Zwölf

1901


Matthew fühlt sich immer wieder zu der Frau hingezogen. Er versorgt das Leuchtfeuer, stellt das Signal ein, betätigt die Kurbel für die Gewichte, horcht auf das vertraute Rasseln des Mechanismus, der das Prisma in Bewegung setzt, das das Leuchtfeuer übers Meer schickt. Im Telegrafenraum schreibt er bei Lampenlicht in sein Tagebuch und füllt die Vordrucke für die Regierung und die Schifffahrtsgesellschaften aus. Doch zwischen diesen Aufgaben kehrt er zum Bett zurück und schaut auf sie hinunter, und in ihm regt sich Traurigkeit. Nein, sie ist nicht Clara, aber sie ist ihr so ähnlich. Das blonde Haar, der weich geschwungene Mund. Mehr noch. Die Wildheit in ihren Augen, das Gefühl, dass sie ein gefangener Vogel ist, mit dem man freundlich und sanft umgehen und den man letztlich – unweigerlich – freilassen muss.

Ein gefangener, sehr hübscher Vogel.

Vielleicht ist er ein Narr. Zwanzig Jahre Alleinsein können einen Mann brechen, auch wenn die Isolation nicht aufgezwungen, sondern selbst gewählt ist. Er weiß nichts über diese Frau. Woher ist sie gekommen, barfuß und blutend? Wie weit ist sie gereist? Kommt sie aus einer der Goldgräberstädte im Landesinneren? Warum hat sie nicht einfach den Zug nach Brisbane genommen? Warum ist sie hier, und was hat sie durchgemacht?

Auch die lange Kiste – auf die sie wie eine Wildkatze zugesprungen ist, als müsse sie ihre Jungen verteidigen – macht ihn neugierig.

Matthew stellt einen Hocker neben das Bett und betrachtet sie im flackernden Lampenschein. Sie sieht friedlich aus, ihre Brust hebt und senkt sich sanft. Morgen muss er sie aus dem Leuchtturm locken, bevor jemand merkt, dass sie hier ist. Er steht auf, geht ans Fenster und schaut aufs Meer hinaus. Das Licht bricht sich im großen Prisma und funkelt auf den Wellen, streicht von Norden nach Süden und wird wieder dunkel. Heute Abend ist das Meer still. Keine Schiffe, keine Stürme, kein starker Wind. Hell, dunkel, hell, dunkel, das vertraute Muster, das er in all den Jahren in Lighthouse Bay so tröstlich gefunden hat. Doch während das Leuchtfeuer noch immer seinem Rhythmus folgt, spürt er, dass sein eigener unterbrochen wurde. Er ersehnt und fürchtet die vertraute Einsamkeit.


Isabella erwacht noch vor der Dämmerung. Der Raum ist von aromatischem Pfeifenrauch erfüllt. Matthew steht an dem schmalen Fenster. Er pafft an seiner Pfeife, die flüchtig sein Gesicht erhellt. Sie blinzelt rasch, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Sein Gesicht sieht irgendwie friedlich aus. Matthew will ihr nichts Böses. Er ist ihr Leuchtfeuer in der Dunkelheit.

»Es tut mir leid. Sie hatten gar keinen Platz zum Schlafen.«

Er dreht sich um. »Ich schlafe nicht nachts, sondern nachmittags. Nachts habe ich sehr viel zu tun.«

Die Schrecken der letzten Tage drängen in ihr Bewusstsein, doch der tiefe Schlaf in einem warmen Bett hat der Grausamkeit die Schärfe genommen. Die Zukunft ist noch nicht da, die Vergangenheit liegt hinter ihr. In diesem Augenblick ist sie sicher.

Er nimmt die Pfeife aus dem Mund und klopft die Asche in einer Untertasse aus Ton aus, die auf dem Tisch steht. »Schlafen Sie noch ein bisschen, Mary.«

»Ich heiße nicht Mary«, sagt sie spontan. Sie kann es nicht ertragen, Matthew zu hintergehen. »Ich heiße Isabella.«

»Verstehe.«

»Bitte verlangen Sie nicht, dass ich mehr sage.«

Er presst die Lippen aufeinander, so dass sein Gesicht im Dunkeln grimmig wirkt. Dann sagt er sanft: »Das werde ich auch nicht. Ich frage nicht nach Ihrer Vergangenheit. Um Ihnen zu helfen, muss ich aber wissen, was Sie als Nächstes vorhaben.«

