Neunzehntes Kapitel

In aller Frühe brachen wir am nächsten Morgen mit der gesamten Flotte auf. Vom Achterschiff aus betrachtet, bot der Strand von Aulis ein wüstes Bild. Man sah nur noch die Latrinengräben und die verkohlten Reste des Scheiterhaufens, auf dem Iphigenies Leichnam verbrannt worden war. Ich hatte Achill mit Odysseus’ Worten geweckt und gesagt, dass er Diomedes nicht rechtzeitig hätte sehen können. Er hörte mir mit stumpfem Ausdruck zu, und obwohl er lange geschlafen hatte, blickte er müde drein. Dann sagte er: »Was ändert das? Sie ist tot.«

Jetzt stand er neben mir an der Reling. Ich versuchte, ihn abzulenken, und deutete auf die Delfine, die uns begleiteten, auf die Regenwolken am Horizont, doch er achtete kaum darauf und schien mir gar nicht zuzuhören. Später sah ich ihn mit düsterem Blick exerzieren und mit dem Schwert gegen Phantome kämpfen.

Jede Nacht liefen wir in einen anderen Hafen ein, denn unsere Boote waren nur für kurze Strecken gebaut. Von den anderen Schiffen sahen wir nur die von Diomedes. Die Flotte hatte sich aufgeteilt, weil die Ufer der einzelnen Inseln nicht genügend Platz boten für die gesamten Streitkräfte. Es war gewiss kein Zufall, dass uns ausgerechnet der König von Argos begleitete. Fürchteten sie etwa, dass wir umkehren könnten? Ich versuchte, ihn zu ignorieren, so gut ich konnte, und zum Glück ließ er uns in Frieden.

Für mich sahen die Inseln alle gleich aus – hoch aufragende, weiß gebleichte Klippen und Kieselstrände, die mit ihren kalkigen Steinen an der Unterseite unserer Ruderboote kratzten. Vereinzelt standen Olivenbäume und Zypressen an den Ufern, dazwischen nur dürres Gesträuch. Achill hatte keinen Sinn dafür. Er hockte über seiner Rüstung und polierte sie, bis sie wie helles Feuer glänzte.

Am siebten Tag erreichten wir Lemnos vor der Meerenge des Hellespont. Sie war flacher als die meisten unserer Inseln, voller Sümpfe und stehender Gewässer, auf denen Lilien wucherten. In der Nähe unseres Lagers fanden Achill und ich einen kleinen See, an dessen Ufer wir uns setzten. Mücken schwirrten über dem Wasser, und aus den Binsen glotzten uns wulstige Augen entgegen. Wir waren nur noch zwei Tagesetappen von Troja entfernt.

»Wie war es, als du diesen Jungen getötet hast?«

Ich blickte auf. Sein Gesicht lag im Schatten, und die Haare fielen ihm über die Augen.

»Wie es war?«, fragte ich.

Er nickte, den Blick aufs Wasser gerichtet, als versuchte er, dessen Tiefe auszuloten.

»Wie hat es ausgesehen?«

»Schwer zu beschreiben.« Ich war auf seine Frage nicht vorbereitet und schloss die Augen, um mich zu erinnern. »Da war viel Blut, viel mehr, als ich es für möglich gehalten hätte. Der Schädel war aufgebrochen, und ein Teil des Gehirns kam zum Vorschein.« Sogar jetzt noch packte mich Ekel. Ich kämpfte dagegen an. »Es hat schrecklich gekracht, als sein Kopf auf den Felsen schlug.«

»Hat er gezuckt? Wie ein Tier, wenn man es absticht?«

»Das weiß ich nicht. Ich bin sofort weggelaufen.«

Er schwieg eine Weile. »Mein Vater hat mir mal gesagt, ich solle mir vorstellen, es seien Tiere. Die Männer, die ich töten muss.«

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder. Er starrte immer noch auf die Wasseroberfläche.

»Ich glaube, ich bringe es nicht über mich«, sagte er schlicht und geradeheraus, wie es seine Art war.

Odysseus’ Worte drückten mich nieder, und meine Zunge war wie gelähmt. Gut, wollte ich sagen. Doch konnte ich überhaupt mitreden? Durch Krieg unsterblich zu werden war meine Bestimmung nicht.

»Ich muss ständig daran denken«, sagte er leise. »An ihren Tod.« Mir ging es ähnlich. Auch ich sah immer noch das Blut spritzen und das Entsetzen in ihren Augen.

»Du wirst es überwinden«, hörte ich mich sagen. »Sie war jung und unschuldig. Du wirst es mit Männern zu tun haben, die kämpfen, um dich zu töten, wenn du ihnen nicht zuvorkommst.«

Er sah mich an mit festem Blick.

»Aber du wirst nicht kämpfen, nicht einmal dann, wenn man dich angreift. Du verabscheust den Kampf.« Von jedem anderen ausgesprochen, wären diese Worte als Beleidigung zu verstehen gewesen.

