Fünfundzwanzigstes Kapitel

Es war im neunten Jahr, als eines Tages wieder einmal ein Mädchen aufs Podest gezerrt wurde. Man hatte sie offenbar misshandelt, denn das halbe Gesicht war grün und blau geschlagen. In ihren Haaren flatterten Bänder, die sie als Gottesdienerin auswiesen. Ich hörte jemanden sagen, dass sie die Tochter eines Priesters sei. Achill und ich schauten einander an.

Obwohl schrecklich zugerichtet, war sie schön: große, haselnussbraune Augen in einem runden Gesicht, kastanienfarbene Haare, die ihr in weichen Wellen auf die Schultern fielen, mädchenhaft schlank. Als wir sie betrachteten, füllten sich ihre Augen wie dunkle Tümpel, die über die Ufer gingen. Tränen rollten ihr über die Wangen und tropften vom Kinn zu Boden. Sie konnte sie nicht wegwischen, ihre Hände waren auf dem Rücken gefesselt.

Von den Männern begafft, richtete sie den Blick im Stoßgebet zum Himmel. Ich stieß Achill an. Er nickte, doch bevor er sie für sich beanspruchen konnte, trat Agamemnon vor. Er legte eine Hand auf ihre zarte, gebeugte Schulter. »Das ist Chryseis«, sagte er. »Sie gehört mir.« Dann zerrte er die junge Frau vom Podest und führte sie in sein Zelt. Ich sah, wie der Priester Kalchas die Stirn runzelte und Anstalten machte, Widerspruch einzulegen. Doch er hielt sich zurück, und Odysseus setzte die Verteilung fort.


Etwa einen Monat später kam der Vater des Mädchens. Er wanderte über den Strand, gestützt auf einem vergoldeten und mit bunten Bändern umwickelten Stab. Er hatte ein breites, knochiges Gesicht und trug einen Bart nach der Art anatolischer Priester. In seinen langen Haaren waren Bänder befestigt, passend zu denen seines Stabs. Sein langes, aus roten und goldenen Stoffbahnen gefertigtes Gewand flatterte um seine Beine. Ihm folgten zwei Gehilfen, die eine große Holztruhe schleppten und Mühe hatten, Schritt zu halten.

Die kleine Prozession passierte die Zelte von Ajax, Diomedes und Nestor und näherte sich der Agora. Von anderen informiert, eilten Achill und ich hinzu, und als wir zur Stelle waren, hatte der Priester bereits das Podest bestiegen. Er stand dort mit stolz erhobenem Kinn und nahm von Agamemnon und Menelaos, die auf ihn zutraten, keine Notiz. Die beiden zeigten sich verärgert über dessen anmaßende Haltung, warteten jedoch erst einmal ab.

Aus allen Ecken des Lagers waren Soldaten zusammengelaufen, denn der ungewöhnliche Besuch hatte sich schnell herumgesprochen. Der Priester ließ seinen Blick über die Menge schweifen und richtete ihn schließlich auf die Söhne des Atreus, die vor ihm auf dem Podest standen.

Er sprach mit volltönender Stimme, nannte seinen Namen – Chryses – und stellte sich mit erhobenem Stab als Hohepriester des Apoll vor. Dann zeigte er auf die Truhe, die, von seinen Gehilfen inzwischen geöffnet, einen glitzernden Schatz aus Gold, Edelsteinen und Bronze barg.

»Was führt dich zu uns, Priester Chryses?«, fragte Menelaos, der offenbar an sich halten musste. Trojaner hatten nicht auf die Podeste der griechischen Könige zu steigen und unaufgefordert das Wort zu ergreifen.

