sah sie an und wollte einen der cleveren Sprüche bringen, die ich mir in der Nacht zurechtgelegt hatte. Doch als ich in ihre Augen sah, war ich einfach sprachlos. Ich war vollkommen hin und weg, ich weiß nicht, wie lange. Einen ganzen Moment lang gehörte ich ihr mit Haut und Haar …
Dann lachte Denna und riss mich damit aus dieser Träumerei, die einen Moment oder eine Minute gewährt haben mochte. Wir gingen aus der Stadt hinaus und plauderten dabei so unbeschwert, als wäre zwischen uns nie etwas anderes gewesen als Sonnenschein und Frühlingsluft.
Ich führte sie zu einem Ort, den ich einige Zeit zuvor entdeckt hatte: ein kleines, von Bäumen gesäumtes Tal. Ein Bach schlängelte sich an einem Graustein vorbei, der längs auf dem Boden lag; die Sonne schien auf eine Gänseblümchenwiese ringsumher, und die Blumen reckten ihre Köpfchen dem Licht entgegen.
Denna verschlug es kurz den Atem, als dieses Tal in Sicht kam und sich die Wiese wie ein Teppich vor uns ausbreitete. »Ich wollte diesen Blumen schon lange mal zeigen, wie hübsch du bist«, sagte ich.
Dafür erntete ich eine begeisterte Umarmung und einen Kuss, der mir auf der Wange brannte. Beides war vorüber, ehe ich wusste, wie mir geschah. Verwirrt und lächelnd führte ich sie zwischen den Blumen hindurch zu dem Graustein am Bach.
Ich zog mir Schuhe und Strümpfe aus. Denna schnippte sich ebenfalls die Schuhe von den Füßen und band sich die Röcke hoch, und dann lief sie mitten in den Bach hinein, bis ihr das Wasser übers Knie ging.
»Kennst du das Geheimnis der Steine?«, fragte sie und griff in die Fluten. Dabei wurde der Saum ihres Kleides nass, aber das schien sie nicht zu kümmern.
»Was ist denn das für ein Geheimnis?«
Sie holte einen glatten, dunklen Stein vom Bachbett empor und hielt ihn mir hin. »Komm her und schau’s dir an.«
Ich hatte mir die Hosenbeine hochgekrempelt und ging nun ebenfalls ins Wasser. Sie hielt mir den tropfenden Stein entgegen. »Wenn du ihn in der Hand hältst und genau hinhörst …« Sie tat es und schloss die Augen. So stand sie einen ganzen Moment lang reglos da, das Gesicht aufwärts gewandt, wie eine Blume.
Ich war verlockt, sie zu küssen, hielt mich aber zurück.
Schließlich schlug Denna die dunklen Augen wieder auf und lächelte mich an. »Wenn du ganz genau hinhörst, erzählt dir der Stein eine Geschichte.«
»Und was für eine Geschichte hat er dir gerade erzählt?«, fragte ich.
»Es war einmal ein Junge, der an dieses Gewässer kam«, sagte sie. »Das hier ist die Geschichte des Mädchens, das mit dem Jungen an dieses Gewässer kam. Sie unterhielten sich, und der Junge warf diese Steine, als werfe er sie von sich fort. Das Mädchen hatte keine Steine, und daher gab der Junge ihr ein paar von seinen ab. Dann gab sich das Mädchen dem Jungen hin, und anschließend warf er sie fort, wie einen Stein, ohne zu bedenken, was sie dabei empfinden würde.«
Ich schwieg einen Moment lang, da ich nicht wusste, ob die Geschichte noch weiterging. »Dann ist er also ein trauriger Stein?«, fragte ich schließlich.
