Einunddreißigstes Kapitel

Achill steht auf einer Anhöhe und beobachtet das Kampfgeschehen. Einzelheiten sind nicht zu erkennen, wohl aber, dass die Griechen den Feind auf der Ebene vor sich hertreiben, zurück zur Stadt, wie von Patroklos vorhergesagt. Bald wird er zurückkehren und Agamemnon auf die Knie fallen müssen. Dann werden sie wieder glücklich sein.

Doch statt Freude macht sich ein dumpfes Gefühl breit. Vor den Toren der Stadt verdichten sich die Krieger zu einem dunklen Knoten. Ein König oder Prinz ist gefallen, und man kämpft um den Leichnam. Wer ist es? Er schirmt mit der Hand das gleißende Sonnenlicht ab, vermag aber nicht mehr zu sehen. Patroklos wird ihm berichten müssen.

Jetzt sind Einzelheiten zu erkennen. Männer kehren über den Strand zum Lager zurück. Odysseus hinkt. Menelaos trägt etwas auf seinen Armen. Ein von Gras grün gefärbter Fuß hängt herab. Unter einem Tuch treten dunkle Locken zum Vorschein. Das Gefühl der Dumpfheit ist gnädig, jedoch nur eine kurze Weile. Dann kann es ihn nicht mehr schützen.

Er will sich in sein Schwert stürzen, doch als er danach zu greifen versucht, erinnert er sich: Er hat mir das Schwert gegeben. Und dann steht Antilochos neben ihm und hält ihn fest. Andere Männer kommen hinzu. Er starrt auf das blutdurchtränkte Hemd, stößt mit lautem Aufschrei Antilochos von sich, entreißt Menelaos den Leichnam und sackt darüber zusammen. Er ist außer sich, hört nicht auf zu schluchzen. Patroklos, schreit er, Patroklos. Immer und immer wieder. Odysseus fällt auf die Knie und reicht ihm einen Trunk. Dass er ihn nicht in blinder Wut erschlägt, verdankt sich allein dem Umstand, dass er nicht von mir ablassen kann. Er drückt mich so fest an sich, dass ich sein Herz schlagen höre, obwohl es nur so schwach ist wie das Flattern einer Motte. Ein Echo, das mich noch an meinen Körper bindet. Eine Qual.

Brisëis eilt mit entsetzter Miene herbei. Sie beugt sich über den Leichnam, verströmt bittere Tränen und schlägt die Hände vors Gesicht. Achill nimmt keine Notiz von ihr. Er scheint sie nicht einmal zu sehen und steht auf.

»Wer hat es getan?« Seine Stimme klingt schrecklich, rau und gebrochen.

»Hektor«, antwortet Menelaos. Achill greift nach seinem großen Speer aus Eschenholz und reißt sich von den Händen los, die ihn halten.

Odysseus packt ihn bei den Schultern. »Morgen«, sagt er. »Er ist jetzt in der Stadt. Morgen. Hör auf mich, Pelides. Morgen kannst du ihn töten. Das verspreche ich dir. Aber jetzt musst du essen und ruhen.«

Achill weint. Er isst nicht, noch spricht er ein Wort. Nur meinen Namen nennt er und wiegt mich in seinen Armen. Ich sehe sein Gesicht wie durch Wasser, wie ein Fisch die Sonne sieht. Tränen tropfen auf mich herab. Ich kann sie nicht wegwischen. Dies nun ist mein Element: das halbe Leben eines unbestatteten Geistes.

Seine Mutter kommt. Wenn sie mich schon zu Lebzeiten verachtet hat, wie schrecklich muss es erst für sie sein, meinen Leichnam in den Armen ihres Sohnes vorzufinden?

»Er ist tot«, sagt sie mit flacher Stimme.

»Hektor ist tot«, entgegnet er. »Morgen.«

»Du hast keine Rüstung.«

»Ich brauche keine.« Es kostet ihn Mühe zu sprechen.

Sie streckt ihre bleichen, kühlen Arme aus, um seine Hände von mir zu lösen. »Er hat es sich selbst zuzuschreiben«, sagt sie.

»Rühr mich nicht an!«

Sie weicht zurück und betrachtet ihn, wie er mich in den Armen wiegt.

»Ich besorge dir Rüstzeug«, sagt sie.