»Ich bin gekommen, um meine Tochter Chryseis freizukaufen«, antwortete der Priester. »Sie, ein junges Mädchen mit Bändern im Haar, wurde von euch, den Griechen, aus unserem Tempel geraubt. Ihr habt Unrecht begangen.«

Gemurmel wurde laut. Bittsteller hatten demütig niederzuknien. Was fiel ihm ein, dass er unseren Königen die Stirn bot und urteilte? Nun, er war ein Hohepriester, nicht daran gewöhnt, vor jemand anderem als seinem Gott niederzuknien. Vielleicht sollte man ihm Zugeständnisse machen. Außerdem war sein Angebot überaus großzügig, das Mädchen vielleicht die Hälfte wert, und es empfahl sich, einen Priester nicht zu verprellen. Dass er von Unrecht sprach, war zwar heikel, jedoch nicht von der Hand zu weisen. Sie hätte gar nicht erst entführt werden dürfen. Sogar Diomedes und Odysseus nickten beipflichtend, und Menelaos schien sich dahingehend äußern zu wollen.

Doch Agamemnon kam ihm zuvor. Breit wie ein Bär, richtete er sich zornig auf.

»Spricht so ein Bettler? Du kannst von Glück sagen, dass ich dich nicht auf der Stelle niederstrecke. Ich führe den Oberbefehl über dieses Heer«, blaffte er. »Es steht dir nicht zu, vor meinen Männern den Mund aufzumachen. Aber höre meine Antwort. Sie lautet: Nein. Es gibt keinen Freikauf. Sie ist mein Preis, und ich gebe sie nicht her, weder jetzt noch später. Schon gar nicht für diesen billigen Ramsch.« Er drohte dem Priester mit einer Geste, ihn zu erwürgen. »Verschwinde und wage es nicht, dich noch einmal in meinem Lager blicken zu lassen, Priester. Auf deine Bänder und dein Amt werde ich in Zukunft keine Rücksicht nehmen.«

Chryses biss die Zähne aufeinander, ob aus Angst oder weil er eine Entgegnung zurückzuhalten versuchte, war nicht auszumachen. Seine Augen brannten voller Bitterkeit. Abrupt drehte er sich um, stieg, ohne ein weiteres Wort zu sagen, vom Podest und ging in Richtung Strand, gefolgt von seinen Gehilfen mit der Truhe.

Noch lange schaute ich dem Gedemütigten nach, während in meinem Rücken heftige Debatten laut wurden. Später erfuhr ich von Männern, denen er am Strand entgegengekommen war, dass er geweint und den erhobenen Stab gen Himmel geschwungen hatte.

Wie eine Schlange, schnell und lautlos, beschlich das Lager noch in derselben Nacht die Seuche.

Am Morgen sahen wir die Maultiere am Boden liegen, augenrollend und mit gelbem Schaum vor den Mäulern. Gegen Mittag fingen die Hunde zu winseln an. Roter Schleim troff von den hechelnden Zungen. Am späten Nachmittag waren die meisten Tiere tot, und was noch lebte, krepierte zitternd in Pfützen aus blutigem Auswurf.

Machaon, Achill und ich beeilten uns, die Kadaver zu verbrennen, um zu verhindern, dass ihre Fäulnis auf unser Quartier übergriff. Zurück im Lager, schrubbten wir die Haut mit dem rauen Salzwasser des Meeres und wuschen uns danach im Bach, der durch den Wald strömte. Die beiden Flüsse Simoeis und Skamander, aus denen wir unser Trinkwasser bezogen, mieden wir wohlweislich.

Als wir später auf der Pritsche lagen und uns flüsternd miteinander unterhielten, lauschten wir bangend darauf, ob auch unsere Kehlen bereits Eiter absonderten, was aber nicht der Fall zu sein schien. Und so wiederholten wir wechselseitig und wie in murmelndem Gebet, was wir von Cheiron zum Schutz vor Seuchen gelernt hatten.

Am nächsten Tag waren die ersten Männer befallen. Dutzende krümmten sich vor Schmerzen und brachen zusammen. Ihre Augen traten hervor, und aus aufgebrochenen Lippen rann Blut in dünnen Rinnsalen. Unter Mithilfe von Podaleirios und schließlich auch Brisëis schafften wir die Toten fort, die so jählings fielen wie von einem Speer oder Pfeil getroffen.