Sie küsste den Stein, ließ ihn wieder ins Wasser fallen und sah zu, wie er auf den sandigen Grund sank. »Nein, er ist nicht traurig. Aber er wurde schon einmal fortgeworfen. Er kennt das Gefühl der Bewegung. Im Gegensatz zu den meisten anderen Steinen fällt es ihm schwer, an einem Ort zu verharren. Manchmal nutzt er das Angebot, das ihm das Wasser macht, und bewegt sich ein Stück weit vorwärts.« Sie sah mich an und lächelte ganz unschuldig. »Und wenn er sich bewegt, denkt er dabei an diesen Jungen.«
Ich wusste nicht, was ich von dieser Geschichte halten sollte, und daher versuchte ich, das Thema zu wechseln. »Wie hast du denn gelernt, den Steinen zu lauschen?«
»Du würdest staunen, was einem alles zu Ohren kommt, wenn man sich nur die Zeit nimmt, zuzuhören.« Sie wies auf das mit Steinen übersäte Bachbett. »Versuch’s doch mal. Man weiß nie, was man da zu hören kriegt.«
Ich wusste zwar nicht, was für ein Spielchen sie da spielte, sah mich aber nach einem passenden Stein um, krempelte mir einen Ärmel auf und griff ins Wasser.
»Hör ihm zu«, forderte mich Denna ganz ernsthaft auf.
Dank meines Studiums bei Elodin konnte ich mit großer Langmut auf Lächerlichkeiten eingehen. Ich hielt mir den Stein ans Ohr und schloss die Augen. Ich überlegte, ob ich so tun sollte, als hörte ich eine Geschichte.
Dann lag ich plötzlich im Wasser, bis auf die Haut durchnässt. Ich prustete und kämpfte mich wieder hoch, während Denna so heftig lachte, dass sie sich vorbeugen musste und kaum noch stehen konnte.
Ich ging auf sie zu, aber sie wich vor mir zurück, mit einem kleinen Schrei, der sie noch lauter lachen ließ. Daher blieb ich stehen und wischte mir mit großer Geste Wasser aus dem Gesicht und von den Armen.
»So schnell gibst du auf?«, neckte sie mich.
Ich senkte meine Hand wieder ins Wasser. »Ich will den Stein wiederfinden«, sagte ich und tat, als suchte ich danach.
Denna lachte und schüttelte den Kopf. »So leicht legst du mich nicht rein.«
»Das ist mein Ernst«, sagte ich. »Ich will seine Geschichte zu Ende hören.«
»Was war es denn für eine Geschichte?«, fragte sie spöttisch, kam aber nicht näher.
»Es war eine Geschichte von einem Mädchen, das mit einem mächtigen Arkanisten ein Spielchen zu treiben versuchte«, sagte ich. »Sie machte sich lustig und spottete über ihn. Doch eines Tages traf er sie, da stand sie in einem Bach, und weil er so schön zu reimen begann, witterte sie kein Ungemach. Aber als sie so dumm war, sich sicher zu wähnen, nahm es dann doch noch ein Ende mit Tränen.«
Ich grinste sie an und zog die Hand aus dem Wasser.
Sie sah sich eben in dem Moment um, als die Welle sie erfasste. Sie war nur hüfthoch, aber es genügte, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie versank in einem Strudel aus Röcken, Haaren und Luftblasen.
Die Strömung trug sie zu mir zurück, und ich half ihr lachend auf die Beine.
Als sie wieder hochkam, sah sie aus, als hätte sie drei Tage lang im Wasser gelegen. »Das war nicht nett!«, ereiferte sie sich. »Gar nicht nett!«
»Dafür bist du nun die schönste Nixe weit und breit«, sagte ich.
Sie spritzte Wasser nach mir. »Du kannst mir schmeicheln, so viel du willst, es bleibt dabei: Du hast geschummelt. Ich dagegen hab nur einen ganz regulären Trick angewandt.«
Sie versuchte mich unterzutauchen, daber diesmal ließ ich mich nicht übertölpeln. Wir rangen eine Zeit lang miteinander, bis wir auf sehr angenehme Weise außer Atem waren. Erst da wurde mir klar, wie nah sie mir war. Und wie schön. Und wie wenig unsere nassen Kleider uns zu trennten.