So geht es in einem fort: Der Zelteinstieg öffnet sich und jemand blickt mit vorsichtiger Miene herein. Phoinix, Automedon, Machaon. Schließlich auch Odysseus. »Agamemnon ist gekommen, um dir das Mädchen zurückzugeben.« Dass es längst zurückgekehrt ist, sagt Achill nicht. Vielleicht weiß er es nicht.

Im flackernden Feuerschein schauen beide einander an. Agamemnon räuspert sich. »Es ist Zeit, dass wir unseren Streit begraben, Achill. Ich bringe dir das Mädchen, unversehrt.« Er legt eine Pause ein, als erwarte er Dank. Doch da ist nur Stille. »Wahrlich, ein Gott muss uns um den Verstand gebracht haben, dass wir so zerstritten sind. Aber damit soll es jetzt vorbei sein, und wir wollen wieder Verbündete sein.« Letzteres spricht er so laut, dass es die Männer im Hintergrund hören können. Achill schweigt. In Gedanken steht er bereits Hektor gegenüber, um ihn zu töten. Das hält ihn aufrecht.

Agamemnon zögert. »Prinz Achill, wie ich höre, willst du morgen wieder kämpfen.«

»So ist es.« Seine plötzliche Antwort erschrickt alle.

»Gut so, sehr gut.« Agamemnon lässt einen weiteren Moment verstreichen. »Auch an den Tagen danach?«

»Wenn du es willst«, erwidert Achill. »Es kümmert mich nicht. Ich werde bald tot sein.«

Die Männer im Hintergrund tauschen verwunderte Blicke.

»Nun, das wäre also geregelt.« Agamemnon schickt sich an zu gehen, bleibt aber noch einmal stehen. »Dass Patroklos gefallen ist, tut mir leid. Er hat sich heute tapfer geschlagen. Wusstest du, dass er Sarpedon getötet hat?«

Achill hebt den Kopf. Seine Augen sind blutunterlaufen und leblos. »Ich wünschte, er hätte euch alle sterben lassen.«

Agamemnon ist zu schockiert, um etwas darauf zu entgegnen. Odysseus bricht das Schweigen. »Wir werden dich jetzt mit deiner Trauer allein lassen, Prinz Achill.«

Brisëis kniet neben meinem Leichnam. Sie hat Wasser gebracht und ein Tuch und wäscht mir das Blut und den Schmutz von der Haut, so sanft, als badete sie einen Säugling und säuberte nicht einen leblosen Leib. Achill betritt das Zelt, und ihre Blicke begegnen sich über meinem Leichnam.

»Lass von ihm ab«, sagt er schroff.

»Ich bin gleich fertig. Er hat es nicht verdient, im Schmutz zu liegen.«

»Nimm deine Hände weg!«

Ihre feuchten Augen blitzen. »Glaubst du, du seist der Einzige, der ihn geliebt hat?«

»Raus, verschwinde!«

»Ist er dir tot lieber als lebendig?«, fragt sie mit bitterer Stimme. »Wie konntest du ihn gehen lassen? Du wusstest, dass er nicht kämpfen kann.«

Achill schreit und wirft eine Schale zu Bruch. »Raus!«

Brisëis verzieht keine Miene. »Töte mich. Ihn bringst du damit nicht zurück. Er war zehnmal wertvoller als du. Zehnmal. Und du schickst ihn in den Tod.«

Er stößt einen Laut aus, der nicht mehr menschlich zu nennen ist. »Ich habe ihn aufzuhalten versucht. Ich habe ihm gesagt, er soll den Strand nicht verlassen.«

»Er ist deinetwegen in den Kampf gezogen.« Brisëis tritt auf ihn zu. »Um dich und deinen Ruf zu retten, an dem dir so viel liegt. Weil er nicht mit ansehen konnte, wie du leidest.«

Achill schlägt die Hände vors Gesicht, doch sie lässt sich nicht erweichen. »Du hast ihn nicht verdient, und mir ist ein Rätsel, wie er dich lieben konnte. Du hast doch nur dich selbst im Sinn.«

Achill hebt den Blick. Sie hat Angst, weicht aber nicht zurück. »Ich hoffe, Hektor tötet dich.«

Der Atem kratzt in seiner Kehle. »Das hoffe ich selbst«, stößt er hervor.

Er weint, als er mich auf unser Bett hebt. Es ist heiß im Zelt, und bald wird sich Leichengeruch ausbreiten. Er scheint sich nicht daran zu stören, hält mich die ganze Nacht in seinen Armen und presst meine kalten Hände auf seinen Mund.

