Zwölftes Kapitel

Vom Morgenlicht geweckt, schlug ich die Augen auf. Mir war kalt, denn meine Schulter lag bloß und war dem Luftzug ausgesetzt, der vom Meer durchs Fenster strömte. Der Platz neben mir im Bett war leer, aber noch warm war die Stelle, wo er gelegen hatte.

Ich hatte schon so oft, jedes Mal dann, wenn er seine Mutter besucht hatte, allein in dieser Kammer gelegen, so dass ich nichts Besonderes daran fand. Meine Augen fielen wieder zu und ich dämmerte träumend vor mich hin, bis die Sonne durchs Fenster schien. Die Vögel zwitscherten, und im Palast schien alles auf den Beinen zu sein. Vom Strand und dem Exerzierplatz schallten Stimmen. Ich richtete mich auf. Achills Sandalen lagen neben dem Bett, die Sohlen nach oben. Auch das war nicht ungewöhnlich. Er lief häufig barfuß.

Wahrscheinlich frühstückte er schon und wollte mich noch eine Weile schlafen lassen, dachte ich. Am liebsten wäre ich bis zu seiner Rückkehr in der Kammer geblieben, was aber als Feigheit hätte ausgelegt werden können. Ich hatte inzwischen ein Recht darauf, an seiner Seite zu sein, und würde mich vor niemandem verstecken und mich nicht vertreiben lassen. Ich zog meinen Hemdrock über und verließ die Kammer, um nach ihm zu suchen.

Im großen Speisesaal war er nicht. Dort räumten die Sklaven gerade das Geschirr von den Tischen. Ebenso wenig war er in der Ratskammer seines Vaters, die, wie ich es kannte, mit bunten Wandteppichen und den Waffen der Könige Phthias geschmückt war. Er war nicht in der Kammer, wo wir früher auf der Leier gespielt hatten. Der Kasten, der unsere Instrumente enthalten hatte, stand unangetastet in einer Ecke.

Ich fand ihn auch draußen nirgends, weder auf den Bäumen, in die wir früher geklettert waren, noch auf dem Felsvorsprung am Meeresufer, wo er immer auf seine Mutter gewartet hatte, oder auf dem Exerzierplatz, wo die jungen Männer mit Holzschwertern zu kämpfen lernten.

Unnötig zu sagen, dass ich außer mir vor Sorge war und nicht mehr klar denken konnte. Ich eilte in die Küche, in den Keller, in die Lagerräume mit ihren Amphoren voller Öl und Wein. Er war nirgends aufzutreiben.

Es war schon Mittag, als ich zu Peleus ging. Ich hatte mit dem alten Mann noch nie allein geredet, und dass ich ihn überhaupt aufsuchte, war meiner großen Unruhe geschuldet. Die Wachen hielten mich auf, als ich seine Kammer betreten wollte. Der König ruhe, sagten sie, er sei allein und wolle nicht gestört werden.

»Ich will nur wissen, ob Achill –« Ich stockte, weil mir bewusst wurde, dass ich Gefahr lief, zu viel Wirbel zu machen und deren Neugier zu wecken. »Ist der Prinz bei ihm?«

»Nein, er ist allein«, wiederholte einer von ihnen.

Als Nächstes eilte ich zu Phoinix, dem alten Berater, der auf Achill aufgepasst hatte, als der noch ein Junge gewesen war. Ich war fast gelähmt vor Angst, als ich sein Gemach betrat, eine bescheidene quadratische Kammer im Zentrum des Palasts. Vor ihm lagen Tontafeln mit den eingeritzten Namen der Männer, die sich am Vorabend zuvor freiwillig zum Kampf um Troja gemeldet hatten.

»Prinz Achill –«, stammelte ich. »Ich kann ihn nirgends finden.«

Er hatte mich nicht kommen hören und blickte überrascht auf. Er hörte schlecht, und seine Augen waren von einem weißen Schleier überzogen.

»Peleus hat es dir also nicht gesagt.« Er sprach leise.

»Nein.« Meine Zunge lag mir wie ein Stein im Mund, so groß, dass ich kaum sprechen konnte.

»Tut mir leid«, sagte er freundlich. »Er ist bei seiner Mutter. Sie hat ihn vergangene Nacht geholt, als er schlief. Die beiden sind weg, und keiner weiß, wohin.«

Später sah ich die roten Flecken, wo sich meine Fingernägel in die Handflächen gebohrt hatten. Keiner weiß, wohin. Auf den Olymp vielleicht, wohin ich nicht folgen konnte. Nach Afrika oder Indien. In irgendein Dorf, wo man sie nicht vermutete.

Phoinix geleitete mich zurück in meine Kammer. Mir schwirrte den Kopf voll verzweifelter Gedanken. Ich nahm mir vor, zu Cheiron zurückzukehren und ihn um Rat zu bitten, war entschlossen, das ganze Land zu durchstreifen und seinen Namen zu rufen. Wahrscheinlich hatte sie ihn betäubt oder überlistet. Er wäre nie freiwillig mit ihr gegangen.