Was hat sie als Nächstes vor? Noch vor einer Woche war sie sich so sicher: Sie wollte ihrem Mann entkommen, ihren Schmuck verkaufen und ihre Schwester in New York besuchen. Ihrem Ehemann ist sie entkommen. In England wartet ein Haus auf sie, Reichtum, ein angenehmes Leben, doch all das hat einen hohen Preis: die Bindung an seine Familie. Die alte Mrs. Winterbourne würde ständig um sie sein und versuchen, Isabella das Leben zur Hölle zu machen. Und Percy … ist zu allem fähig. Sie muss sich nur daran erinnern, wie er sie behandelt hat, als sein Bruder noch am Leben war.

»Ich bin auf der Flucht«, sagt sie. »Ich will nach Amerika, zu meiner Schwester.« Als sie es ausspricht, spürt sie eine neue Entschlossenheit. »Ich bin einer lieblosen Ehe entflohen. Ich habe mein Kind verloren, und mein Mann wollte mich für meine Trauer bestrafen. Ich fahre nach New York, wo ich ein bisschen Trost finden und meiner Schwester Victoria beistehen kann, die selbst ein Kind erwartet. Und ich werde frei sein, um …« Isabella merkt, dass sie sich aufgesetzt und die Hände vor sich auf der Decke zu Fäusten geballt hat. Ihre Stimme wird schrill. »Ich will frei sein, um zu empfinden, was immer in meinem Herzen ist«, flüstert sie.

Sie schaut zu Matthew auf. Die Dunkelheit im Raum löst sich allmählich auf. Sie sieht die Sanftheit in seinen Augen. Er tritt ans Bett und kniet sich hin. Er ergreift ihre Hand, nimmt ihre Finger in seine, seine andere Hand umschließt ihr Gelenk. »Isabella, das tut mir furchtbar leid. Wie hieß Ihr Kind?«

»Daniel. Sein Name war Daniel.«

»Es tut mir so leid, dass Sie Daniel verloren haben. Das ist ein großer Verlust für jeden Menschen, vor allem aber für eine Mutter. Ihr Herz muss schwerer sein als der Ozean.«

Der Kummer drängt wie eine Faust in Isabellas Kehle. Niemand hat das je zu ihr gesagt. Man hat ihr erzählt, Daniel lächle vom Himmel auf sie herab; sie werde noch ein Kind bekommen, um ihn zu ersetzen; wenn sie sich sehr anstrenge, werde die Sonne wieder scheinen; sie werde ihre Freunde verlieren und ihre Familie verärgern, wenn sie die Traurigkeit nicht überwinde. Doch in den ganzen drei Jahren hat niemand einfach nur gesagt: Es tut mir so leid, dass du Daniel verloren hast. Meist wollten die anderen nicht einmal seinen Namen aussprechen. Als würde es die Sache verschlimmern, wenn man den Namen eines toten Kindes ausspricht. Fünfzehn Tage sind kaum ein Leben. Besser, ihn zu verlieren, bevor er ein richtiger Mensch mit einem Namen und einer Persönlichkeit wurde. Sie weiß, dass die anderen so denken. Sie weiß, dass sie glauben, sie sei maßlos in ihrer Trauer und weigere sich, nach vorn zu blicken.

Matthew denkt das nicht.

Er steht auf und tritt beiseite, und sie spürt den warmen Druck, den er auf ihrer Haut hinterlassen hat. Er steht wieder am Fenster und schaut aufs Meer hinaus. Die Wellen rollen heran, doch heute ist das Geräusch der Brandung beruhigend. In der Ferne herrscht Chaos, aber sie ist sicher und geborgen. Zum ersten Mal seit dem Schiffbruch begreift sie, dass sie wieder festen Boden unter den Füßen hat.

»Ich muss baden, Matthew«, sagt sie.

Er nickt. »Natürlich.« Er zeigt ihr, wo das Bad ist, und holt ihr ein blassgelbes Kleid und braune Schuhe. Sie sieht sofort, dass die Schuhe zu klein sind. Als sie sauber und angezogen ist, kann sie ihn nirgendwo finden. Vorsichtig schaut sie sich im Cottage um. Es gibt den Wohnraum, das winzige Schlafzimmer und ein weiteres Zimmer voller Drähte, Metallgegenstände, Spulen und anderer Geräte, die sie nicht kennt.