Am Rand des Lagers füllte sich ein Feld voll siechender Männer, die nach Wasser schrien und sich die Kleider vom Leib rissen, weil sie innerlich zu verbrennen glaubten. Bald platzten ihnen eitrige Beulen auf, und ihre Haut gab nach wie sprödes Gewebe. Wenn sie nach heftigem Todeskampf endlich erschlafft waren, lagen sie ausgestreckt im Schlamm ihres letzten Grauens: der dunklen, mit Blutklumpen vermischten Ausscheidung ihrer Gedärme.

Wir errichteten Scheiterhaufen um Scheiterhaufen und verbrannten die Toten mitsamt den Kleidern, die sie getragen hatten, erst einzeln, wie es sich schickte, dann aber in Haufen. Wir hatten nicht die Zeit, ihnen das letzte Geleit nach Anstand und Sitte zu geben.

Schließlich halfen uns auch die meisten Könige, allen voran Menelaos. Ajax spaltete ganze Bäume mit einem einzigen Axthieb, um die vielen Feuer zu versorgen. Diomedes und seine Männer durchsuchten die Zelte und fanden weitere Tote darin, und auch Männer, die zitternd und fiebernd im Sterben lagen, versteckt gehalten von ihren Freunden, damit man nicht auch sie auf den Scheiterhaufen warf.

Agamemnon zeigte sich kein einziges Mal.

Nach zwei, drei Tagen hatten jeder Verband, jeder König hohe Verluste zu beklagen. Während wir Augenlid um Augenlid schlossen, fiel uns auf, dass sich unter den Opfern kein einziger Fürst befand. Es starben ausschließlich Soldaten und geringere Edelmänner. Verschont blieben auch Frauen, wie wir bemerkten. Es beschlich uns ein Verdacht, denn es konnte nicht mit rechten Dingen zugehen, dass ein Mann nach dem anderen plötzlich verschied, mit einem Schrei auf den Lippen und die Hände an die Brust gepresst, als hätte ihn ein Pfeil hingerafft.

Es war in der neunten Nacht. Nachdem wir wieder etliche Leichen verbrannt hatten, standen wir erschöpft vor unserem Zelt und streiften unsere von Blut und Eiter verschmierten Kleider ab, um auch sie ins Feuer zu werfen. Unser Verdacht hatte sich hundertfach erhärtet. Dies war keine natürliche Plage, nicht die schleichende Verbreitung einer gefährlichen Seuche, sondern etwas anderes, das uns so unvermittelt heimsuchte wie damals die ausbleibenden Winde vor Aulis. Die Katastrophe ließ sich nur damit erklären, dass ein Gott grollte.

Wir erinnerten uns an Chryses und seine gerechtfertigte Empörung über Agamemnon, der sich wider alle Gebräuche und Regeln geweigert hatte, die Gefangene auszulösen. Und wir erinnerten uns daran, welchem Gott der Priester diente, nämlich dem des Lichts, der Heilkunst und der Seuche.

Später in der Nacht – der Mond stand hoch über dem Lager – verließ Achill das Zelt. Als er zurückkehrte, haftete ihm der Geruch des Meeres an.

»Was hat sie gesagt?«, fragte ich und richtete mich im Bett auf.

»Sie hat unseren Verdacht bestätigt.«

Am zehnten Tag der Pest marschierten wir mit den Myrmidonen über den Strand zur Agora hin. Achill bestieg das Podest und rief durch den Trichter seiner Hände, damit seine Stimme weit über das Lager trug. Das fauchende Feuer, die schluchzenden Frauen und das Ächzen der Sterbenden übertönend, rief er alle herbei.

Langsam und ängstlich näherten sich Männer von allen Seiten. Sie waren bleich und wirkten gehetzt, voller Angst vor den Pestpfeilen, die in die Brust sanken wie ein Stein ins Wasser. Achill war in voller Rüstung und hatte sein Schwert umgelegt. Seine Haare glänzten wie feuchte helle Bronze. Dass ein anderer als der oberste Heeresführer eine Versammlung einberief, war zwar nicht verboten, in unseren zehn Jahren vor Troja dennoch nie geschehen.

Agamemnon bahnte sich mit seinen Leibwachen einen Weg durch die Menge und bestieg das Podest. »Was hat das zu bedeuten?«, blaffte er.