»Ich habe deine Fähigkeiten nicht«, entgegnete ich.

»Das ist, glaube ich, nicht der einzige Grund.«

Seine Augen waren so grün und braun wie der Wald, und trotz des schwachen Lichts sah ich Gold darin schimmern.

»Mag sein«, erwiderte ich schließlich.

»Wirst du mir verzeihen?«

Ich ergriff seine Hand. »Es gibt nichts zu verzeihen. Du kannst mich nicht verletzen«, sagte ich aus tiefster Überzeugung.

Plötzlich riss er sich von mir los und langte so schnell, dass meine Augen nicht folgen konnten, mit der Hand nach vorn zu den Füßen. Als er sich aufrichtete, baumelte etwas von seinen Fingern herab, das wie ein nasses Seilstück aussah. Ich traute meinen Augen nicht.

»Hydros«, sagte Achill. Die Wasserschlange war dunkelgrau und hatte einen flachen Kopf, der schlaff zur Seite hinunterhing. Der Körper zitterte noch ein wenig, sterbend.

Mir wurde flau. Cheiron hatte uns alles über diese Tiere erzählt, welche Farbe sie haben, wo sie leben und wie sie sich verhalten. Graubraun, am Wasser. Leicht reizbar und tödlich, wenn sie beißen.

»Ich habe sie nicht gesehen«, stammelte ich. Er hatte ihr den Hals gebrochen und schleuderte sie ins Schilf.

»Ist nicht schlimm«, entgegnete er. »Ich habe sie gesehen.«

Es schien ihm danach ein wenig besser zu gehen. Er schritt nicht mehr ruhelos und mit finsterem Blick an Deck auf und ab. Ich wusste aber, dass er nach wie vor an Iphigenie dachte. An uns beide. Meist sah ich ihn mit einem seiner Speere in der Hand, den er immer wieder in die Luft warf und auffing.

Allmählich setzte sich die Flotte wieder zusammen. Manche Verbände hatten den weiten Weg an der Südküste von Lesbos vorbei genommen, andere die direkte Route. Letztere warteten auf uns vor Sigeum im Nordwesten Trojas. Wiederum andere folgten wie wir selbst der thrakischen Küste. Wieder vereint, sammelten wir uns bei Tenedos, einer Troja vorgelagerten Insel. Mit Rufen von Schiff zu Schiff verständigten wir uns über Agamemnons Plan: Die Könige sollten die erste Schlachtreihe bilden, deren Verbände im Rückraum ausschwärmen. Die Manöver gerieten zum heillosen Durcheinander. Es gab mehrere Kollisionen, und so manches Ruder ging zu Bruch.

Als schließlich die Reihen geschlossen waren, lag unser Schiff zwischen denen von Diomedes auf der linken und Meriones auf der rechten Seite. Trommeln fingen zu schlagen an und gaben den Ruderknechten den Takt vor. Agamemnon hatte den Befehl gegeben, langsam und geschlossen vorzurücken, Schlag für Schlag. Unsere Könige aber taten sich schwer damit, dem Kommando eines anderen zu folgen, denn jeder war bestrebt, als Erster Troja zu erreichen. Schweiß strömte von den Gesichtern der Ruderer, die von ihren Antreibern gepeitscht wurden.

Wir standen mit Phoinix und Automedon im Bug und sahen die Küste näher rücken. Achill schleuderte wieder seinen Speer in die Luft und fing ihn klatschend mit der Hand auf, so rhythmisch und gleichmäßig, dass die Männer an den Riemen seinen Takt aufnahmen.

Allmählich konnten wir Einzelheiten des Landes unterscheiden. Über verschwommenen Flächen aus Grün und Braun erhoben sich Bäume und Berge. Wir zogen an Diomedes vorbei und waren eine Bootslänge vor Meriones.

»Da sind Menschen am Strand«, sagte Achill und blinzelte angestrengt nach vorn. »Mit Waffen.«

Bevor ich etwas sagen konnte, erschallte eine Fanfare, weitere Signale ertönten. Der Wind trug ferne Stimmen herbei. Wir hatten gehofft, die Trojaner überraschen zu können, doch nun schien es, dass sie uns erwarteten.

Die Ruderknechte verlangsamten ihren Schlag. Die Männer am Strand waren offenbar Soldaten, in dunkles Rot gewandet, der Farbe des Hauses Priamos. Ein Streitwagen flog an ihren Reihen vorbei und ließ Sand aufwirbeln. Der Wagenlenker trug einen Helm, der von einem Büschel Pferdehaaren gekrönt wurde, und selbst aus der Entfernung war zu erkennen, dass er von kräftiger Statur war, groß, ja, jedoch nicht so groß wie Ajax oder Menelaos. Was ihn so mächtig erscheinen ließ, war seine Haltung, die gestrafften Schultern und der pfeilgerade aufgerichtete Rücken. Das war kein von Müßiggang und Ausschweifungen verweichlichter Prinz, auch wenn wir unseren Feind aus dem Osten so sehen wollten, sondern ein Mann, der sich bewegte, als schauten ihm die Götter dabei zu. Jede seiner Gebärden sprach von Stolz und Geradlinigkeit. Es konnte nur Hektor sein.