»Der Leuchtturm ist gleichzeitig die Telegrafenstation«, sagt er, worauf sie zusammenzuckt.

»Ich wusste nicht, dass Sie hier sind.«

»Ich war oben und habe das Leuchtfeuer gelöscht. Meine Schicht ist beendet.«

»Bedienen Sie den Telegrafen? Oder arbeitet noch jemand hier?«

»Nein, nur ich. Lighthouse Bay besitzt kein eigenes Postamt. Ich empfange und sende Telegramme für die ganze Stadt.«

»Lighthouse Bay? So heißt das hier?«

»Ja.«

»Bin ich in der Nähe von Sydney?«

Er schüttelt den Kopf. »Nein, aber ein Stück weiter südlich gibt es einen Hafen, von dem aus Sie dorthin gelangen können. Wenn Sie nach New York wollen, müssen Sie zuerst nach Sydney«, erklärt er.

»Ich brauche Geld, um nach Amerika zu fahren«, antwortet sie und denkt an ihren Schmuck, der auf dem Meeresgrund liegt. »Ich habe nichts Wertvolles, das ich verkaufen könnte.« Wenn sie versuchen würde, den Amtsstab zu veräußern, würde sie die Winterbournes sofort auf ihre Spur locken.

»Mrs. Fullbright wollte kürzlich ein Kindermädchen für ihren kleinen Sohn Xavier einstellen. Vor einer Woche hat die junge Frau abgesagt, ich habe ihr das Telegramm persönlich überbracht. Wenn Sie ehrliche Arbeit suchen, werden Sie sie finden.«

Schon wieder Mrs. Fullbright. Matthew scheint fest entschlossen, dass sie in die Stadt gehen soll, und nun, da der Nachtschlaf ihre Sinne geschärft hat, erkennt sie, dass er recht hat. Sie kann nicht im Leuchtturm darauf warten, dass sich die Dinge von selbst ändern. Sie muss den ersten Schritt machen, selbst wenn sie für eine Frau arbeitet, die vermutlich weniger reich ist als sie selbst. Der Gegenstand in der Kiste ist von so ungeheurem Wert, dass sie Mrs. Fullbright an Reichtum vermutlich weit übertrifft. Gold. Edelsteine. Sie denkt an Daniels Armband mit dem bescheidenen schwarzen Bändchen, das tief unten in der Kiste vergraben liegt. Dann erkennt sie, dass alles Schlimme geschehen ist, nachdem sie es abgenommen hat.

Nach dem Streit mit Arthur wurde sie unter Deck gefangen gehalten und konnte nicht mehr ihr Gebet ans Meer richten.

Es folgte der unbarmherzige Sturm.

Der Schiffbruch. Der Kampf ums Überleben. Die Verletzungen.

Das Pech würde erst aufhören, wenn sie ihr Armband wieder am Handgelenk trug. »Sie müssen mir helfen, die Kiste zu öffnen«, sagt sie mit zitternder Stimme.

»Haben Sie keinen Schlüssel?«

»Nein.« Er ist schon auf dem Weg zum Hauptraum, in dem die Kiste neben der Tür steht.

Er runzelt die Stirn, als er sich neben sie kniet. »Ist das …?«

»Gestohlen? Nein. Nicht … direkt gestohlen.« Angst beschleicht sie. Nun wird Matthews Freundlichkeit verfliegen, verschwinden wie die letzten Sandkörner in einem Stundenglas.

Ein Moment der Ungewissheit. Dann nickt er. »Ich sagte, ich würde keine weiteren Fragen stellen, und ich halte mein Wort.«

»Danke.«

»Na, kommen Sie. Ich habe oben auf der Plattform eine kleine Axt.«

Er hebt die Kiste hoch und geht die Treppe hinauf. Auf der ersten Stufe zögert Isabella und schaut nach oben in das Schneckenhaus der Wendeltreppe. Doch Matthew steigt schon hinauf, und sie folgt ihm, vorbei an lang herabhängenden Ketten, durch eine Luke und in den obersten Raum des Leuchtturms. Eine gewaltige Lampe, umgeben von prismatischen Linsen, konzentrischen Kreisen aus Messing und Glas, nimmt den meisten Raum ein. Es riecht ölig, aber nicht unangenehm.