Achill grüßte ihn höflich. »Ich habe die Männer kommen lassen, um mit ihnen über die Seuche zu reden. Gestattest du, dass ich das Wort an sie richte?«

Agamemnon hatte die Schultern eingezogen. Er war wütend und gleichzeitig beschämt, hätte er sich in dieser Sache doch schon längst selbst an das Heer wenden müssen. Dass Achill ihm zuvorkam, konnte er ihm nun nicht zum Vorwurf machen, schon gar nicht vor den Augen und Ohren der anderen. Der Unterschied zwischen beiden hätte nicht auffälliger sein können: Achill war entspannt und beherrscht; seine strahlende Erscheinung machte das Elend ringsum vergessen. Dem Mykener dagegen stand die Not ins Gesicht geschrieben.

Achill wartete, bis alle versammelt waren, Könige wie einfache Fußsoldaten. Er trat vor und lächelte. »Könige«, sagte er, »Fürsten, Männer Griechenlands, wie können wir Krieg führen, solange diese Seuche grassiert? Es wird höchste Zeit, dass wir erfahren, womit wir den Zorn eines Gottes auf uns gezogen haben.«

Die Männer tuschelten aufgeregt miteinander. Auch sie hatten die Götter in Verdacht. Kam nicht alles von ihnen, Gutes wie Böses? Achill so offen darüber reden zu hören, erleichterte sie. Seine Mutter war eine Göttin; er musste es wissen.

Agamemnon bleckte die Zähne. Er rückte so dicht an Achill heran, dass es schien, als wollte er ihn vom Podest drängen. Achill achtete nicht auf ihn. »Wir haben einen Priester unter uns, einen Mann, der den Göttern nahesteht. Ich schlage vor, wir hören ihn an.«

Aus zahllosen Kehlen tönte hoffnungsfrohe Zustimmung. Ich hörte aber auch Metall knirschen und sah, wie Agamemnon nervös die Hände rang, die in gepanzerten Handschuhen steckten.

Achill wandte sich ihm zu. »Das war doch auch deine Empfehlung, Agamemnon, nicht wahr?«

Agamemnon kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen. Er misstraute großzügigen Gesten; er misstraute allem und jedem und wähnte sich auch jetzt von Achill in eine Falle gelockt. Nach langem Zögern sagte er schließlich: »Ja, so ist es.« Und mit schroffem Wink an seine Wachen: »Holt Kalchas!«

Wenig später schleppten sie den Priester herbei. Er war hässlicher denn je mit seinem schütteren Bart und den strähnigen Haaren, die vor Schmutz und Schweiß starrten. Wie immer fuhr er hastig mit der Zunge über die gesprungenen Lippen, bevor er zu sprechen anhob.

»Hoher König, Prinz Achill, ihr seht mich völlig unvorbereitet. Ich hätte nicht gedacht –« Seine seltsam blauen Augen huschten zwischen beiden Männern hin und her. »Nun, ich habe nicht damit gerechnet, dass man mich aufruft, hier vor so vielen Männern zu sprechen.« Seine Stimme gebärdete sich wie ein Wiesel auf der Flucht.

»Sprich«, befahl Agamemnon.

Kalchas schien in großer Verlegenheit zu sein. Immer wieder leckte er sich die Lippen.

Achill half ihm auf die Sprünge. »Hast du die Opferriten befolgt? Hast du gebetet?«

»Ich … Ja, natürlich habe ich das. Aber –« Seine Stimme bebte. »Ich fürchte, was ich zu sagen habe, könnte jemanden verärgern. Einen, der mächtig ist und Beleidigungen nicht so schnell vergisst.«

Achill legte dem schmächtigen Priester eine Hand auf die Schulter und hielt, als der zurückzuckte, behutsam an ihm fest. »Kalchas, wir sterben. Solche Befürchtungen sind jetzt nicht angebracht. Welcher dieser Männer hier würde das, was du sagst, gegen dich verwenden? Ich täte es nicht, selbst wenn du mich als Ursache der Plage nennen würdest. Was ist mit euch?«, fragte er und schaute in die Runde. Alle schüttelten den Kopf.