Allein in unserer leeren Kammer stellte ich mir vor, wie sich die Göttin, kalt und weiß im silbrigen Mondschein, über unsere schlafenden Körper gebeugt, ihn aus dem Bett gehoben und auf der Schulter weggetragen hatte wie ein Soldat eine Leiche. Sie war stark und würde wahrscheinlich nur eine Hand gebraucht haben, um ihn festzuhalten.

Warum sie ihn geholt hatte, war nicht schwer zu erraten. Sie hatte uns trennen wollen und die erste Gelegenheit nach unserer Rückkehr aus den Bergen ergriffen. Ich ärgerte mich, wie töricht wir gewesen waren. Dass sie es versuchen würde, war schließlich abzusehen gewesen. Wie hatte ich glauben können, wir wären immer noch von Cheiron geschützt und vor ihr in Sicherheit?

Sie würde Achill in ihre Meeresgrotte führen und ihm beibringen, die Sterblichen zu verachten. Sie würde ihn mit Götterspeisen nähren und das Menschenblut aus seinen Adern waschen. Sie würde eine Gestalt aus ihm machen, die man auf Vasen malte und in Liedern verherrlichte als Held von Troja. Ich stellte mir ihn vor in schwarzer Rüstung mit bronzenen Beinschienen und dunklem Helm, der nur noch seine Augen durchscheinen ließ, mit einem Speer in jeder Hand; er würde mich ansehen und mich nicht erkennen.

Mir war, als faltete sich die Zeit zusammen und schlösse mich in ihre Falten ein. Vor dem Fenster durchlief der Mond seine Phasen und wurde wieder voll. Ich schlief wenig und aß noch weniger. Der Kummer fesselte mich ans Bett. Was mich schließlich doch wieder aufrichtete, war allein meine Erinnerung an Cheiron. Gib das, was dir lieb ist, nicht so einfach auf.

Ich ging zu Peleus und kniete auf einem purpurnen Webteppich vor ihm nieder. Er wollte etwas sagen, doch ich kam ihm zuvor, legte ihm eine Hand aufs Knie und ergriff mit der anderen sein Kinn zum Zeichen flehentlicher Bitte. Ich hatte diese Geste schon oft beobachtet, selbst aber noch nie zum Ausdruck gebracht. Ich stand unter seinem Schutz, und er war nach göttlichem Gesetz verpflichtet, mich gnädig zu behandeln.

»Wo ist er?«, fragte ich.

Er rührte sich nicht. Ich hatte nicht geahnt, wie intim ein solch demütiges Bittgesuch war und wie nahe wir uns dabei sein würden. Ich lag mit meiner Wange an seiner Brust und hörte sein Herz schlagen. Die Haut seiner Beine war weich und altersdünn.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er. Seine Stimme hallte durch die Kammer und ließ die Wachen aufmerken. Ich spürte ihre argwöhnischen Blicke im Rücken. Den König suchten nur selten Bittsteller auf, denn er war ein so gütiger Herrscher, dass von seinen Untertanen kaum jemand zu einem so verzweifelten Schritt gezwungen war.

Ich zog an seinem Kinn, so dass er mir ins Gesicht schauen musste. Er ließ es sich gefallen.

»Ich glaube dir nicht«, sagte ich.

Es blieb eine Weile still.

»Lasst uns allein«, sagte er. Die Worte waren an die Wachen gerichtet. Sie gehorchten nach kurzem Zögern und gingen.

Er beugte sich an mein Ohr.

»Skyros«, flüsterte er.

Ein Ort, eine Insel. Achill.

Als ich aufstand, schmerzten mir die Knie, als hätte ich sehr lange vor ihm gekniet, was vielleicht auch der Fall war. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich in der Königshalle von Phthia zugebracht hatte. Wir standen nun auf Augenhöhe einander gegenüber, doch er wich meinem Blick aus. Er hatte mir geantwortet, weil er ein frommer Mann war und die Götter verlangten, dass er mir als demütigem Bittsteller meinen Wunsch erfüllte. Sonst hätte er es wahrscheinlich nicht getan. In der Luft zwischen uns hing eine dumpfe Schwere, so etwas wie Gram.

»Ich brauche Geld«, sagte ich, ohne zu wissen, woher diese Worte kamen. So hatte ich noch nie gesprochen, niemandem gegenüber. Es war wohl der Mut der Verzweiflung, der mich so kühn werden ließ. Ich hatte nichts zu verlieren.

»Sprich mit Phoinix. Er wird dir welches geben.«

Ich deutete nur ein Kopfnicken an, dabei wäre es wohl angemessener gewesen, wenn ich ihm auf Knien gedankt und meine Stirn auf den kostbaren Teppich gedrückt hätte. Peleus starrte durchs geöffnete Fenster nach draußen. Das Meer lag hinter einem Flügel des Palasts verborgen, doch wir konnten es beide hören, das ferne Schlürfen von Wasser auf Sand.

»Du kannst jetzt gehen«, sagte er. Es schien, als wollte er Missmut zum Ausdruck bringen, jedoch klang er einfach nur müde.