Er sprang von seinem Wagen und sprach mit lauter Stimme zu seinen Männern. Speere wurden in die Höhe gehoben, Pfeile auf Bogensehnen gelegt. Noch würden uns ihre Geschosse nicht erreichen können, doch die Strömung trieb uns näher, obwohl die Ruderer dagegen anzugehen versuchten. In unseren Reihen machte sich Verwirrung breit, da von Agamemnon keine Order kam.

»Wir sind fast in Reichweite ihrer Pfeile«, sagte Achill. Er wirkte ruhig und gelassen, während die Männer um uns herum in Panik gerieten und ziellos an Bord umherrannten.

Ich starrte auf die Küste, auf die wir unaufhaltsam zutrieben. Hektor war weitergezogen, zu einer anderen Abteilung seines Heeres. Aber jetzt zeigte sich ein anderer Mann vor uns, in Lederrüstung und mit einem Helm, der bis auf den Bart das ganze Gesicht verhüllte. Er spannte seinen Bogen und zielte auf die treibenden Schiffe. Seine Waffe war weniger groß als die von Philoktetes, würde aber weit genug reichen. Er visierte sein Ziel an, fest entschlossen, seinen ersten Griechen zu töten.

Doch dazu kam er nicht. Ich hörte ein Schwirren in der Luft und sah, als ich mich umschaute, Achills ausgestreckten Wurfarm. Sein Speer hatte die Hand verlassen und flog über das Wasser, das uns vom Ufer trennte. Es konnte eigentlich nur eine Drohung sein, denn einen Speer so weit zu schleudern schaffte niemand. Er würde sein Ziel nicht treffen.

Und doch traf er es. Die schwarze Spitze bohrte sich durch die Brust des Bogenschützen und warf ihn zurück. Sein Pfeil, im Schreck losgelassen, zischte hoch hinaus in die Luft. Der Mann stürzte in den Sand und stand nicht mehr auf.

Von den Schiffen neben uns schallten Jubelrufe und Hornsignale. Die Nachricht verbreitete sich von Deck zu Deck: der gottgleiche Prinz von Phthia hatte den ersten Gegner zu Fall gebracht.

Achill rührte keine Miene. Dass er gerade ein Wunder bewirkt hatte, war ihm nicht anzusehen. Die Trojaner am Ufer schwenkten ihre Waffen und stießen derbe Flüche aus. Ein paar wenige kauerten neben dem Gefallenen. Hinter mir hörte ich, wie Phoinix unserem Wagenlenker Automedon etwas zuflüsterte, worauf dieser davonlief und wenig später mit einer Handvoll Speere zurückkehrte. Achill nahm einen davon, holte aus und warf. Diesmal beobachtete ich ihn dabei, sah den Schwung seines Arms und das erhobene Kinn. Im Unterschied zu anderen schien er es nicht nötig zu haben, lange zu zielen. Es war, als lenkte er den Flug des Speeres mit den Augen. Am Strand ging ein weiterer Mann zu Boden.

Wir waren bis auf Schussweite herangekommen. Schwärme von Pfeilen schwirrten hin und her. Viele landeten im Wasser, andere schlugen in Masten und Schiffsrümpfen ein. Manche Männer fielen schreiend auf die Planken. Achill ließ sich von Automedon einen Schild geben. »Bleib hinter mir«, sagte er. Ich gehorchte. Vom Schild abgeschirmt, griff er zu einem weiteren Speer.

Die Feinde wurden wilder. Ihre im Übereifer geschleuderten Pfeile und Speere schwammen verstreut auf dem Wasser. Protesilaos, der Prinz von Phylake, sprang lachend vom Bug seines Schiffes und machte sich daran, ans Ufer zu schwimmen. Vielleicht war er betrunken, vielleicht getrieben von der Hoffnung auf Ruhm. Vielleicht wollte er den Prinzen von Phthia übertreffen. Ein Speer, von keinem Geringeren als Hektor geworfen, traf sein Ziel, und das Wasser um den Schwimmenden färbte sich rot. Protesilaos war der erste Grieche, der fiel.

Unsere Männer stiegen in Ruderboote und strömten, von Schilden geschützt, ans Ufer. Die Trojaner waren gut aufgestellt, aber der Strand bot keine natürliche Deckung, und wir waren in der Überzahl. Auf ein Kommando von Hektor hin sammelten sie die gefallenen Kameraden ein und zogen sich zurück. Sie hatten erreicht, was sie wollten, und uns gezeigt, dass sie zur Gegenwehr entschlossen waren.

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