»Siehst du? Keiner, der bei Verstand ist, würde einem Priester Leid zufügen.«

Agamemnon stand stocksteif hinter den beiden, allein, was ich ungewöhnlich fand. Meist waren sein Bruder, Odysseus oder Diomedes in seiner Nähe. Doch die hatten sich unter die anderen Prinzen vor dem Podest gemischt und hielten Abstand.

Kalchas räusperte sich. »Die Auguren geben zu verstehen, dass Apoll erzürnt ist.« Apoll. Ehrfürchtiges Schweigen machte sich breit.

Kalchas warf einen flüchtigen Blick auf Agamemnon und wandte sich dann wieder an Achill. Er schluckte. »Es scheint, Apoll hat Anstoß genommen, daran, wie sein ergebener Diener Chryses von uns behandelt wurde.«

Agamemnon erstarrte. Sein finsterer Blick war auf den Priester geheftet.

»Er lässt sich nur dann besänftigen«, fuhr Kalchas stammelnd fort, »wenn wir Chryseis freigeben. Außerdem müsste Agamemnon Abbitte leisten und Opfer darbringen.« Der letzte Satz war kaum zu hören, und es schien, als sei dem Priester die Luft ausgegangen.

Auf Agamemnons Gesicht zeigten sich dunkelrote Flecken. Offenbar war er der Einzige, der nicht längst ahnte, dass er selbst die Schuld an der Seuche trug. Es war plötzlich so still, dass man den Sand unter unseren Füßen knirschen hörte.

»Vielen Dank, Kalchas«, presste der König hervor und brach mit seiner Stimme das Schweigen. »Danke dafür, dass du immer gute Nachricht bringst. Das letzte Mal war es meine Tochter. Töte sie, hast du gesagt, denn es gelte, den Zorn der Göttin abzuwenden. Und jetzt willst du mich vor meinem Heer demütigen.«

Er wirbelte auf dem Absatz herum und wandte sich an seine Männer. Sein Gesicht war wutverzerrt. »Bin ich nicht euer Anführer? Und sorge ich nicht dafür, dass ihr zu essen habt, gekleidet seid und geehrt werdet? Und stellt ihr, Männer aus Mykene, nicht das größte aller Heere? Das Mädchen gehört mir; sie ist mein Preis, und ich werde sie nicht herausgeben. Habt ihr vergessen, wer ich bin?«

Er legte eine Pause ein, wohl in der Hoffnung, dass ihm seine Männer zustimmen würden. Aber da war niemand, der sich für ihn aussprach. Und wieder bleckte er die Zähne.

»König Agamemnon.« Achill trat auf ihn zu. Seine Stimme klang fast heiter. »Ich bin mir sicher, niemand hat vergessen, dass du der Anführer deines Heeres bist. Du aber scheinst vergessen zu haben, dass auch wir Könige oder Prinzen oder Familienoberhäupter sind. Wir sind Verbündete, keine Sklaven.« Etliche Männer nickten, die anderen taten es nur deshalb nicht, weil sie sich nicht trauten.

»Männer sterben zuhauf, und du willst an einem Mädchen festhalten, das längst ausgelöst hätte werden müssen. Über die Seuche, die du heraufbeschworen hast, verlierst du kein Wort.«

Agamemnon schnaubte. Sein Gesicht war inzwischen purpurrot. Wie zur Abwehr hob Achill die Hand.

»Ich will deine Würde nicht verletzen. Aber die Pest muss ein Ende haben. Gib das Mädchen seinem Vater zurück. Damit ist es getan.«

Agamemnon schien vor Wut zu platzen. »Ich durchschaue dich, Achill. Weil du der Sohn einer Meeresnymphe bist, glaubst du, das Recht zu haben, dich über mich zu erheben. Du hast noch nicht verstanden, welchen Platz du unter den Menschen einnimmst.«

Achill wollte etwas sagen.