Ich nickte wieder und ging.

Phoinix gab mir so viel Gold, dass ich damit zweimal nach Skyros und zurück hätte reisen können. Der Schiffsführer staunte nicht schlecht, als ich ihn bezahlte. Er wog das Gold in der Hand und schien sich bereits auszumalen, was er dafür alles würde kaufen können.

»Nimmst du mich mit?«

Mein Drängen machte ihn skeptisch. Wer es so eilig hatte davonzukommen, war verdächtig als jemand, der womöglich einer Bestrafung zu entgehen versuchte. Aber das Gold bewog ihn schließlich, zuzustimmen. Er knurrte ungehalten und ließ mich an Bord.

Es war meine erste Reise auf hoher See. Ich wunderte mich, wie langsam sie vonstattenging. Das schwerfällige Handelsschiff segelte von einer Insel zur anderen und brachte den isolierten Königreichen Vliese, Öl und Möbel vom Festland. Allabendlich steuerten wir einen anderen Hafen an, um Waren zu löschen und unsere Trinkwasserbehälter aufzufüllen. Tagsüber stand ich an Deck des Vorschiffs, schaute auf die Bugwellen, die am geteerten Rumpf entlangglitten, und wartete darauf, dass am Horizont Land in Sicht kam. Unter anderen Umständen wäre ich von alldem begeistert gewesen: dem Schiff mit seinen Aufbauten und Segeln, der Farbe des Wassers und den frischen Winden. Doch davon nahm ich kaum etwas zur Kenntnis. Ich dachte nur an das kleine Eiland irgendwo da draußen und an den Freund, den ich darauf anzutreffen hoffte.


Die Anlegestelle von Skyros lag auf der Südseite der Insel, in einer Bucht, die so klein war, dass ich sie erst als solche erkannte, als wir sie schon fast erreicht hatten. Vorsichtig schob sich das Schiff durch die enge Einfahrt. Die Seemänner standen an der Reling und hielten die Luft an, als der Rumpf an den felsigen Ausläufern vorbeistrich. In der Bucht selbst war das Wasser spiegelglatt, und die Männer mussten sich in die Riemen legen, um die Anlegestelle zu erreichen, ein schwieriges Manöver, so dass ich mich fragte, wie der Kapitän sein Schiff jemals wieder hinaus aufs Meer würde steuern können.

»Du bist am Ziel«, sagte er mürrisch. Ich war bereits auf dem Weg zur Landungsbrücke.

Vor mir ragte eine steile Felswand auf, durch die ein stufiger Pfad hinauf zur Burg führte. Ich machte mich auf den Weg bergan und erreichte eine Anhöhe, auf der zwischen kümmerlichen Bäumen ein paar Ziegen weideten. Die Burg war ein schlichter, unansehnlicher Bau aus Holzbalken und Feldsteinen. Wäre es nicht das einzige Haus weit und breit gewesen, hätte ich kaum für möglich gehalten, dass dort ein König wohnte. Ich ging zur Tür und trat ein.

Die Halle war eng und düster und es roch nach Küchenresten. Am anderen Ende standen zwei verwaiste Thronstühle. An einem Tisch hockten mehrere Wachen, die sich die Zeit mit Würfeln vertrieben. Sie blickten auf.

»Was willst du?«, fragte einer.

»Ich bin gekommen, um König Lykomedes zu sprechen«, antwortete ich und hob das Kinn, um ihnen weiszumachen, dass sie es mit einer bedeutenden Person zu tun hatten. Ich trug den besten Rock, den ich hatte finden können – einen von Achill.

»Ich gehe«, sagte einer zu den anderen. Er ließ die Würfel scheppernd fallen und schlurfte davon. Peleus hätte ein so liederliches Verhalten nicht zugelassen; er behandelte seine Männer gut und erwartete Gleiches im Gegenzug. Die Wachen hier in der Halle machten einen heruntergekommenen, armseligen Eindruck.

Der Mann kehrte zurück. »Komm«, sagte er. Ich folgte ihm mit klopfendem Herzen, bereit, die Worte vorzutragen, die ich mir längst zurechtgelegt hatte.

»Hier herein.« Er deutete auf eine geöffnete Tür und machte kehrt, um mit seinen Kumpanen wieder zu würfeln.

Ich trat über die Schwelle. Vor einem heruntergebrannten Feuer saß eine junge Frau.

»Ich bin Prinzessin Deidameia«, erklärte sie mit heller, kindlicher Stimme, die erschreckend laut durch den Raum hallte. Sie hatte eine kleine spitze Nase und ein scharf geschnittenes Gesicht, das mich an einen Fuchs erinnerte. Dass sie hübsch war, schien sie zu wissen.

