Zaubern einer anderen Art

Zu dieser Zeit meines Lebens hatte ich mir bereits einen gewissen Ruf erworben.

Nein, das stimmt eigentlich nicht. Ich sage lieber, ich hatte mir einen Ruf aufgebaut. Ich hatte zielstrebig darauf hingearbeitet und ihn stetig vermehrt.

Drei Viertel der Geschichten, die man sich an der Universität über mich erzählte, basierten auf albernen Gerüchten, die ich selbst in die Welt gesetzt hatte. Dass ich etwa acht Sprachen beherrschte oder im Dunkeln sehen könnte. Dass meine Mutter mich im Alter von drei Tagen bei Vollmond in einem Korb an einen Vogelbeerbaum gehängt und eine Fee einen mächtigen Zauber über mich gesprochen hätte, der mich immer beschützen würde. Und das hätte meine Augenfarbe von Blau zu Laubgrün verändert.

Ich weiß um die Wirkung von Geschichten. Niemand glaubte, dass ich bei einem Dämon eine Handvoll meines Blutes für einen Alar wie aus Stahl eingetauscht hatte. Trotzdem war ich der beste Duellant in Dals Seminar. An einem guten Tag konnte ich leicht zwei meiner Mitstudenten schlagen.

Dieser wahre Kern machte die Geschichten so wirkungsvoll. Auch wenn man sie selbst nicht glaubte, erzählte man sie vielleicht einem Studenten im ersten Trimester, nur um sich an seinem staunenden Gesicht zu weiden. Und wenn man ein Glas oder auch mehrere geleert hatte, geriet man womöglich selbst ins Grübeln …

Und so breiteten sich Gerüchte über mich aus und mein bescheidener Ruf wuchs, wenigstens im Umkreis der Universität.

Einige Gerüchte entsprachen auch der Wahrheit, und einen gewissen Anteil an meinem Ruf hatte ich mir redlich verdient. So hatte ich Fela aus einer Flammenhölle gerettet und war vor einer Zuschauermenge ausgepeitscht worden, ohne zu bluten. Ich hatte den Wind gerufen und Ambrose den Arm gebrochen …

Doch wusste ich, dass mein Ruf einem aus Spinnenfäden gewebten Mantel glich und größtenteils auf unsinnigen Märchen beruhte. Es gab weder Dämonen, die mit Blut handelten, noch gute Feen, die einen mit ihrer Zauberkraft beschützten. Und auch wenn ich manchmal so tat, wusste ich doch, dass ich nicht Taborlin der Große war.

Unter solchen Gedanken erwachte ich in Felurians Armen. Ich blieb noch eine Weile still liegen. Ihr Kopf ruhte leicht auf meiner Brust, eins ihrer Beine lag locker über meinen Beinen. Ich blickte zwischen den Bäumen hindurch zum dämmrigen Himmel empor. Die Sterne kannte ich nicht. Sie leuchteten heller als die am Himmel der Sterblichen und bildeten fremde Sternbilder.

Erst jetzt wurde mir klar, dass mein Leben eine neue Wendung genommen hatte. Bis dahin hatte ich so getan, als sei ich ein junger Taborlin. Ich hatte mich in ein Gespinst von Lügen gehüllt und mich als märchenhafter Held ausgegeben.

Jetzt hatte die Wirklichkeit mich eingeholt. Ich hatte etwas getan, das selbst zu einer Geschichte taugte und in jeder Beziehung so denkwürdig und wunderbar war wie das, was man sich über Taborlin erzählte. Ich war Felurian ins Reich der Fae gefolgt und hatte sie durch einen Zauber bezwungen, für den ich keine Erklärung hatte und den ich erst recht nicht steuern konnte.

Ich fühlte mich anders, irgendwie gefestigter. Nicht unbedingt älter oder weiser, aber ich wusste nun Dinge, die ich zuvor nicht gewusst hatte. Dass es zum Beispiel die Fae wirklich gab und dass sie zaubern konnten. Dass sich Felurian Männer mit einem Kuss unterwarf, dass sie mich mit ihrer Stimme kommandierte wie eine Marionette. Es gab hier viel für mich zu lernen. Seltsame, geheime Dinge von großer Wirkung, Dinge, die ich vielleicht nur hier lernen konnte.

Behutsam befreite ich mich aus der Umarmung der Schlafenden und ging zu dem nahen Teich. Ich spritzte mir ein wenig Wasser ins Gesicht und schöpfte ein paar Handvoll zum Trinken.

Dann betrachtete ich die Pflanzen, die am Ufer wuchsen, pflückte einige Blätter, kaute sie und überlegte, wie ich Felurian auf das Thema lenken sollte, das mich als Nächstes interessierte. Die Minze reinigte und erfrischte meinen Atem.