Matthew öffnet eine kleine Tür und lässt frische Morgenluft herein. Sie tritt auf eine runde Plattform hoch über der Welt, von der man meilenweit zum dunklen, fernen Horizont sehen kann. Motten, Käfer und eine tote Möwe liegen herum. Matthew stößt sie mit der Fußspitze über den Rand und lässt die Kiste polternd auf den Metallboden fallen.

Er öffnet einen Werkzeugkasten und holt eine kleine Axt heraus.

»Ich werde versuchen, die Kiste nicht zu sehr zu beschädigen.«

»Das ist mir egal. Ich will sie und fast alles, was darin ist, so schnell wie möglich loswerden. Sie ist nichts als eine Last, die ich nie wiedersehen möchte.« Ihr Herz schlägt schneller, und ihr Kopf ist ganz leicht.

Matthew hebt die Axt, zielt und schlägt damit auf das erste Schloss. Holz splittert, das Schloss fällt zu Boden. Dann noch ein Schlag und noch einer. Insgesamt fünf, einer für jedes verfluchte Schloss. Dann steht er auf, tritt zurück und wendet sich demonstrativ ab. »Ich sehe mir besser nicht an, was darin ist.«

Isabella kann vor Dankbarkeit kaum atmen. Sie klappt rasch den Deckel auf. Helles Sonnenlicht schimmert auf Gold und Edelsteinen. Sie schiebt die Hände darunter, hebt den Samt hoch und findet das Band.

Sie zieht es heraus und lässt den Deckel wieder zufallen. Mit dem Daumen streicht sie über die Korallenperlen des Armbands, und eine seltsame Ruhe legt sich über sie und löst die Knoten in ihrem Gehirn. Alles ist ganz einfach: Sie wird so lange für Mrs. Fullbright arbeiten, bis sie genügend Geld für die Überfahrt nach Amerika verdient hat. Mit Daniels Armband kann sie alles ertragen.

»Sie können sich jetzt umdrehen.«

Er gehorcht. Sie streckt die Hand aus. »Könnten Sie mir das umbinden?«

»Natürlich.« Behutsam und geschickt bindet er ihr das Band ums Handgelenk.

»Es ist die letzte Erinnerung an Daniel«, sagt sie sanft, und ihre Stimme wird fast von Wind und Sonnenschein davongetragen. Sie blickt auf die Kiste. »Die sollte ich irgendwo verstecken, wo sie nie gefunden wird.« Ihr Blick wandert zum Meer. Dorthin gehört sie, auf den Grund des Ozeans.

Matthew folgt ihrem Blick. »Ich kann ein Stück hinausrudern und sie ins Wasser werfen.«

»Ist es tief?«

»Ich rudere so weit wie möglich hinaus, während der Ozean noch halbwegs still ist.«

Sie nickt. »Tun Sie es.«

Sie tragen die Kiste wieder hinein, wickeln sie in Isabellas zerrissenes, blutbeflecktes Kleid, und dann nimmt Matthew sie mit, um sie aufs Meer hinauszubringen. Isabella läuft die Treppe hinauf und auf die Plattform, um zu sehen, wie ihre letzte Verbindung zu den Winterbournes für immer durchtrennt wird.


Matthew sagt sich wieder und wieder, dass er nicht hineinschauen wird. Er wird es nicht tun. Er muss nicht erfahren, was in der Kiste ist. Und doch … sie hat ihn gebeten, sie ins Meer zu werfen. Sie ist müde, verwirrt, bedrückt von einem Kummer, der offensichtlich ihren Verstand getrübt hat. Wenn sie es nun bereut? Wenn sie irgendwann bedauert, dass sie den Inhalt der Kiste im Meer versenkt hat? Er erinnert sich, dass Clara ihn einmal beauftragt hat, einen Brief ihrer Mutter zu verbrennen, bevor sie ihn gelesen hatte. Er gehorchte und musste sich später tränenreiche Vorwürfe anhören.

Also muss er hineinschauen. Er muss Vernunft wahren, wenn sie es nicht kann. Wenn er hineinschaut und eine Sammlung alter Bücher oder Kleider oder Flaschen oder Uhren oder … anderer wertloser, beliebiger Dinge findet, wird er sie entsorgen. Doch wenn es etwas Bedeutsames ist, von dem sie sich später vielleicht wünschen wird, sie hätte es behalten, wird er es heimlich für sie aufbewahren.