Ich besann mich auf meine höfischen Manieren und verbeugte mich. »Ich bin ein Fremder, gekommen, um deinen Vater um eine Gefälligkeit zu bitten.«

»Worum handelt es sich?« Sie lächelte und neigte den Kopf ein wenig. Sie war überraschend zierlich. Wenn sie aufgestanden wäre, hätte sie mir wahrscheinlich nur bis zu den Schultern gereicht. »Mein Vater ist alt und krank. Du kannst deine Bitte auch mir vortragen. Ich werde darüber befinden.« Sie nahm eine herrschaftliche Pose an und achtete darauf, das Licht des Fensters im Rücken zu haben.

»Ich suche einen Freund.«

»Aha.« Sie zog eine Braue in die Stirn. »Und wer ist dein Freund?«

»Ein junger Mann«, antwortete ich vorsichtig.

»Verstehe. Wir hätten da ein paar zur Auswahl«, erwiderte sie in spöttisch heiterem Ton. Ihre dunklen Haare fielen in dichten Locken bis auf den Rücken herab. Sie schüttelte den Kopf ein wenig, um es schwingen zu lassen, und lächelte wieder. »Wäre es nicht angebracht, du sagtest mir erst einmal, wie du heißt?«

»Cheironides«, sagte ich. Sohn des Cheiron.

Sie rümpfte die Nase über den seltsamen Namen.

»Cheironides. Und?«

»Ich suche einen Freund. Er stammt aus Phthia und ist vermutlich vor rund einem Monat hier eingetroffen.«

In ihren Augen blitzte etwas auf. Oder bildete ich mir das bloß ein? »Und warum suchst du ihn?«, fragte sie nicht mehr ganz so heiter, wie mir schien.

»Ich habe eine Nachricht für ihn.« Ich wünschte, man hätte mich vor den alten, kranken König geführt anstatt zu ihr. Ihr Mienenspiel war überaus lebhaft. Sie verunsicherte mich.

»Hmmm. Eine Nachricht.« Sie schmunzelte verschmitzt und tippte sich mit einer Fingerspitze aufs Kinn. »Eine Nachricht für einen Freund. Und warum sollte ich dir verraten, ob mir dieser junge Mann bekannt ist?«

»Weil du eine gütige Prinzessin bist und ich ein bescheidener Gast.« Ich kniete nieder.

Das schien ihr zu gefallen. »Nun, vielleicht kenne ich ihn, vielleicht aber auch nicht. Ich muss darüber nachdenken. Beim Abendessen lasse ich dich wissen, wie ich mich entschieden habe. Wenn du Glück hast, werde ich sogar für dich tanzen. Mit meinen Frauen.« Sie reckte plötzlich ihren schlanken Hals. »Hast du schon einmal von Deidameias Tänzerinnen gehört?«

»Leider nein.«

Sie schmollte. »Könige schicken ihre Töchter hierher und empfehlen sie unserer Pflege an. Das wissen alle, nur du nicht.«

Ich verbeugte mich reumütig. »Ich habe die vergangenen Jahre in den Bergen zugebracht und von der Welt nicht viel gesehen.«

Sie runzelte die Stirn und winkte dann mit der Hand in Richtung Tür. »Wir sehen uns bei Tisch, Cheironides.«

Den Nachmittag verbrachte ich im staubigen Burghof. Der Königssitz befand sich auf der höchsten Stelle der Insel und bot einen weiten Ausblick, der allerdings nicht gerade schön zu nennen war. Ich versuchte mich an das zu erinnern, was ich über Lykomedes gehört hatte. Er war, wie es hieß, ein freundlicher Mensch, aber ein schwacher König mit beschränkten Mitteln. Die Inselmächte Euböa im Westen und Ionien im Osten trachteten danach, sein Land in Besitz zu nehmen, und es war abzusehen, dass über kurz oder lang ein Krieg ausbrechen würde. Wenn bekannt würde, dass hier eine Frau herrschte, käme es wohl schon sehr bald dazu.

Als die Sonne unterging, kehrte ich in die Halle zurück. Fackeln waren entzündet worden, doch sie schienen die Düsternis nur noch zu verstärken. Deidameia trug einen goldenen Reif im Haar und führte einen alten Mann in den Raum. Er war vornübergebeugt und so dick in Felle gehüllt, dass man den Körper darunter nur erahnen konnte. Sie half ihm auf seinen Thron und winkte einen Diener herbei. Ich stand ein wenig abseits, umgeben von Wachen und Männern, über deren Rolle ich nur Mutmaßungen anstellen konnte. Waren es Berater? Familienangehörige? Sie sahen ebenso vernachlässigt aus wie alle anderen, ausgenommen Deidameia, die mit ihren rosigen Wangen und glänzenden Haaren nicht in dieses triste Bild zu passen schien.

Ein Diener führte uns an unsere Tische. Der König und die Prinzessin blieben auf ihrem Thron auf der anderen Seite des Raumes sitzen. Das Essen wurde aufgetragen. Es war reichlich, doch ich hatte keinen Appetit und schielte immer wieder hinüber zur Prinzessin. Hatte sie mich vergessen? Sollte ich mich ihr in Erinnerung rufen?