Denna schien das in diesem Moment auch zu bemerken, und wir wichen ein Stückchen auseinander, mit einem Male wieder schüchtern. Da frischte der Wind auf und erinnerte uns daran, wie klatschnass wir waren. Denna lief ans Ufer, entledigte sich ohne zu zögern ihres Kleids und warf es zum Trocknen über den Graustein. Sie trug ein weißes Unterkleid, das ihr auf der Haut klebte. Dann kam sie wieder ins Wasser. Im Vorbeigehen versetzte sie mir einen neckischen Stups und stieg dann auf einen glatten, schwarzen Felsblock, der halb untergetaucht in der Mitte des Baches lag.
Es war der ideale Stein, um sich darauf zu sonnen, glatter Basalt, so dunkel wie ihre Augen. Das Weiß ihrer Haut und des nur wenig verbergenden Unterkleids bildeten einen scharfen Kontrast dazu, es war fast zu hell, um lange hinzusehen. Sie legte sich auf den Rücken und breitete ihr Haar zum Trocknen aus. Die Nässe hinterließ ein Muster auf dem Stein, das den Namen des Windes buchstabierte. Sie schloss die Augen und wandte ihr Gesicht der Sonne zu. Felurian selbst hätte nicht schöner und gelöster aussehen können.
Nun ging ich ebenfalls ans Ufer und zog mir das nasse Hemd und die Weste aus. Meine durchnässte Hose musste ich anbehalten, denn sonst hatte ich nichts mehr anzuziehen. »Was erzählt dir denn dieser Stein?«, fragte ich, um das Schwiegen zu überbrücken, während ich mein Hemd neben ihr Kleid über den Graustein legte.
Sie fuhr mit einer Hand über die glatte Oberfläche des Felsblocks und sagte, ohne die Augen aufzuschlagen: »Er erzählt mir, wie es ist, sein Leben im Wasser zu verbringen, ohne ein Fisch zu sein.« Sie streckte sich wie eine Katze. »Bring den Korb mit, ja?«
Ich nahm den Korb und watete zu ihr hinüber, wobei ich mich ganz vorsichtig bewegte, um keine Wellen zu schlagen. Sie lag vollkommen reglos da, als wäre sie eingeschlafen. Dann sah ich aber, dass sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen. »Du bist ganz still«, sagte sie. »Aber ich kann riechen, dass du da stehst.«
»Es riecht hoffentlich nicht allzu schlimm.«
Sie schüttelte sacht den Kopf, ohne die Augen zu öffnen. »Du riechst nach getrockneten Blumen. Und wie ein exotisches Gewürz, das vor sich hin schwelt, kurz davor, in Flammen aufzugehen.«
»Und vermutlich doch wohl auch nach dem Wasser dieses Bachs.«
Sie streckte sich erneut und lächelte leicht, und ich sah das makellose Weiß ihrer Zähne und das vollkommene Rosarot ihrer Lippen. Dann verlagerte sie ihren Körper auf dem Fels ein wenig, fast als würde sie für mich zur Seite rutschen. Fast. Ich überlegte, mich zu ihr zu gesellen. Der Fels war groß genug für zwei, wenn man bereit war, eng nebeneinander zu liegen …
»Ja«, sagte Denna.
»Ja? Wozu?«, fragte ich.
»Auf deine Frage«, sagte sie und wandte mir das Gesicht zu, die Augen weiterhin geschlossen. »Du willst mir doch gerade eine Frage stellen.« Sie verlagerte ihren Körper erneut ein wenig. »Und die Antwort darauf lautet: Ja.«
Wie sollte ich das auffassen? Was sollte ich sie fragen? Ob ich sie küssen dürfte? Oder mehr? Wieviel mehr wäre zu viel? Stellte sie mich auf die Probe? Ich wusste nur, wenn ich zu viel von ihr verlangte, würde ich sie damit nur vertreiben.
»Ich wollte dich gerade fragen, ob du ein bisschen zur Seite rutschen magst«, sagte ich.