»Schweig still!«, herrschte Agamemnon ihn an. »Ein Wort noch, und du wirst es bereuen.«

»Bereuen?« Achill rührte keine Miene. Er sprach leise, aber gut vernehmlich. »Hoher König, ich glaube nicht, dass du mir drohen kannst.«

»Willst du etwa mir drohen?«, brüllte Agamemnon. Und an seine Männer gewandt: »Habt ihr ihn nicht auch drohen gehört?«

»Ich drohe nicht. Aber was, so frage ich, wären deine Streitkräfte ohne mich?«

Agamemnons Gesicht war von Boshaftigkeit entstellt. »Du hast dir schon immer allzu viel eingebildet«, blaffte er. »Wir hätten dich da zurücklassen sollen, wo wir dich gefunden haben, versteckt hinter den Röcken deiner Mutter. Du selbst in einem Rock.«

Die Männer horchten verdutzt auf und tuschelten untereinander.

Achill ballte die Fäuste. Er hatte offenbar Mühe, Fassung zu bewahren. »Du willst von dir ablenken. Wie lange hättest du dem Sterben untätig zugesehen, wenn nicht diese Versammlung einberufen worden wäre? Antworte!«

Agamemnon fiel ihm brüllend ins Wort. »Als all die tapferen Männer nach Aulis kamen, haben sie mir auf Knien Treue geschworen. Alle, nur du nicht. Ich finde, wir haben deine Überheblichkeit lange genug ertragen müssen. Es ist Zeit – höchste Zeit«, äffte er Achill nach, »dass auch du mir Treue schwörst.«

»Ich muss dir keine Treue schwören. Keinem von euch.« Achills Stimme klang kühl. Er hatte sein Kinn erhoben. »Ich bin aus freien Stücken hier, und darüber kannst du froh sein. Nicht ich bin es, der niederknien sollte.«

Damit war er zu weit gegangen. Ich spürte die Stimmung der Männer schwanken. Agamemnon witterte seine Chance. »Hört ihr, wie stolz er ist?« Und an Achill gewandt: »Du wirst nicht niederknien?«

Mit steinerner Miene antwortete Achill: »Nein, das werde ich nicht.«

»Dann bist du ein Verräter und wirst wie ein solcher bestraft. Deine Kriegsbeute geht an mich und bleibt bei mir, bis du dich mir unterwirfst und Gehorsam leistest. Fangen wir mit diesem Mädchen an. Wie war noch gleich ihr Name? Brisëis? Sie wird für das Mädchen büßen, das du mich zurückzugeben zwingst.«

Mir gefror das Blut in den Adern.

»Brisëis gehört mir«, sagte Achill und betonte jedes einzelne Wort. »Sie wurde mir gegeben von allen Griechen. Du kannst sie nicht nehmen. Wenn du es versuchst, hast du dein Leben verwirkt. Überlege dir gut, was du tust, König, bevor du dir selbst schadest.«

Agamemnon zögerte nicht lange. Er konnte vor der Menge nicht klein beigeben. Niemals.

»Ich fürchte dich nicht.« Er wandte sich an seine Mykener. »Bringt mir das Mädchen!«

Entsetzen spiegelte sich auf den Gesichtern der Fürsten. Brisëis war Kriegsbeute und Verkörperung der Ehre Achills. Indem er sie nahm, verweigerte Agamemnon dem tapfersten Kämpfer die gebührende Anerkennung. Ein Raunen ging durch die Menge, und ich hoffte, jemand würde Einspruch einlegen. Doch niemand sagte etwas.

Weil er ihm den Rücken zugekehrt hatte, sah Agamemnon nicht, dass Achill zum Schwert griff. Mir stockte der Atem. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass er imstande war, Agamemnon mit einem Hieb niederzustrecken, und man sah seiner Miene an, wie sehr er mit sich rang. Ich weiß nicht, was ihn letztlich zurückhielt. Vielleicht glaubte er, der König habe eine schwerere Strafe verdient als einen schnellen Tod.