Die Tür zum Leuchtturm schließt sich hinter ihm. Er geht um die Ecke des Häuschens zu dem Blechverschlag, der sein Feuerholz trocken hält. Im Schatten des Verschlages wickelt er die Kiste aus und klappt sie auf, bevor er es sich anders überlegen kann.

»Oh, nein. Nein, nein, nein«, murmelt er. Denn in der Kiste liegt etwas so Wunderschönes und Wertvolles, dass er es zunächst gar nicht begreifen kann. Der schimmernde Stab, der verzierte Kopf, das geprägte Gold. Edelsteine in Rot, Grün, Blau. Er weiß nicht, um was für einen Gegenstand es sich handelt, aber er ist nicht wertlos oder beliebig. Und er weiß, dass sie ihn nicht wegwerfen darf. Sie wird es bereuen. Ganz sicher.

Er nimmt ein passendes Holzscheit vom Stapel und wickelt das Kleid darum. Dann schließt er die Kiste und versteckt sie sorgsam im Holzstapel. Er nimmt den schmalen Weg, der an der geschützten Seite der Felswand entlangführt, und steigt die moosbewachsenen Stufen zum Ruderboot hinunter. Er schaut hoch. Isabella beobachtet ihn von der Plattform aus. Er winkt ihr zu, und sie winkt zurück, das schwarze Band ums Handgelenk. Nach einem kurzen Anflug von schlechtem Gewissen rudert er gegen die Wellen. Die Aufgabe wäre am Nachmittag unmöglich, wenn der Wind frisch und das Meer wild ist, doch am Morgen ist es oft ruhiger. Er rudert so weit hinaus wie möglich, bevor der Sog zu stark wird. Die Sonne scheint auf seine Unterarme. Er hebt deutlich sichtbar das Holzscheit hoch und wirft es ins Wasser. Sie beobachtet ihn bestimmt. Bereut sie es schon? Egal. Falls sie es sich anders überlegt, wird er den Stab an einem sicheren Ort für sie bereithalten.

Was immer es auch sein mag.

Wann immer das auch sein mag.

Wo immer das auch sein mag.


Matthew besteht darauf, dass sie sich den Tag über noch ausruht, bevor sie zu Mrs. Fullbright geht. Ihre Wunden müssen heilen, ihre Füße sind aufgerissen. Den Morgen verbringt sie im Bett, und als Matthew mittags schlafen muss, setzt sie sich nach draußen auf die Plattform, blickt auf den Ozean und lässt ihre Gedanken schweifen. Sie fürchtet sich davor, zu Mrs. Fullbright zu gehen, da sie nicht weiß, ob sie dort willkommen ist. Doch Matthew wirkt zuversichtlich, und sie vertraut ihm. Sie vertraut ihm, obwohl sie ihn nicht kennt. Irgendetwas an ihm kommt ihr bekannt vor, und seine Gegenwart wirkt tröstlich. Sie weckt ein längst vergessenes Gefühl von Sicherheit. Sie trennt sich ungern von ihm, begreift aber, dass es sein muss. Sie weiß, wie die Gesellschaft denkt: Eine junge Frau kann nicht mit einem alleinstehenden Mann in einem Haus wohnen, in dem es nur ein Bett gibt. Sie muss tun, was die Gesellschaft ihr vorschreibt, wenn sie die Stelle bei Mrs. Fullbright bekommen, ehrliches Geld verdienen und zu ihrer Schwester reisen will.

Der Nachmittag schwindet dahin. Bald dämmert es, und Matthew muss wieder an die Arbeit gehen. Sie holt ein paarmal tief Luft, hoch oben über der Welt, und steigt die steile Wendeltreppe hinunter.

Matthew ist auf, er trägt Hose, Unterhemd und Hosenträger und zündet sich gerade die Pfeife an. Als sie hereinkommt, dreht er sich um und zieht lächelnd einen Mundwinkel hoch.

»Ich nehme an, ich muss gehen.«

»Es ist am besten so. Sie finden schon Ihren Weg.«

Sie nickt und geht zur Tür, um die zu engen Schuhe anzuziehen. Matthew hat ihr eine kleine Tasche gepackt: zwei Kleider, die beide zu groß sind. Immerhin hat sie etwas zum Anziehen. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals, sie fühlt sich hilflos.