»Ja.« Sie bewegte sich erneut und machte neben sich Platz. Dann schlug sie die Augen auf. Als sie mich ohne Hemd dastehen sah, starrte sie mich an, beruhigte sich aber wieder, nachdem sie mit einem schnellen Blick festgestellt hatte, dass ich nach wie vor meine Hose trug.
Ich lachte zwar, aber ihr schockierter Blick ließ mich doch wieder vorsichtig werden. Ich stellte den Korb dorthin, wo ich mich eigentlich selbst hatte hinlegen wollen. »Was hat Euch denn gerade so erschreckt, Mylady?«
Sie errötete leicht verlegen. »Ach, nichts. Ich hatte nicht gedacht, dass du der Typ Mann bist, der sich komplett entblättert, wenn er einer Dame ihr Mittagessen kredenzt.« Sie zuckte die Achseln, sah zu dem Korb hinüber, dann wieder zu mir. »Aber so gefällst du mir. Nun habe ich einen eigenen Sklaven, der mir mit freiem Oberkörper aufwartet.« Sie schloss die Augen. »Füttere mich mit Erdbeeren.«
Ich gehorchte bereitwillig, und so ging der Nachmittag dahin.
Das Mittagessen lag nun schon eine ganze Weile zurück, und die Sonne hatte uns getrocknet. Zum ersten Mal seit unserem Streit in Severen hatte ich das Gefühl, dass es zwischen uns wieder zum Besten stand. Das Schweigen unterbrach unser Gespräch nicht mehr wie Schlaglöcher eine Straße. Ich hatte gewusst, dass es nur darauf ankommen würde, geduldig abzuwarten, und die Anspannung würde sich wieder lösen.
Und während dieser Nachmittag allmählich vorüberging, wusste ich, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war, um ein Thema anzusprechen, das anzusprechen ich mir sehr lange versagt hatte. Ich sah das stumpfe Grün alter Blutergüsse an ihren Oberarmen und die letzten Überreste von Striemen auf ihrem Rücken. Sie hatte auch eine Narbe am Bein, knapp überm Knie, die noch so frisch war, dass ihr Rot durch das weiße Unterkleid hindurchschimmerte.
Ich brauchte weiter nichts tun als sie danach zu fragen. Wenn ich es vorsichtig formulierte, würde sie gestehen, dass diese Verletzungen von ihrem Schirmherrn stammten. Von da an würde es einfach sein, sie aus der Reserve zu locken. Ihr klar zu machen, dass sie etwas Besseres verdiente. Dass es diese Misshandlungen nicht wert war, was auch immer er ihr bot.
Zudem befand ich mich zum ersten Mal in meinem Leben in einer Position, in der ich ihr einen Ausweg bieten konnte. Dank Alverons Bürgschaft und meinen Erfolgen im Handwerkszentrum war Geldmangel kein Thema mehr für mich. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich wohlhabend. Ich konnte ihr den Ausstieg ebnen …
»Was ist denn mit deinem Rücken passiert?«, fragte Denna leise und unterbrach damit meine Gedanken. Sie lag immer noch auf dem Felsblock, und ich lehnte daran, die Füße im Wasser.
»Was meinst du?«, fragte ich und drehte mich törichterweise einmal halb um meine Achse.
»Dein ganzer Rücken ist voller Narben«, sagte sie. Ich spürte, wie ihre kühle Hand meine sonnengewärmte Haut berührte und an einer Linie entlang fuhr. »Ich hab erst gar nicht gedacht, dass es Narben sind. Sie sind hübsch.« Sie strich an einer anderen Linie auf meinem Rücken entlang. »Es sieht aus, als hätte dich ein Riesenkind mit einem Blatt Papier verwechselt und mit einer Silberfeder Schreibübungen auf deinem Rücken angestellt.«
Sie nahm ihre Hand wieder fort, und ich wandte mich zu ihr um. »Woher hast du die?«, fragte sie.
»Ich hab an der Universität Mist gebaut«, antwortete ich leicht verlegen.
»Sie haben dich auspeitschen lassen?«, fragte sie ungläubig.