Aber dann stand sie plötzlich auf und richtete den Blick auf unseren Tisch. »Fremder vom Pelion«, rief sie, »du wirst nie wieder sagen können, nichts von Deidameias Tänzerinnen gehört zu haben.« Mit ihrer reifgeschmückten Hand winkte sie eine Gruppe von Frauen herbei, zwölf an der Zahl. Sie hatten die Haare verhüllt und mit einem Tuch nach hinten zusammengebunden, tuschelten miteinander und nahmen in der Mitte des Raums Aufstellung, die, wie ich jetzt erkannte, als Tanzboden diente. Ein paar Männer holten Flöten, Trommeln und eine Leier hervor. Deidameia schien nicht darauf zu warten, dass ich antwortete; es kümmerte sie anscheinend nicht, ob ich sie überhaupt gehört hatte. Sie stieg von ihrem Podest herab, trat auf die Frauen zu und wählte eine der größeren von ihnen zur Tanzpartnerin.

Musik setzte ein. Der Tanz bestand aus einer verwirrenden Folge von Schritten, die die jungen Frauen mit Anmut beherrschten. Ich war wider Willen beeindruckt. Die Kleider flogen, der Schmuck an Hand- und Fußgelenken klirrte. Im Kreis wirbelnd, warfen sie wie feurige Pferde die Köpfe in den Nacken.

Deidameia war natürlich die schönste. Mit ihrem goldenen Reif, den offenen Haaren und zierlich winkenden Händen zog sie alle Blicke auf sich. Ihr Gesicht war gerötet vor Vergnügen, und ich hatte den Eindruck, als erstrahlte sie in hellem Licht. Sie lächelte ihrer Partnerin zu, schien ihr fast schöne Augen zu machen. Mal wich sie vor ihr zurück, mal glitt sie ganz nah an sie heran, als wollte sie sich an sie schmiegen. Neugierig geworden, versuchte ich die Frau, mit der sie tanzte, ins Auge zu fassen, doch die anderen versperrten mir den Blick.

Die Musik verstummte, der Tanz war zu Ende. Deidameia ließ die Frauen in einer Reihe Aufstellung nehmen, um Beifall zu empfangen. Ihre Partnerin stand mit gesenktem Haupt neben ihr, deutete wie die anderen einen Knicks an und hob schließlich den Kopf.

Unwillkürlich löste sich ein Laut aus meiner Kehle. Es war so still geworden, dass ihn alle hörten. Die jungen Frauen schauten mich an.

Im Folgenden geschahen mehrere Dinge auf einmal. Achill – es war tatsächlich Achill – ließ Deidameias Hand fallen, sprang freudig auf mich zu und warf sich mir mit solcher Wucht um den Hals, dass ich fast rücklings zu Boden gestürzt wäre. Deidameia schrie »Pyrrha!« und brach in Tränen aus. Lykomedes, der weniger altersschwach war, als es mir seine Tochter weiszumachen versucht hatte, stand auf.

»Pyrrha!«, schrie sie wieder. »Was hat das zu bedeuten?«

Ich hörte kaum hin. Achill und ich lagen uns in den Armen, schwindelnd vor Erleichterung.

»Meine Mutter«, flüsterte er, »sie –«

»Pyrrha!« Diesmal war es Lykomedes, dessen Stimme über das Schluchzen seiner Tochter hinweg durch den Raum schallte. Er rief Achill, wie ich erst jetzt bemerkte. Pyrrha. Feuerschopf.

Achill nahm keine Notiz von ihm. Deidameia klagte umso lauter, worauf der König alle Höflinge, Männer wie Frauen, aufforderte, die Halle zu verlassen. Widerwillig gehorchten sie und schauten im Hinausgehen immer wieder zurück.

Lykomedes kam auf uns zu. Ich sah ihm zum ersten Mal in die Augen, die überraschend scharf blitzten. Seine Haut war gelblich, und der graue Bart hing ihm wie ein schmutziges Vlies vom Gesicht. »Wer ist dieser Mann, Phyrrha?«

»Ein Niemand!«, fuhr Deidameia dazwischen. Sie hatte Achills Arm ergriffen und versuchte, ihn wegzuzerren.

Achill aber blieb ungerührt und antwortete gelassen: »Mein Mann.«

Ich schloss meine Lippen, um nicht auszusehen wie ein nach Luft schnappender Fisch.

»Nein, das kann nicht wahr sein!«, schrie Deidameia und schreckte mit ihrer Stimme die im Gebälk nistenden Vögel auf. Federn schwebten von der Decke herab. Vielleicht hätte sie noch mehr gesagt, sie weinte jedoch so heftig, dass sie nicht mehr sprechen konnte.

Lykomedes wandte sich mir zu, als suchte er Zuflucht im Gespräch von Mann zu Mann. »Ist das wahr?«

Achill drückte meine Hand.

»Ja«, antwortete ich.

»Nein!«, kreischte die Prinzessin.

Achill achtete nicht darauf, dass sie an seinem Arm zerrte, und verneigte sich höflich vor Lykomedes. »Mein Mann ist gekommen, um mich abzuholen. Wir werden deinen Hof nun verlassen. Danke für deine Gastlichkeit.« Achill deutete einen Knicks an. Mir fiel auf, dass er diese Bewegung sehr anmutig vollführte.