»Ich bin hier, wenn Sie mich brauchen, Isabella«, sagt er, lächelt und korrigiert sich. »Ich meine, Mary Harrow.«

»Danke. Für alles.«

Dann schließt sich leise die Tür hinter ihr, und sie steht auf dem Weg, der in die Stadt hinunterführt.

Wenngleich ihre Füße brennen, geht sie entschlossen los. Der Weg ist sandig und auf beiden Seiten von dichten, scharf riechenden Pflanzen gesäumt. Sie erkennt die essbaren Beeren, braucht diesmal aber keine zu pflücken. Sie hat heute drei anständige Mahlzeiten gegessen, und Mrs. Fullbright wird sicher noch mehr für sie haben. Der Weg verbreitert sich, die Stadt kommt in Sicht. Der Waldstreifen schützt die hölzernen Häuser mit den Blechdächern vor dem Wind, der vom Meer herüberweht. Es sind etwa zwanzig Gebäude. Eine Kneipe. Ein großer Schuppen, der vielleicht mit dem Zucker- und Holzhandel zu tun hat, den Matthew erwähnt hat. Eine kleine, unscheinbare Kirche mit verputzten Wänden.

Von der Anhöhe aus sucht sie nach dem großen Haus am Anfang der Straße. Hellrosa Holz. Zwei Stockwerke mit einer großen Veranda, die sich ums ganze Haus zieht. Es steht auf einem grünen Viereck mit säuberlich angeordneten Blumenbeeten. Hier wohnt Mrs. Katherine Fullbright mit ihrem Sohn Xavier, dazu vermutlich ein Ehemann und einige Dienstboten. Isabella hat insgeheim gehofft, dass Mrs. Fullbright ihr die Stelle nicht geben würde. Dass sie in die Sicherheit des Leuchtturms zurückkehren könnte. Doch nun, da sie das Haus, den Rasen und die Blumen gesehen hat, möchte sie gern dort wohnen. Sie möchte ihre Füße in das Gras drücken, in einem richtigen Haus mit Teppichen und Vorhängen wohnen. Es ist Monate her, dass sie diesen ganz normalen Luxus genossen hat.

Isabella geht entschlossen die grasbewachsene Böschung neben der ungepflasterten Straße entlang, durchs Tor und die Stufen hinauf zur Haustür. Die Fensterbänke sind weiß gestrichen. Es gibt Spitzengardinen. Sie mag Mrs. Fullbright schon jetzt.

Isabella ordnet ihr Haar, damit es den Schnitt an ihrem Hals verdeckt. Sie möchte Mrs. Fullbright keine Angst einjagen. Die Handschuhe, die der Frau des früheren Leuchtturmwärters gehört haben, bedecken die Verletzungen an ihren Händen. Gegen den Sonnenbrand kann sie nichts ausrichten, wendet aber das Gesicht ein wenig von der Lampe ab.

Dann betätigt sie die Messingglocke und wartet.

Schließlich öffnet sich die Tür einen Spalt weit, und eine dunkelhaarige Frau mit dunklen Augen und vollen Lippen späht heraus.

»Guten Tag, ich möchte gerne Mrs. Fullbright sprechen.«

Die Tür wird ganz geöffnet. »Ich bin Katarina Fullbright«, sagt die Frau mit einem leichten Akzent, den Isabella nicht einordnen kann.

Sie hat damit gerechnet, dass ein Hausmädchen öffnen würde, und begreift erst allmählich, dass diese unglaublich schöne junge Frau mit der glatten, olivbraunen Haut und den leicht geweiteten Nasenlöchern Mrs. Katherine Fullbright ist. Sie hat eine Dame mittleren Alters erwartet, natürlich Engländerin, die Wert auf Manieren legt und ein konservatives Kleid trägt. Keine karmesinrote Katarina.

Sie erinnert sich an den Grund für ihr Kommen und gibt Katarina die Hand. »Ich bin Mary Harrow. Wie ich hörte, suchen Sie ein Kindermädchen. Ich bin Kindermädchen und suche eine Stelle.«

Katarinas vollkommen geschwungene Augenbrauen schießen in die Höhe. »Sind Sie das?«

»Ja, das bin ich. Leider habe ich meine Referenzen verloren.«

»Kommen Sie herein, Mary«, sagt sie ungerührt und führt Isabella in ein Wohnzimmer mit hoher Decke und holzgetäfelten Wänden. Ein großes Sofa mit einem gehäkelten Überwurf, zwei Ledersessel, Bücherregale, ein Sideboard an der Wand. Isabella kann ein kleines Esszimmer und dahinter die Küche sehen. Das Haus ist sauber und riecht nach einer Möbelpolitur mit Zitrone und Öl. Es wird nur von zwei großen Kerzen erhellt. »Setzen Sie sich. Das ist eine willkommene Überraschung.«

»Vielen Dank«, antwortet Isabella und hockt sich mit der Tasche zwischen den Füßen aufs Sofa.