Bei meiner Rückkehr zur Laube war Felurian aufgestanden und fuhr sich mit ihren weißen Fingern durch das schwarze Haar.

Ich brachte ihr ein Veilchen dar, das so dunkel war wie ihre Augen. Sie lächelte und aß es.

Ich beschloss, mich dem Thema vorsichtig zu nähern, um sie nicht unabsichtlich zu kränken. »Ich habe überlegt, ob du vielleicht bereit wärst, mich zu unterrichten.«

Sie strich mir zärtlich über die Wange. »aber habe ich nicht bereits damit begonnen, du süßer narr?«

Mir wurde ganz heiß vor Aufregung. Ich hatte nicht erwartet, dass es so einfach sein würde. »Und bin ich für die nächste Unterrichtsstunde bereit?«, fragte ich.

Ihr Lächeln wurde breiter, und sie betrachtete mich eingehend mit unergründlichem Blick unter gesenkten Lidern. »fühlst du dich denn bereit?«

Ich nickte.

»dein eifer ist lobenswert.« Ihre schwebende Stimme klang belustigt. »du bist zwar begabt und hast eine rasche auffassung, aber du musst trotzdem noch viel lernen.« Sie sah mir in die Augen, und ihr zartes Gesicht wurde ernst. »du darfst mir keine schande machen, wenn du zu den sterblichen zurückkehrst.«

Sie nahm meine Hand, zog mich in die Laube und zeigte auf die Kissen. »setz dich.«

Gehorsam setzte ich mich. Mein Kopf befand sich auf der Höhe ihres flachen Bauchs, und ich konnte den Blick kaum von ihrem betörenden Nabel abwenden.

Stolz und majestätisch wie eine Königin blickte sie auf mich herab. »amouen«, sagte sie und spreizte die Finger einer Hand. »so nennen wir den ›schweigenden hirsch‹. eine einfache lektion für den anfang, die dir bestimmt gefallen wird.«

Sie lächelte mich mit alten, wissenden Augen an. Und noch bevor sie mich wieder in die Kissen drückte und in meinen Hals biss, wusste ich, dass sie mich nicht im Zaubern zu unterrichten gedachte. Oder wenn doch, dann in einem Zaubern ganz anderer Art.

Ich hatte mir zwar eine Unterweisung anderer Art erhofft, doch muss ich gestehen, dass ich nicht übermäßig enttäuscht war. Von Felurian in die Künste der Liebe eingeführt zu werden überstieg den an der Universität gebotenen Lehrstoff bei weitem.

Ich meine damit nicht den schweißtreibenden Ringkampf, mit dem die meisten Männer – und leider auch die meisten Frauen – die Liebe verwechseln. Er hat natürlich auch seine Reize, aber Felurian machte mich auf verstecktere Qualitäten der Liebe aufmerksam. Wenn ich in die Welt der Menschen zurückkehre, sagte sie, dürfe ich ihr nicht als unfähiger Liebhaber Schande machen. Entsprechend umfassend war ihr Unterricht.

Einiges benannte sie mit Namen: so die Handgelenkfessel, den Ohrenseufzer, den Nackenbiss, das Lippenziehen, den Kuss der Kehle, des Bauchnabels und der – wie Felurian es ausdrückte – Blume der Frau, den Hauchkuss, den Federkuss und den steigenden Kuss. So viele verschiedene Arten des Küssens. Fast zu viele, um sie alle zu behalten. Aber nur fast.

Ich lernte das Wasserholen vom Brunnen, die Flatterhand, das Morgendliche Vogelgezwitscher, das Umkreisen des Mondes, das Efeuspiel und die Hasenjagd. Allein die Namen würden ein Buch füllen, doch ist hier, denke ich, nicht der richtige Ort dafür. Schade drum.

Ich will nicht den Eindruck erwecken, wir hätten die ganze Zeit nur mit unbeschwertem Liebesspiel verbracht. Natürlich war ich jung und Felurian unsterblich, aber auch wir hatten unsere körperlichen Grenzen. Die restliche Zeit amüsierten wir uns auf andere Art. Wir schwammen und aßen, ich spielte Felurian Lieder vor, und sie tanzte für mich.

Ich fragte Felurian verschiedentlich nach ihren Zauberkünsten, aber vorsichtig, denn ich wollte sie nicht dadurch kränken, dass ich in ihren Geheimnissen herumschnüffelte. Leider waren ihre Antworten nicht besonders aufschlussreich. Zauberei war für sie etwas so Natürliches wie das Atmen. Genauso gut hätte ich einen Bauern fragen können, wie Samen keimen. Ihre Antworten waren entweder hoffnungslos nichtssagend oder vollkommen unverständlich.

Trotzdem fragte ich weiter und sie antwortete, so gut sie es eben vermochte. Und gelegentlich meinte ich sogar etwas zu verstehen.