»Zweimal.«
»Und dennoch bist du da geblieben?«, fragte sie, als ob sie es immer noch nicht fassen könnte. »Nachdem sie dir das angetan haben?«
Ich tat es mit einem Achselzucken ab. »Es gibt Schlimmeres, als ausgepeitscht zu werden«, sagte ich. »Und was einem dort beigebracht wird, kann ich sonst nirgendwo lernen. Wenn ich etwas wirklich will, braucht es schon mehr als ein bisschen Blut, um mich …«
Erst da wurde mir klar, was ich da gerade sagte. Die Meister hatten mich auspeitschen lassen. Denna wurde von ihrem Schirmherrn geschlagen. Und dennoch nahmen wir beide nicht Reißaus. Wie sollte ich sie davon überzeugen, dass meine Situation anders war als die ihre? Wie sollte ich sie überzeugen, dass sie ihren Schirmherrn verlassen sollte?
Denna sah mich neugierig an, den Kopf zur Seite geneigt. »Ja? Was ist, wenn du etwas wirklich willst?«
Ich zuckte die Achseln. »Ich wollte damit nur sagen, dass ich mich nicht so leicht vertreiben lasse.«
»Von deiner Hartnäckigkeit habe ich schon gehört«, sagte Denna und bedachte mich mit einem wissenden Blick. »In Imre erzählen sich die Frauen, dass du nichts anbrennen lässt.« Sie setzte sich auf und begann zum Rand des Felsblocks zu rutschen. Dabei verdrehte sich ihr weißes Unterkleid und glitt ihr langsam die Beine hinauf.
Ich wollte eben etwas zu ihrer Narbe sagen und hoffte immer noch, das Gespräch auf ihren Schirmherrn bringen zu können, als ich bemerkte, dass Denna innegehalten hatte und mich beobachtete, wie ich ihre nackten Beine anstarrte.
»Ja, was erzählen sie denn genau?«, fragte ich, eher, um irgend etwas zu sagen, als aus tatsächlicher Neugier.
Sie zuckte die Achseln. »Manche meinen, dass du es darauf angelegt hast, die Jungfrauenschaft von Imre zu dezimieren.« Sie rutschte weiter auf den Rand des Felsblocks zu, und ihr Unterkleid glitt weiter hinauf.
»Dezimieren würde ja bedeuten: Jedes zehnte Mädchen«, sagte ich und versuchte es damit ins Scherzhafte zu drehen. »Das wäre ein allzu hoch gestecktes Ziel, selbst für mich.«
»Wie überaus beruhigend«, erwiderte sie. »Bringst du all diesen Frauen …« Sie schnappte kurz nach Luft, als sie an der Seite des Felsblocks hinabglitt. Sie fing sich eben wieder, als ich die Hände ausstreckte, um ihr zu helfen.
»Was bringe ich ihnen?«, fragte ich.
»Rosen, du Dussel«, erwiderte sie scharf. »Oder hast du diese Seite schon umgeblättert?«
»Soll ich dich tragen?«, fragte ich.
»Ja«, sagte sie. Doch bevor ich nach ihr greifen konnte, war sie schon den Rest des Wegs ins Wasser gerutscht, was ihr Unterkleid ganz kurz in skandalöse Höhen hob. Das Wasser ging ihr nun bis zu den Knien und benetzte nur den Saum ihres Kleids.
Wir gingen zurück zu dem Graustein und schlüpften schweigend in unsere mittlerweile getrockneten Kleidungsstücke. Denna ärgerte sich über den nassen Saum.
»Ich hätte dich tragen können, weißt du«, sagte ich leise.
Denna hielt sich eine Hand an die Stirn. »Schon wieder sieben Worte. Ich werde noch ohnmächtig.« Sie fächelte sich mit der anderen Hand Luft ins Gesicht. »Was soll ich bloß tun?«
»Mich lieben.« Ich hatte das in meinem leichtfertigsten Tonfall sagen wollen. Neckisch. Scherzhaft. Doch ich beging den Fehler, ihr, als ich das sagte, in die Augen zu sehen. Ihre Augen aber verwirrten mich völlig, und als mir die Worte über die Lippen kamen, klangen sie ganz anders als beabsichtigt.