»Agamemnon«, sagte er. Die Härte in seiner Stimme ließ mich zusammenzucken. Der König drehte sich um und schnappte erschrocken nach Luft, als Achill ihm den ausgestreckten Zeigefinger auf die Brust setzte. »Was du hier und heute gesagt hast, kostet dich und deine Männer das Leben. Ich weigere mich hinfort, für dich zu kämpfen. Hektor mag dein Heer zermalmen. Ich werde dabeistehen und lachen. Und wenn du zu mir kommst und um Gnade winselst, werde ich dich zurückweisen. Sie werden alle sterben, Agamemnon, und dafür trägst du die Verantwortung.«

Er spuckte vor Agamemnon aus und stürmte vom Podest. Schwindelnd versuchte ich, ihm zu folgen, und spürte, wie sich die Myrmidonen hinter mir in Bewegung setzten, Hunderte von Männern, die sich einen Weg durch die Menge bahnten und auf ihre Zelte zuströmten.

Mit kraftvollen Schritten eilte er über den Strand. Seine Wut war entflammt und brannte wie ein Feuer unter seiner Haut. Er stand so sehr unter Anspannung, dass ich es nicht wagte, ihn zu berühren, aus Angst, es könnte ihn wie eine Bogensehne zerreißen. Kein einziges Mal schaute er zurück, blieb auch nicht stehen, als das Lager erreicht war, sondern schleuderte den Einstieg unseres Zelts beiseite und verschwand darin.

So hatte ich ihn noch nie gesehen. Sein Mund war grässlich verzerrt, die Augen funkelten wild. »Ich werde ihn töten«, zischte er, griff nach einem Speer und brach ihn entzwei, dass es krachte und Holzsplitter stoben.

»Ich hätte ihn bereits eben niederstrecken sollen«, sagte er. »Was untersteht er sich?« Er trat gegen einen Krug, der darauf in tausend Stücke zersprang. »Diese Feiglinge! Ist dir aufgefallen, wie sie gebibbert haben und kein Wort zu sagen wagten? Es wäre besser, er würde deren Kriegsbeute beschlagnahmen und sich daran übernehmen.«

»Achill?«, meldete sich eine zaghafte Stimme vor dem Zelt.

»Komm herein«, knurrte er.

Automedon war außer Atem und stammelte: »Ich will nicht stören. Aber Phoinix bat mich zu bleiben, um zu berichten, was sich zugetragen hat.«

»Ich höre«, sagte Achill gereizt.

Automedon zuckte zusammen. »Agamemnon fragte, warum Hektor noch lebt, und meinte, dass er dich nicht braucht. Das du womöglich gar nicht das bist, wofür du dich ausgibst.« Ein zweiter Speer zerbarst unter Achills Händen. Automedon schluckte. »Sie sind auf dem Weg hierher, um Brisëis zu holen.«

Ich stand hinter Achill und konnte sein Gesicht nicht sehen. »Lass uns allein«, sagte er zu seinem Wagenlenker. Automedon zog sich zurück.

Sie kamen, um Brisëis zu holen. Ich ballte meine Fäuste, fühlte mich stark und unerschütterlich. »Wir müssen etwas unternehmen«, sagte ich. »Wir könnten sie verstecken, im Wald oder –«

»Er wird bezahlen, jetzt«, entgegnete Achill, wild triumphierend. »Soll er kommen. Er weiht sich dem Untergang.«

»Was hast du vor?«

»Ich muss mit meiner Mutter sprechen.« Er schickte sich an, das Zelt zu verlassen.

Ich ergriff seinen Arm. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Bevor du zurück bist, werden sie sie geholt haben. Wir müssen jetzt etwas tun.«

Er drehte sich um. Seine Augen machten mir Angst. Die Pupillen waren riesig und dunkel und schienen ins Unendliche gerichtet zu sein. »Wovon redest du?«

Ich starrte ihn an. »Von Brisëis.«

Er erwiderte meinen Blick, ließ aber keinerlei Regung erkennen. »Ich kann nichts für sie tun«, sagte er schließlich. »Wenn sich Agamemnon entschieden hat, muss er die Konsequenzen tragen.«

Mir war, als würde ich, von Steinen beschwert, auf den Meeresgrund sinken.

»Du wirst doch nicht zulassen, dass man sie fortschleppt?«

Er wandte sich von mir ab. »Er will es nicht anders. Ich habe ihm die Folgen vor Augen geführt.«

»Du weißt, was er ihr antun wird.«

»Er will es nicht anders«, wiederholte er. »Soll er mich doch entehren und bestrafen.« Aus seinen Augen glomm ein inneres Feuer.