Lykomedes hob wie zur Abwehr die Hand. »Wir werden zuerst deine Mutter fragen müssen, ob sie einverstanden ist. Sie hat dich mir anvertraut. Weiß sie, dass du einen Gatten hast?«

»Nein!«, kreischte Deidameia wieder.

»Tochter!« Lykomedes verzog die Miene auf ganz ähnliche Weise wie sie. »Benimm dich und lass endlich Pyrrha los!«

Ihr Gesicht war fleckig und tränennass. Ihre Brust ging keuchend auf und ab. Sie wandte sich an Achill. »Lügner! Du hast mich betrogen. Monstrum! Apathes!« Herzloser.

Lykomedes erstarrte. Achills Finger schlossen sich noch fester um meine Hand. Ihre Wortwahl musste nun auch für den König Pyrrhas wahres Geschlecht enthüllen.

»Was soll das heißen?«, fragte Lykomedes bedrohlich langsam.

Deidameia war plötzlich kreidebleich geworden. Doch trotzig hob sie ihr Kinn, und ihre Stimme zitterte nicht.

»Er ist ein Mann«, sagte sie. Und dann: »Wir sind verheiratet.«

»Was?« Lykomedes griff sich an den Hals.

In mir krampfte sich alles zusammen. Achills Hand war das Einzige, was mir noch Halt gab.

»Tu das nicht«, sagte Achill zu ihr. »Bitte.«

Sie schien noch mehr in Wut zu geraten. »Oh doch!« Und an ihren Vater gerichtet: »Du bist ein Narr. Ich bin die Einzige, die es wusste, von Anfang an.« Sie schlug sich vor die Brust. »Und jetzt werde ich es allen sagen. Achill!« Sie schrie, als wollte sie den Namen durch die steinernen Mauern schleudern, bis hin zu den Göttern. »Achill! Ich sage es allen!«

»Das wirst du nicht tun.« Die Worte waren kalt und messerscharf und durchschnitten die Schreie der Prinzessin mit Leichtigkeit.

Ich kenne diese Stimme. Ich drehte mich um.

Auf der Schwelle stand Thetis. Ihr Gesicht glühte weiß-blau wie eine Flamme über dem Docht einer Kerze und ließ die Augen umso schwärzer erscheinen. Sie war größer, als ich sie je gesehen hatte. Die Haare glänzten wie immer. Sie trug ein wunderschönes Gewand, wirkte aber dennoch so wild, als tobte ein unsichtbarer Sturm um sie herum. Sie sah aus wie eine jener Erinnyen, jener Rachegöttinnen, die die Menschen mit Vergeltung strafen. Ich hatte den Eindruck, als würde sich mir die Kopfhaut vom Schädel lösen, und sogar Deidameia verstummte.

Wir standen da und starrten sie an. Plötzlich hob Achill die Hand und lüftete den Schleier von den Haaren. Dann riss er sein Gewand auf und entblößte seine Brust. Sie schimmerte golden im flackernden Feuerschein.

»Es reicht, Mutter«, sagte er.

Ihre Miene zuckte wie unter Krämpfen. Ich fürchtete schon, sie würde über ihn herfallen. Stattdessen aber fixierte sie ihn nur aus diesen kalten schwarzen Augen.

Achill wandte sich an Lykomedes. »Meine Mutter und ich haben dich getäuscht. Ich bitte dich dafür um Entschuldigung. Ich bin Prinz Achill, Sohn des Peleus. Sie wollte verhindern, dass ich in den Krieg ziehe, und hat mich hier als eine deiner Pflegetöchter versteckt.«

Lykomedes schluckte und schwieg.

»Wir werden jetzt aufbrechen«, erklärte Achill.

Seine Worte rüttelten Deidameia aus ihrer Schockstarre. »Nein«, rief sie mit anschwellender Stimme. »Das kannst du nicht. Wir sind verheiratet. Du bist mein Gemahl. Deine Mutter hat es so verfügt.«

Lykomedes rang keuchend nach Luft. Seine Augen waren allein auf Thetis gerichtet. »Ist das wahr?«, fragte er.

»Es ist wahr«, antwortete die Göttin.

Mein Herz drohte auszusetzen. Achill wollte mir etwas sagen, doch seine Mutter kam ihm zuvor.

»Du bist jetzt an uns gebunden, König Lykomedes. Achill wird weiterhin unter deinem Schutz bleiben, und du verrätst niemandem, wer er ist. Im Gegenzug darf sich deine Tochter dereinst rühmen, meinen Sohn zum Gemahl zu haben.« Ihr Blick wanderte auf einen Punkt über Deidameias Kopf und wieder zurück. »Das ist mehr, als sie erhoffen konnte.«

Lykomedes strich sich über den Hals, als versuchte er die Falten zu glätten. »Mir bleibt keine Wahl«, sagte er, »und das wisst ihr.«

»Und was, wenn ich nicht schweigen werde?« Deidameia war hochrot im Gesicht. »Ihr habt mich ruiniert, du und dein Sohn. Ich habe ihm beigewohnt, wie du es von mir verlangt hast, und jetzt bin ich entehrt. Ich erhebe Anspruch auf ihn, auch vor Gericht.«

Ich habe ihm beigewohnt.