Im Morgengrauen kehrt seine Mutter zurück mit Schild, Schwert und bronzenem Brustpanzer, gerade erst geschmiedet, denn er ist noch warm. Wortlos betrachtet sie ihn, als er sich rüstet.

Ohne auf Automedon oder seine Myrmidonen zu warten, läuft er den Strand entlang, vorbei an den Griechen, die zu ihren Waffen greifen und folgen. Sie wollen sich nicht entgehen lassen, was nun bevorsteht.

»Hektor!«, brüllt er. »Hektor!« In unaufhaltsamer Wut durchbricht er die vorrückenden Reihen der Trojaner, und noch ehe diejenigen, die er niedergestreckt hat, zu Boden gegangen sind, ist er schon weiter. Das Gras, ausgedünnt nach zehn Jahren Krieg, trinkt das Blut von Prinzen und Königen.

Doch Hektor weicht ihm aus und taucht immer wieder unter im Gewimmel. Ihm scheinen die Götter zu helfen, und niemand nennt ihn einen Feigling. Den Zweikampf würde er nicht überleben. Er trägt Achills Rüstung, unverkennbar am Gepräge des Phönix auf der Brustplatte, die neben meiner Leiche lag. Die Männer starren den beiden nach. Es scheint fast, als jagte Achill sich selbst hinterher.

Hektor rennt auf den Skamander zu, den breiten Fluss vor Troja. Wegen des gelben Gesteins, für das Troja bekannt ist, schimmert sein Wasser milchig golden.

Heute hingegen ist es schlammig und rot verfärbt. Hektor stürzt sich in die Wellen und schwimmt durch das Treibgut aus Helmen und Leichen. Er erreicht das andere Ufer. Achill setzt ihm nach.

Plötzlich steigt eine Gestalt aus dem Fluss und versperrt ihm den Weg. Schmutziges Wasser rinnt über die muskulösen Schultern, tropft aus einem schwarzen Bart. Er ist größer als der größte aller Sterblichen und strotzt vor Kraft. Er liebt das trojanische Volk, das ihm im Sommer Wein opfert und seine Fluten mit Blumengirlanden schmückt. Fromm wie kein anderer ist Hektor, der Prinz von Troja.

Achills Gesicht ist blutverschmiert. »Du hältst mich nicht zurück.«

Der Flussgott Skamander hebt eine mächtige Keule, so groß wie ein Baumstamm. Achill hat nur sein Schwert. Seine Speere stecken in gefallenen Kriegern.

»So leichtfertig setzt du dein Leben aufs Spiel?«, fragt der Gott.

Nein. Bitte. Aber ich habe keine Stimme. Achill steigt in den Fluss und hebt sein Schwert.

Der Gott holt mit der Keule zum Schlag aus. Achill duckt sich und entgeht auch dem zweiten Hieb, von Fäusten geführt, die so groß sind wie Kälber. Wieder auf den Beinen, stößt Achill sein Schwert auf die ungeschützte Brust des Gottes. Doch der lässt die Klinge, die bislang noch nie ihr Ziel verfehlt hat, wirkungslos an sich abprallen.

Der Gott greift an. Seine Schläge zwingen Achill durch das Treibgut zurück ans Ufer. Er bewegt seine Keule wie einen Hammer, und wo sie niedergeht, schießen riesige Fontänen empor. Achill weicht jedem dieser Schläge aus. Das Wasser scheint ihn nicht zu behindern.

Achills Schwert schwingt schneller als jeder Gedanke, kann den Gott aber nicht gefährden. Skamander pariert jeden Hieb mit seiner Keule und zwingt ihn, noch schneller zu sein. Er ist ein alter Gott, alt wie die allererste Eisschmelze in den Bergen, und trickreich. Er kennt jede Schlacht, die auf dieser Ebene ausgefochten wurde, und lässt sich durch nichts überraschen. Achill wird langsamer. Mit nur dünner Klinge den Gott auf Abstand zu halten erschöpft seine Kräfte. Holz splittert, sooft die Waffen aufeinandertreffen, doch die Keule ist so dick wie Skamanders Schenkel, vergebens zu hoffen, dass sie bricht. Mit Blick auf das Menschlein, das seine Attacken kaum mehr parieren kann, macht sich ein Lächeln auf seinem Gesicht breit. Unaufhaltsam schlägt er zu. Achills Gesicht ist von Anstrengung gezeichnet. Er kämpft am Rand, am äußersten Rand seiner Kraft. Er ist schließlich nur ein Halbgott.