Doch die meiste Zeit erzählten wir uns Geschichten. Wir hatten so wenig miteinander gemeinsam, dass wir uns eigentlich nur über Geschichten austauschen konnten.

Man könnte meinen, ich sei Felurian in dieser Beziehung nicht ebenbürtig gewesen. Sie war älter als der Himmel, ich noch nicht einmal siebzehn.

Doch Felurian war, was Geschichten anging, nicht die Quelle, für die man sie hätte halten können. Mächtig und schlau? Gewiss. Tatkräftig und schön? Ohne Einschränkung. Bloß das Geschichtenerzählen gehörte nicht zu ihren vielen Talenten.

Ich andererseits war ein Edema Ruh, und die Edema Ruh kennen alle Geschichten der Welt.

Ich erzählte Felurian also die Geschichte vom Geist und der kleinen Gänsehirtin und die von Tam und dem Spaten des Kesslers, außerdem Geschichten von Holzfällern, Witwentöchtern und schlauen Waisenjungen.

Im Gegenzug erzählte Felurian mir Geschichten von allerlei komischen Gestalten, darunter »Die Hand am Herzen der Perle« und »Der Junge, der dazwischen kam«. Die Fae haben ihre eigenen Sagengestalten wie Mavin den Menschengestaltigen oder Alavin Allgesicht. Zu meiner Überraschung hatte Felurian noch nie von Taborlin dem Großen oder Oren Velciter gehört. Wer Illien war, wusste sie dagegen. Ich war sehr stolz darauf, dass ein Edema Ruh in die Geschichten eingegangen war, welche die Fae einander erzählen.

Natürlich zog ich auch in Erwägung, dass Felurian mir womöglich Auskunft über die Amyr oder die Chandrian geben konnte. Und wie viel angenehmer wäre es gewesen, von ihr die Wahrheit zu erfahren, als mich endlos durch alte Bücher in staubigen Bibliotheken quälen zu müssen!

Leider erwies sich Felurian nicht als die erhoffte Informationsquelle. Sie kannte zwar Geschichten über die Amyr, doch waren sie schon tausende Jahre alt.

Als ich sie nach den Amyr der jüngeren Zeit fragte, nach Kirchenrittern und den Ciridae mit ihren blutigen Tätowierungen, lachte sie nur. »menschliche amyr gab es nie«, sagte sie sofort. »die amyr, von denen du sprichst, hören sich an wie kinder in den kleidern ihrer eltern.«

Bei anderen hätte ich mit einer solchen Antwort gerechnet, von Felurian war sie besonders entmutigend. Immerhin war es interessant zu wissen, dass ich mit meiner Vermutung recht hatte, es müsste die Amyr schon lange gegeben haben, bevor sie Ritter der Tehlanerkirche wurden.

Da ich mit den Amyr nicht weiterkam, lenkte ich das Gespräch auf die Chandrian.

»nein«, sagte Felurian nur und sah mich entschieden an. »über die sieben spreche ich nicht.« Sie klang auf einmal überhaupt nicht mehr verspielt, sondern vollkommen ernst. Jede weitere Diskussion war zwecklos.

Zum ersten Mal seit unserer Auseinandersetzung ganz am Anfang lief mir wieder ein kalter Angstschauer über den Rücken. Felurian sah so zart und anmutig aus, dass man zu leicht vergaß, wer sie in Wirklichkeit war.

Trotzdem wollte ich das Thema nicht so leicht aufgeben. Schließlich bot sich mir hier eine buchstäblich einmalige Gelegenheit. Wenn ich Felurian überreden konnte, mir wenigstens einen Teil von dem zu erzählen, was sie wusste, würde ich womöglich Dinge erfahren, von denen niemand sonst auf der Welt Kenntnis hatte.

Ich schenkte ihr mein charmantestes Lächeln und wollte gerade etwas sagen, da beugte Felurian sich vor und küsste mich mitten auf den Mund. Ihr Lippen waren weich und warm, und ich spürte ihre Zunge an meiner. Spielerisch biss sie in meine Unterlippe.

Als sie sich wieder von mir löste, bekam ich keine Luft mehr, und mein Herz raste. Sie sah mich mit zärtlichen Augen an, legte die Hand an meine Wange und strich so behutsam darüber wie über eine Blume.

»mein süßer geliebter«, sagte sie, »wenn du an diesem ort noch einmal nach den chandrian fragst, jage ich dich weg, egal ob du entschieden oder vorsichtig fragst, offen oder versteckt. wenn du es tust, verjage ich dich mit einer peitsche aus brombeerranken und schlangen. blutend und weinend treibe ich dich vor mir her, bis du tot umfällst oder aus dem reich der fae geflohen bist.«

Beim Sprechen hielt sie den Blick unverwandt auf mich gerichtet. Aus ihren Augen strahlte keine Bewunderung mehr, obwohl auch ich sie ständig angesehen und keine Veränderung bemerkt hatte. Sie waren schwarz wie Gewitterwolken geworden und so hart wie Eis.