»Ich hatte damit gerechnet, dass ich noch eine Anzeige aufgeben und monatelang warten müsste«, sagt Katarina. »Es ist schwer, jemanden zu finden, der bereit ist, so weit zu reisen. Und Xavier ist … ein schwieriges Kind. Haben Sie etwas gegen schwierige Kinder?«

Zum ersten Mal begreift Isabella, dass sie für das bescheidene Gehalt, das sie sich vorstellt, arbeiten muss. Zu Hause in Somerset verbrachte sie ihre Tage mit Handarbeiten, schnitt und arrangierte Blumen, lud zum Tee ein und begleitete ihren Mann in die Stadt. Sie hat noch nie im Leben wirklich gearbeitet. »Selbstverständlich habe ich nichts dagegen.« Sie spürt, welche Kluft zwischen ihren Worten und ihren Gefühlen liegt. Sie hätte noch ein paar Tage im Leuchtturm bleiben sollen, nicht so überstürzt herkommen dürfen. Sie kann nicht klar denken. Das Gefühl der Hilflosigkeit kehrt zurück, ein dunkles Schluchzen in ihrem Kopf.

»Xavier ist nicht hier«, sagt Katarina. »Er ist für ein paar Tage mit Mr. Fullbright verreist.«

»Soll ich später wiederkommen?«

»Nicht nötig. Sie sind jetzt hier. In der Stadt kann man nirgendwo sonst wohnen. Die Köchin hat Feierabend, also kann ich Ihnen nichts Warmes anbieten. In der Küche ist aber noch Brot und Bratenfett.«

»Ich habe keinen Hunger. Ich …« Isabella fasst sich an die Stirn. »Ich bin furchtbar müde.«

Katarina lächelt. »Ach so, eine lange Reise? Ich sehe, Sie haben von der Fahrt im Wagen Sonnenbrand. Kommen Sie von den Goldfeldern? Haben Sie dort zuletzt gearbeitet?«

Isabella nickt.

»Kommen Sie, Mary, ich zeige Ihnen das Bad und das Kinderzimmer. Sie werden im selben Zimmer schlafen wie Xavier. Heute können Sie früh schlafen gehen, und morgen besprechen wir die Einzelheiten.« Isabella hat das Gefühl, als wollte Katarina dringend weg. Vielleicht erklärt das auch das prachtvolle Kleid.

Isabella nickt, und Katarina führt sie durch einen mit einem Teppich ausgelegten Flur, von dem rechts und links Türen abgehen. Sie bleibt am Ende des Flurs stehen und zeigt nach rechts. »Das Badezimmer.« Dann links. »Das Kinderzimmer. In der großen Kommode ist Bettwäsche. Ich gehe heute Abend aus, Sie müssen verzeihen.«

Dann verschwindet sie in einem Wirbel aus rotem Stoff und dunklem Haar. Isabella geht ins Bad. Im Dämmerlicht kann sie kaum ihr Gesicht im Spiegel erkennen, doch was sie sieht, erschreckt sie. Sie ist tatsächlich sonnenverbrannt. Ihr Gesicht leuchtet, auf der Nase hat sie Blasen. Ihre Wangen sind eingefallen, die Schatten unter ihren Augen tief und dunkel. Ihr Haar ist strähnig und ungekämmt. Im Vergleich zu Katarinas frischer Schönheit sieht Isabella aus wie eine Hexe. Sie hat zu viel Entsetzliches gesehen, es steht ihr ins Gesicht geschrieben. Sie wendet sich ab, spritzt sich Wasser ins Gesicht und wäscht sich die Hände, dann geht sie ins Kinderzimmer.