Ich sehe, wie er sich für einen letzten verzweifelten Angriff sammelt. Dann stößt er blitzschnell zu und zwingt Skamander auszuweichen. Auf diesen Moment hat er gewartet. Ich sehe ihn zum alles entscheidenden Stoß ansetzen. Er springt.

Und zum ersten Mal in seinem Leben ist er nicht schnell genug. Der Gott fängt den Stoß ab. Achill wankt, kaum merklich. Der Gott aber sieht es wohl. Er nutzt die Schwäche des Gegners und lässt die Keule siegesgewiss und mit tödlicher Wucht auf ihn niedersausen.

Er hätte es besser wissen müssen, so auch ich, der diese edlen Füße kein einziges Mal hat straucheln sehen. Sie treten nie fehl. Achill hat menschliche Schwäche nur vorgetäuscht, und der Gott fällt auf seine List herein.

Skamander greift an und öffnet seine Deckung dem Schwertstoß Achills. In der Seite des Gottes klafft eine Wunde, und der Fluss färbt sich wieder golden vom Saft, der seinem Meister entströmt.

Skamander wird nicht sterben, doch geschwächt und müde muss er sich in die Berge schleppen, zurück zu seinen Quellen, um aus ihnen wieder neue Kraft zu schöpfen. Er taucht im Fluss unter und ist verschwunden.

Obwohl er keuchend nach Luft schnappt, gönnt sich Achill keine Rast. »Hektor!«, brüllt er und nimmt die Jagd wieder auf.

Kaum hörbar flüstern die Götter:

Er hat einen von uns geschlagen.


Was mag geschehen, wenn er die Stadt angreift?


Die Zeit für Trojas Niedergang ist noch nicht gekommen.


Und ich denke: Sorgt euch nicht um Troja. Er ist auf Hektor aus, nur auf ihn. Wenn Hektor tot ist, wird er die Waffen strecken.

Am Fuß der mächtigen Mauern Trojas wächst in einem Hain der heilige Lorbeerbaum. Unter seinen Zweigen hat Hektor Zuflucht gesucht. Doch hier treffen die beiden nun aufeinander. Der eine ist dunkel. Er steht da, als hätten seine Füße tiefe Wurzeln ins Erdreich getrieben. Sein Helm, der Brustpanzer und die Beinschienen sind aus poliertem Gold. Mir passten sie gut, doch ihm sind sie zu klein. Seine Kehle ist ungeschützt.

Der andere ist kaum wiederzuerkennen, so verzerrt ist sein Gesicht. Seine Kleider sind noch nass vom Kampf im Fluss. Er hebt seinen aus Eschenholz geschnitzten Speer.

Nein, flehe ich ihn an. Es ist sein eigener Tod, den er in der Hand hält, sein eigenes Blut, das vergossen wird.

Hektors Augen sind geweitet, er flieht nicht länger. »Gewähre mir eines. Übergib meinen Leichnam meiner Familie, wenn du mich getötet hast.«

Achill scheint seine Antwort herauswürgen zu müssen. »Es gibt keine Geschäfte zwischen Löwen und Menschen. Ich werde dich töten und dein Fleisch roh verschlingen.« Sein Speer fliegt. Die Spitze glimmt wie der Abendstern und bohrt sich in Hektors Hals.

Achill kehrt zum Zelt zurück, in dem ich aufgebahrt liege. Er ist über und über mit Blut verschmiert, als hätte er in den Kammern eines riesigen Herzens gebadet, daraus er gerade erst, immer noch tropfend, wieder hervorgestiegen ist. An einem um Hektors Füße gebundenen Lederriemen schleift er dessen Leiche hinter sich her. Das mit Blut und Staub beschmierte Gesicht ist so schwarz wie sein Bart, nachdem er, an seinen Streitwagen gebunden, ins Lager der Griechen gezogen wurde.

Die Könige Griechenlands empfangen ihn.

»Du hast heute triumphiert, Achill«, sagt Agamemnon. »Nimm ein Bad und ruh dich aus. Danach werden wir deinen Sieg feiern.«

»Ich werde nicht feiern.« Er stößt ihn beiseite und schleift Hektor hinter sich her.

»Hokumoros«, ruft ihn die Mutter mit sanfter Stimme. So bald vom Schicksal Abberufener. »Willst du nichts essen?«

»Nein.«

Sie streckt eine Hand aus, als wollte sie das Blut von seiner Wange wischen.

Er weicht zurück. »Lass das!«, sagt er.