»Du bist ein törichtes Mädchen«, sagte Thetis, und jedes Wort fiel wie ein scharfes Beil. »Armselig und gewöhnlich, im besten Falle nützlich. Du hast meinen Sohn nicht verdient, und wenn du von dir aus keinen Frieden gibst, werde ich dafür sorgen.«

Deidameia wich zurück. Ihre Lippen waren weiß, die Augen weit aufgerissen. Mit zitternder Hand fuhr sie sich an den Bauch und bohrte die Finger ins Gewebe ihres Kleides. Draußen, jenseits der Klippen, war das Donnern einer wütenden Brandung zu hören.

»Ich bin schwanger«, flüsterte die Prinzessin.

Ich blickte Achill an, als sie dies sagte, und sah sein Entsetzen. Lykomedes gab einen Schmerzenslaut von sich.

Meine Brust war wie ausgehöhlt und eierschalendünn. Genug. Ich weiß nicht mehr, ob ich dieses Wort nur gedacht oder auch laut ausgesprochen hatte. Ich ließ Achills Hand los und ging zur Tür. Thetis muss mir wohl den Weg frei gemacht haben; anderenfalls wäre ich in sie hineingelaufen. Ich eilte ins Dunkel hinaus.

»Warte!«, rief Achill. Er brauchte überraschend lange, um zu mir aufzuschließen. Das Kleid behindert ihn, dachte ich. Er packte mich am Arm.

»Lass los«, sagte ich.

»Bitte, warte. Lass mich erklären. Ich wollte nicht, dass es dazu kommt. Meine Mutter –« Er war außer Atem und schnappte nach Luft. Ich hatte ihn noch nie so aufgebracht gesehen.

»Sie hat das Mädchen in meine Kammer geführt. Ich wollte es nicht. Aber meine Mutter sagte – sie sagte –« Er stolperte über seine Worte. »Sie sagte, wenn ich mich auf das Mädchen einließe, würde sie dir verraten, wo ich bin.«

Ich fragte mich, was Deidameia erwartet hatte, als sie ihre Frauen für mich tanzen ließ. Hatte sie tatsächlich geglaubt, ich würde ihn nicht erkennen? Ich hätte ihn auch mit geschlossenen Augen wiedererkannt, an seinem Duft, an seinen Schritten. Selbst im Tod und am Ende der Welt würde ich ihn wiedererkennen.

»Patroklos.« Er umfasste mein Gesicht mit beiden Händen. »Hörst du mir überhaupt zu? Bitte, sag etwas.«

Ich sah die beiden vor mir, eng umschlungen, und konnte nicht aufhören, daran zu denken. Ich erinnerte mich an die langen Tage und Nächte voller Trauer um ihn, an mein verzweifeltes Sehnen.

»Patroklos?«

»Du hast es umsonst getan.«

Meine Stimme schien ihm Angst zu machen. Aber wie hätte sie anders klingen können?

»Was soll das heißen?«

»Nicht deine Mutter hat mir gesagt, wo du bist, sondern Peleus.«

Er wurde bleich und schien auf einmal blutleer. »Sie hat es dir nicht gesagt?«

»Natürlich nicht. Hast du tatsächlich erwartet, sie würde ihr Versprechen halten?«, entgegnete ich schärfer als beabsichtigt.

»Ja«, flüsterte er.

Es gab jede Menge, was ich ihm um die Ohren hätte werfen mögen, zum Beispiel dass er schon immer viel zu leichtgläubig gewesen sei, dass er, begünstigt, wie er war, kaum etwas zu befürchten gehabt habe. Vor unserer Freundschaft hatte ich ihn fast dafür gehasst, und ein Funke der alten Wut flammte wieder in mir auf. Jeder wusste doch, dass Thetis nur eigennützige Zwecke verfolgte. Wie konnte er so töricht und naiv gewesen sein?

All diese Worte lagen mir auf der Zunge, doch sie wollten mir nicht über die Lippen kommen. Seine Wangen waren vor Scham gerötet und seine Augen wirkten müde. Die Vertrauensseligkeit gehörte zu ihm, wie auch seine Hände und Füße Teil von ihm waren. Und trotz meines Schmerzes wollte ich um keinen Preis der Welt, dass er sich veränderte und so zaghaft und furchtsam wäre wie alle anderen.

Er betrachtete mich aufmerksam und las in meinem Gesicht wie die Auguren die göttlichen Zeichen. Die kleine Falte zwischen seinen Brauen zeugte von angestrengter Konzentration.

Etwas geriet in mir in Bewegung wie die gefrorene Wasseroberfläche des Apidanos im Frühling. Mir war aufgefallen, wie er Deidameia anschaute oder, richtiger gesagt, wie er sie nicht anschaute. Ähnlich hatte er auf die Jungen in Phthia reagiert. Mich dagegen hatte er noch nie so teilnahmslos angesehen.