Eine flüchtige Sekunde lang erwiderte sie mit großer Zärtlichkeit meinem Blick. Dann begann ein wehmütiges Lächeln um ihre Mundwinkel zu spielen. »Oh nein«, sagte sie. »Darauf falle ich nicht rein. Ich will nicht eine von vielen sein.«
Ich biss die Zähne zusammen, war zwischen Verwirrung, Verlegenheit und Furcht hin- und hergerissen. Ich war zu dreist gewesen und hatte alles verdorben, genau wie ich es immer befürchtet hatte. Ab wann war mir dieses Gespräch eigentlich so vollkommen entglitten?
»Wie bitte?«, fragte ich töricht.
»Du hast mich schon verstanden.« Denna richtete ihre Kleider, wobei sie sich mit einer Steifheit bewegte, die ich gar nicht an ihr kannte. Sie fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und flocht es zu einem dicken Zopf. Während ihre Finger die einzelnen Strähnen zusammenflochten, konnte ich dort einen Moment lang ganz deutlich lesen: »Sprich mich nicht an.«
Ich mag ja manchmal etwas schwer von Begriff sein, aber eine so deutliche Botschaft verstehe selbst ich. Ich machte den Mund zu und verkniff mir meine nächste Bemerkung.
Als Denna sah, dass ich ihre Hand betrachtete, nahm sie die Hände verlegen weg, ohne ihren Zopf zuzubinden. Ihr Haar befreite sich schnell von selbst und fiel ihr auf die Schultern hinab. Sie sah auf ihre Hände und drehte nervös an einem Ring herum.
»Moment mal«, sagte ich. »Das hätte ich fast vergessen.« Ich griff in eine Innentasche meiner Weste. »Ich habe ein Geschenk für dich.«
Sie kniff den Mund zusammen und sah zu meiner ausgestreckten Hand hinüber. »Auch du, Kvothe?«, sagte sie. »Ich dachte wirklich, du wärest anders als die anderen.«
»Das bin ich hoffentlich auch«, sagte ich und öffnete meine Hand. Ich hatte den hellblauen Stein auf Hochglanz poliert, und der Sonnenschein fing sich in seinem Schliff.
»Oh!« Denna hielt sich die Hände vor den Mund, und mit einem Mal schwammen ihre Augen in Tränen. »Ist er das wirklich?« Sie streckte beide Hände aus, um den Ring entgegen zu nehmen.
»Ja, das ist er«, sagte ich.
Sie drehte ihn hin und her, zog einen anderen Ring ab und steckte sich diesen an den Finger. »Er ist es«, sagte sie, immer noch vollkommen verblüfft, und nun liefen ihr Tränen die Wangen hinab.
»Woher …?«
»Ich habe ihn von Ambrose«, sagte ich.
»Oh.« Sie trat von einem Fuß auf den anderen, und wieder stand dieses Schweigen zwischen uns.
»Es war nicht allzu schwierig«, sagte ich. »Es tut mir bloß leid, dass es so lange gedauert hat.«
»Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll«, sagte Denna und umschloss mit ihren Händen meine Hand.
Man sollte ja meinen, dass das geholfen hätte. Dass diese Gabe und dieser Händedruck zwischen uns alles wieder ins Lot gebracht hätte. Doch das Schweigen zwischen uns war wieder da, tiefer als je zuvor. Dieses Schweigen war so dick, dass man es sich aufs Brot hätte schmieren können. Manchmal lässt sich so ein Schweigen nicht einmal mit Worten vertreiben. Und Denna berührte zwar meine Hand, hielt sie aber nicht. Das ist ein himmelweiter Unterschied.
Denna hob den Blick. »Das Wetter schlägt um«, sagte sie. »Wir sollten aufbrechen, bevor es zu regnen anfängt.«
Ich nickte. Während wir fortgingen, glitten schon Wolkenschatten über die Wiese hinter uns.