Ihre Miene erstarrt für einen Moment, was er jedoch nicht sieht. »Gib Hektors Leichnam seiner Familie, damit sie ihn bestatten kann. Du hast ihn getötet und Rache geübt. Das sollte dir genügen.«

»Das wird es nie«, erwidert er.

Zum ersten Mal seit meinem Tod findet er Schlaf.

Achill. Ich kann es nicht ertragen, dass du trauerst.


Seine Glieder zucken und beben.

Gönn uns Ruhe und Frieden. Verbrenne meinen Leichnam. Ich werde in der Schattenwelt auf dich warten. Ich werde –


Doch er ist schon aufgewacht. »Patroklos! Warte! Ich bin hier.«

Er schüttelt meinen Leichnam. Weil ich nicht antworte, fängt er wieder zu weinen an.

Im Morgengrauen schleift er Hektors Leiche um die Stadtmauer herum, damit es alle sehen. Gegen Mittag wiederholt er diesen Gang und auch am Abend. Er bemerkt nicht, dass die Griechen ihren Blick von ihm abwenden und missbilligen, was er tut.

Thetis wartet auf ihn im Zelt, groß und aufrecht steht sie da.

»Was willst du?« Er lässt Hektors Leiche fallen.

Ihre Wangen sind fleckig und sehen aus wie mit Blut besprenkelter Marmor. »Du musst damit aufhören. Apoll zürnt. Er will dich bestrafen.«

»Soll er doch.« Er lässt sich auf die Knie fallen und streicht mir die Haare aus der Stirn. Ich bin in Decken gewickelt, die den Verwesungsgeruch mildern.

»Achill.« Sie tritt zu ihm und ergreift sein Kinn. »Hör mich an! Du gehst zu weit. Wenn du so weitermachst, werde ich dich nicht vor ihm schützen können.«

Er wirft seinen Kopf zurück und faucht sie an. »Das brauchst du auch nicht.«

Ihre Haut ist weißer als jemals zuvor. »Sei kein Narr. Einzig durch mich und meinen Einfluss –«

»Was ändert das?«, fällt er ihr barsch ins Wort. »Er ist tot. Reicht dein Einfluss, ihn mir zurückzubringen?«

»Nein«, antwortet sie.

Er steht auf. »Glaubst du, ich sehe nicht, dass du frohlockst? Du hast ihn gehasst, all die Jahre über. Hättest du dich nicht in deinem Groll an Zeus gewandt, wäre er noch am Leben.«

»Er ist ein Mensch und somit sterblich«, entgegnet sie.

»Das bin ich auch!«, schreit er. »Wozu taugen Götter, wenn sie ihn nicht lebendig machen können? Wozu taugst du?«

»Ja, du bist ein Sterblicher«, bestätigt sie und platziert jedes kalte Wort wie den Stein eines Mosaiks. »Ich habe wider besseres Wissen zugelassen, dass Patroklos bei dir bleiben durfte, als du bei Cheiron am Pelion warst. Er hat dich ruiniert.« Sie deutet flüchtig mit der Hand auf sein zerfetztes Gewand und das blutverschmierte Gesicht. »Das ist nicht mein Sohn.«

Seine Brust geht heftig auf und ab. »Wer dann, Mutter? Bin ich dir nicht berühmt genug? Ich habe Hektor getötet.«

Ihr Gesicht zuckt. »Du verhältst dich wie ein Kind. Mit seinen elf Jahren ist Pyrrhos mehr Mann als du.«

»Pyrrhos?«

»Er wird kommen und Troja zu Fall bringen. Nur er kann die Stadt bezwingen, das weissagen die Moiren.« Ihr Gesicht glüht.

Er starrt sie an. »Du bringst ihn hierher?«

»Er ist der nächste Aristos Achaion

»Noch bin ich nicht tot.«

»Es fehlt nicht viel.« Die Worte sind wie Peitschenhiebe. »Weißt du eigentlich, was ich auf mich genommen habe, um dich zu Ruhm und Größe aufsteigen zu lassen? Und jetzt willst du deswegen alles zunichtemachen?« Sie zeigt auf meinen verwesenden Leichnam und verzieht das Gesicht vor Abscheu. »Es gibt nichts mehr, was ich für dich tun könnte.«

Ihre schwarzen Augen scheinen sich wie sterbende Sterne zusammenzuziehen. »Sein Tod ist mir eine Freude«, sagt sie.

Es sind die letzten Worte überhaupt, die sie an ihren Sohn richtet.

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