»ich scherze nicht«, fügte sie hinzu. »ich schwöre es bei meiner blume und dem ewig seine bahnen ziehenden mond. ich schwöre es bei salz, stein und himmel. ich schwöre es singend und lachend und beim klang meines namens.« Sie drückte wieder zärtlich die Lippen auf meine und küsste mich.

Damit war dieses Thema beendet. Ich mochte ein Narr sein, aber ein so großer doch auch wieder nicht.

Dagegen war Felurian mehr als bereit, über das Reich der Fae zu sprechen. Viele Geschichten handelten in aller Ausführlichkeit vom Zank der einzelnen Höfe der Fae untereinander. Sie trugen die Namen Tain Mael, Daendan und Ginster. Ich konnte diesen Geschichten nur schwer folgen, da ich die beteiligten Parteien nicht kannte, ganz zu schweigen von dem Geflecht von Bündnissen, falschen Freundschaften, offenen Geheimnissen und alten Zwisten, das die Gesellschaft der Fae zusammenhielt.

Erschwerend kam hinzu, dass Felurian gewisse Dinge als bekannt voraussetzte. Wenn ich euch eine Geschichte erzählen würde, würde ich auch nicht eigens erwähnen, dass die meisten Geldverleiher Kealden sind oder dass das älteste Königshaus das von Modeg ist. Schließlich weiß das jeder.

Ähnlich verfuhr Felurian in ihren Geschichten. Dass der Hof von Ginster sich in die Berentaltha zwischen den Mael und dem Haus Fine eingemischt hatte, war allgemein bekannt.

Und warum war das so wichtig? Weil deshalb natürlich die Mitglieder des Hofes von Ginster von den anderen verachtet wurden. Und was war eine Berentaltha? Eine Art Tanz. Und was war an diesem Tanz so wichtig?

Wenn ich ein paar solcher Fragen gestellt hatte, kniff Felurian ungeduldig die Augen zusammen. Ich lernte schnell, dass es besser war, ihr stumm und verwirrt zuzuhören, als bei jeder Unklarheit zu fragen und dadurch ihren Zorn zu riskieren.

Immerhin erfuhr ich aus ihren Erzählungen eine ganze Menge, nämlich tausend kleine, zusammenhanglose Einzelheiten über die Fae, wie die Namen verschiedener Fürstenhöfe, alter Schlachten und wichtiger Persönlichkeiten. Ich erfuhr, dass man einen Angehörigen der Thiana nie mit beiden Augen gleichzeitig ansehen darf und dass es als schwere Beleidigung gilt, wenn man einem von den Beladari eine Cinnasfrucht schenkt.

Man könnte meinen, die vielen Einzelheiten hätten mir zu einem genaueren Bild der Fae verholfen und ich hätte sie nur wie die Teile eines Puzzles zusammenzufügen brauchen. Tausend Einzelheiten sind schließlich allerhand …

Doch nein. Am Himmel stehen noch viel mehr Sterne, die zusammen auch keine Karte und kein Bild ergeben. Nachdem ich Felurians Geschichten angehört hatte, wusste ich nur, dass ich mich nicht einmal in einer den Menschen wohlgesinnten Gegend des Reiches der Fae aufhalten wollte. Bei meinem Pech marschierte ich womöglich pfeifend unter einer Weide hindurch und beging dadurch unwissentlich eine Art Gotteslästerung.

Vor allem eins entnahm ich den Geschichten: die Fae sind anders als wir. Man vergisst das so leicht, weil die meisten so aussehen wie wir. Sie sprechen unsere Sprache, haben zwei Augen, Hände und einen Mund zum Lachen. Doch das sind nur Äußerlichkeiten. Unter der Oberfläche sind wir verschieden.

Ich kenne auch die Auffassung, Menschen und Fae unterschieden sich in etwa so wie Hunde und Wölfe. Ein solcher Vergleich liegt nahe, ist aber falsch. Wölfe und Hunde sind eng verwandt. Beide heulen nachts und beißen, wenn man sie schlägt.

Aber wir Menschen und die Fae sind so verschieden wie Wasser und Alkohol. In Gläser gefüllt sieht beides gleich aus: durchsichtig und flüssig. Doch Alkohol brennt, Wasser nicht, unabhängig von der Temperatur. Beide Substanzen verhalten sich unterschiedlich, weil sie grundsätzlich voneinander verschieden sind.

Dasselbe gilt auch für die Menschen und die Fae. Wir vergessen es auf eigene Gefahr.

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