»Verzeih mir«, sagte er wieder. »Ich wollte es nicht. Es hat – mir nicht gefallen.«

Seine Worte linderten auch den Rest meines Kummers, der mich befallen hatte, als Deidameia seinen Namen gerufen hatte. Mir steckte ein Kloß in der Kehle, und ich war den Tränen nahe. »Es gibt nichts zu verzeihen«, sagte ich.

Am Abend kehrten wir zur Burg zurück. Es war dunkel in der großen Halle, in der Feuerstelle glimmten nur noch Reste von Glut. Achill hatte sein Kleid notdürftig zusammengebunden, doch an der Hüfte klaffte immer noch ein Riss. Er hielt das Tuch gerafft für den Fall, dass uns eine der Wachen begegnete.

Plötzlich tönte eine Stimme aus dem Dunkel. Wir erschraken.

»Ihr seid zurückgekehrt.« Das Mondlicht reichte nicht bis zu den Thronen, doch wir konnten die Umrisse einer Gestalt in dicken Fellen erkennen. Die Stimme des Königs klang tiefer, schwerer.

Ich bemerkte, dass Achill mit seiner Antwort ein wenig zögerte. »Ja, das sind wir.« Er hatte nicht damit gerechnet, Lykomedes so bald wiederzusehen.

»Deine Mutter ist gegangen, ich weiß nicht, wohin.« Der Alte legte eine Pause ein, als erwartete er eine Antwort.

Achill sagte nichts.

»Meine Tochter, deine Gemahlin, ist in ihrer Kammer und weint. Sie hofft, dass du zu ihr kommst.«

Ich spürte, wie sehr meinen Freund das schlechte Gewissen quälte, ein Gefühl, das er kaum kannte.

»Es ist bedauerlich, denn sie hofft vergebens«, murmelte er.

»Ja, das ist es«, erwiderte Lykomedes.

Wir standen eine Weile schweigend da. Der Alte atmete schwerfällig. »Ich vermute, du wünschst eine Kammer für deinen Freund.«

»Ja, wenn du nichts dagegen hast«, antwortete Achill vorsichtig.

Lykomedes lachte leise. »Nein, Prinz Achill, ich habe nichts dagegen.« Es wurde wieder still. Ich hörte, wie der König einen Becher hob, trank und ihn zurück auf den Tisch stellte.

»Das Kind muss deinen Namen tragen. Verstehst du das?« Darauf hatte er gewartet, dies zu sagen, unter seinen Fellen im Licht der letzten Feuersglut.

»Ich verstehe«, antwortete Achill ruhig.

»Schwörst du es?«

Der alte König tat mir leid, und ich war froh, dass Achill nach kurzem Zögern sagte: »Ich schwöre.«

»Gute Nacht euch beiden.«

Wir verbeugten uns und gingen.

Achill fand einen Wachposten und forderte ihn auf, uns ins Gästequartier zu führen. Er sprach mit heller, mädchenhafter Stimme. Ich sah, wie der Mann ihn von Kopf bis Fuß musterte und den Riss in seinem Kleid bemerkte. Er grinste breit.

»Komm mit, Fräulein«, sagte er.

In unseren Geschichten heißt es, dass Götter die Macht haben, den Mond in seinem Lauf aufzuhalten und eine Nacht beliebig lang sein zu lassen, wenn sie es wünschen. Es musste eine solcher Nächte gewesen sein, denn sie schien nicht enden zu wollen. Wir holten nach, was wir in den Wochen der Trennung hatten missen müssen, und erst als schon der Morgen graute, erinnerte ich mich wieder an das, was Achill zu Lykomedes gesagt hatte. Es war über Deidameias Schwangerschaft und die Freude über unser Wiedersehen in Vergessenheit geraten.

»Deine Mutter hat dich versteckt, weil sie dir den Krieg ersparen will?«

Er nickte. »Sie will nicht, dass ich nach Troja ziehe.«

»Warum nicht?« Ich hatte immer geglaubt, sie wollte ihn als kämpfenden Helden sehen.

»Ich weiß es nicht. Sie sagt, ich sei zu jung. Noch nicht, sagt sie.«

»Und es war ihre Idee –« Ich deutete auf sein Kleid.

»Natürlich. Freiwillig hätte ich es nicht getragen.« Er verzog das Gesicht und zerrte an den Haaren, die zu Locken gewickelt waren. Er schien sich ein wenig dafür zu schämen, obwohl ihm eigentlich auch solche Gefühle fremd waren. »Sobald das Heer in Marsch gesetzt ist, bin ich wieder frei.«

Ich hatte Mühe, seinen Gedanken zu folgen.

»Es ist also nicht wegen mir? Dass sie dich entführt hat?«

»Ich glaube, wegen dir hat sie die Sache mit Deidameia eingefädelt.« Er starrte auf seine Hände. »Aber alles andere hat mit diesem Krieg zu tun.«

Загрузка...