»Du wirst ihr nicht helfen?«

»Ich kann nichts für sie tun«, antwortete er in einem Tonfall, der keinen Einwand zuließ.

Mir war zumute, als hätte ich zu viel Wein getrunken. Vor meinen Augen drehte sich alles, und die Zunge klebte mir am Gaumen. Ich war noch nie wütend auf ihn gewesen; ich wusste einfach nicht, wie.

»Sie ist eine von uns. Du kannst doch nicht geschehen lassen, dass er sie mitnimmt und missbraucht. Wie verträgt sich das mit deiner Ehre?«

Doch plötzlich verstand ich. Mir wurde schlecht. Ich hastete nach draußen.

»Wohin gehst du?«, fragte er.

»Ich muss sie warnen«, ächzte ich. »Sie hat ein Recht darauf zu erfahren, wie du dich entschieden hast.«

Ihr Zelt steht ein wenig abseits. Es ist klein und mit dunklen Tierhäuten bespannt. »Brisëis«, höre ich mich rufen.

»Tritt ein!« Ihre Stimme klingt herzlich und erfreut. Wir haben vor lauter Arbeit schon lange keine Gelegenheit mehr gehabt, ein persönliches Wort miteinander zu wechseln.

Sie sitzt auf einem Schemel, hält einen Mörser auf dem Schoß und den Stößel in der Hand. In der Luft hängt der Duft von Muskat. Sie lächelt.

Ich fühle mich leer und ausgelaugt. Wie soll ich ihr beibringen, was ich weiß?

»Ich –« Sie sieht mein Gesicht, und ihr Lächeln gefriert. Schnell ist sie auf den Beinen und kommt auf mich zu.

»Was ist?« Mit ihrem Handgelenk fühlt sie meine Stirn. »Bist du krank? Geht es Achill gut?« Ich schäme mich zutiefst. Aber Selbstmitleid ist jetzt fehl am Platz. Sie kommen.

»Es ist etwas passiert«, sage ich mit schwerer Zunge. »Achill hat heute zu den Männern gesprochen und sie darüber aufgeklärt, dass Apoll die Seuche über uns gebracht hat.«

»Wie wir es bereits geahnt haben.« Sie nickt, nimmt meine Hände und versucht, mich zu trösten. Ich muss mich zwingen, fortzufahren.

»Aber Agamemnon wollte nichts davon hören. Er und Achill haben miteinander gestritten. Agamemnon will ihn bestrafen.«

»Ihn bestrafen? Wie?«

Es scheint, als würde sie mir die Antwort vom Gesicht ablesen. Sie erstarrt. »Sprich!«

»Er hat Männer losgeschickt. Um dich zu holen.«

Ich sehe, wie sie in Panik gerät, obwohl sie sich zu beherrschen versucht. Ihre Finger umklammern meine Hand. »Was passiert jetzt?«

Ich wähne mich in einen Alptraum versetzt und hoffe, gleich aufzuwachen und erleichtert aufzuatmen. Doch es geschieht nicht, es ist die Realität: Er wird ihr nicht helfen.

»Er –« Es verschlägt mir die Sprache.

Mehr zu sagen ist nicht nötig. Sie krallt die rechte Hand in ihr Gewand, das nach der schweren Arbeit abgenutzt und verschlissen ist. Stammelnd versuche ich, sie zu trösten, indem ich verspreche, dass wir sie zurückholen und alles gut werden wird. Doch das sind Lügen. Wir beide wissen, was Agamemnon mit ihr vorhat. Auch Achill weiß es und lässt es dennoch geschehen.

Ich wünsche mir Erdbeben, Vulkanausbrüche und Sintfluten herbei. Nur sie können sich mit meiner Wut und Trauer messen. Ich will, dass die Welt in Scherben zerbricht.

Draußen schmettern Hörner. Brisëis wischt sich die Tränen von der Wange. »Geh«, flüstert sie. »Bitte.«

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