Links und rechts der Tür stehen Laternen, die sie mit langen Streichhölzern anzündet, die auf dem Toilettentisch liegen. An einer Wand befinden sich ein Kinderbett mit Gittern und ein weiteres kleines Bett. Gegenüber eines für Erwachsene. Dazwischen liegt ein großer blauer Teppich, eine Kiste mit Spielzeug steht herum. Isabella hebt einen Plüschbären vom Boden auf und legt ihn auf das kleine Bett. Sie hat nicht einmal gefragt, wie alt Xavier ist. Wieder überwältigt sie die Frage, was sie eigentlich will. Es geht zu schnell. Sie muss sich erst daran gewöhnen, dass die anderen alle tot sind und sie allein in einem fremden Land ist.

Gestern Abend haben die Gefühle sie auch überwältigt, doch der lange Nachtschlaf brachte Erholung. Das Erlebte hat sie erschöpft, bis tief in die Seele hinein. Sie lässt die Tasche neben dem Bett fallen und zieht das Kleid aus.

Die Haustür schlägt zu. Schritte verklingen auf den Stufen. Sie ist allein in einem fremden Haus. Die Neugier macht sie unruhig. Sie öffnet die Tür des Kinderzimmers und horcht angestrengt. Nichts. Am Ende des Flurs führt eine Tür ins Wohnzimmer. Sie drückt die Klinke hinunter. Abgeschlossen.

Isabella ist gereizt, obwohl sie weiß, dass sie kein Recht dazu hat. Katarina ist ihr vor einer Stunde zum ersten Mal begegnet, natürlich darf sie sich nicht frei und ungehindert im Haus bewegen. Sie ist nur eine bezahlte Hilfe.

Isabella kehrt in ihr Zimmer zurück, kniet sich aufs Bett und stützt die Hände aufs Fensterbrett. Sie kann den Leuchtturm über den Bäumen sehen. Sein Leuchtfeuer ist zum Leben erwacht und malt ein Muster aufs Meer, meilenweit über den wütenden Ozean, der Isabellas altes Leben von diesem seltsamen, neuen trennt. Lange sieht sie nach draußen, während der Abend tiefer wird und die Dunkelheit sie umschließt.


Um drei Uhr vergräbt Matthew einen großen Gegenstand im Wald. Es ist keine Leiche, aber er hat ein so schlechtes Gewissen, als wenn es eine wäre. Er hat die Gewichte aufgezogen, damit das Leuchtfeuer weiter blitzt; es ist das erste Mal, dass er den Leuchtturm während des Betriebs verlässt. Es ist natürlich nicht verboten, das Leuchtfeuer kurz allein zu lassen, aber er geht ein Risiko ein, und Matthew mag keine Risiken. Auch gefällt es ihm nicht, dass er Isabella bezüglich des wertvollen Stabes belogen hat, den er in seinen Sarg aus Walnussholz gelegt und sorgfältig in Öltuch gewickelt hat, um ihn hier zwischen den Knopfmangroven zu vergraben.

Als er fertig ist, richtet er sich auf und stützt die Hand in den Rücken. Er ist nicht mehr jung. Als sich der Schmerz gelegt hat, lässt er die Kiste in das drei Fuß tiefe Loch fallen und bedeckt sie mit Erde. Währenddessen fragt er sich, wieso er das eigentlich macht. Wieso er seine Pflichten vernachlässigt und sich in der dunkelsten Stunde der Nacht abmüht, etwas Kostbares zu vergraben, das vermutlich illegal erworben wurde, und zwar von einer Frau, die er kaum vierundzwanzig Stunden kennt. Ist er ein so törichter alter Kerl, dass eine Frau, nur weil sie ihn an Clara erinnert, seinen moralischen Kompass durcheinanderbringen kann?

Nein. Er hilft einem Menschen in Not, das ist alles. Sie kam verzweifelt und blutend zu ihm, hatte nicht einmal Schuhe an. Nun hat sie die kostbare Erinnerung an ihr verlorenes Baby zurückerlangt und ein Dach über dem Kopf und eine ehrliche Arbeit. Die Kiste zu vergraben ist auch nicht schlimmer, als sie in den Ozean zu werfen. So kann sie, wenn sie ihre Meinung ändert, irgendwann dorthin zurückkehren, woher sie gekommen ist. Und er möchte ihr diese Möglichkeit offenhalten.

Matthew klopft die Erde fest, damit sie sich nicht von der Umgebung unterscheidet. Dann streut er welkes Laub darüber, als hätte dort nie jemand gegraben. Es ist Zeit, zum Leuchtfeuer zurückzukehren.

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