Einundzwanzigstes Kapitel

Auf die Überfälle der umliegenden Dörfer folgte dem Brauch nach die Verteilung von Kriegsbeute. Jeder Kämpfer durfte behalten, was er selbst gewonnen hatte – Rüstzeug seiner Opfer oder Schmuck, vom Hals einer Witwe gerissen. Alles andere, so etwa Krüge, Teppiche oder Vasen, wurde auf einem Haufen zusammengetragen und verteilt.

Es war weniger der Wert der einzelnen Gegenstände als vielmehr die mit ihrer Vergabe zum Ausdruck gebrachte Ehre, auf die es ankam. Der jeweilige Anteil an der Beute entsprach der Stellung und dem Rang des Beschenkten. Die erste Zuwendung ging in der Regel an den besten Kämpfer, doch hier stellte sich Agamemnon vor Achill. Es verblüffte mich, dass Achill nur mit den Achseln zuckte. »Jeder weiß, dass ich besser bin, und Agamemnon tut sich selbst damit keinen Gefallen.« Die Menge gab ihm recht, denn sie jubelte ihm zu und nicht dem König, als sie ihre Beute einstrichen. Letzterem zollten nur die Mykener Beifall.

Nach Achill kamen Ajax, Diomedes und Menelaos, dann Odysseus und einige andere, so dass schließlich für die Letzten nur ein paar alte hölzerne Helme und angeschlagene Becher übrig blieben. Hatte aber an einem Tag einer der Fußsoldaten Besonderes geleistet, wurde ihm ein Preis übergeben, bevor er an der Reihe war. Und so waren auch die Letzten nicht ohne Hoffnung für die kommenden Tage.

In der dritten Woche stand auf dem Podest, auf das die Beute gehäuft war, ein Mädchen mit gefesselten Händen inmitten von Schwertern, gewebten Teppichen und goldenen Geräten. Sie hatte dunkelbraune Haut und pechschwarze Haare, und dass ihr Gesicht, offenbar von Fausthieben traktiert, geschwollen war, tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Die dunkel unterlaufenen Augen sahen im Dämmerlicht aus wie mit ägyptischer Schminke bemalt. Ihr Kleid war an der Schulter zerrissen und blutbefleckt.

Um das Mädchen scharten sich lüsterne Männer, denn sie wussten, was nun anstand. Agamemnon würde ihnen die Erlaubnis geben, Frauen gefangen zu nehmen, damit sie ihnen die Waffen trugen und als Bettsklavinnen dienten. Bislang hatte man sich an den Frauen des Feindes auf dem Feld und in deren Hütten vergangen. Eine Sklavin im eigenen Zelt zu haben war sehr viel bequemer.

Agamemnon bestieg das Podest und taxierte das Mädchen mit genüsslichem Schmunzeln. Er war bekannt für seinen unstillbaren Appetit – wie übrigens alle Männer aus dem Hause Atreus’. Ich weiß nicht, was über mich kam, jedenfalls ergriff ich Achill beim Arm und flüsterte ihm ins Ohr.

»Nimm du sie.«

Er schaute mich mit großen Augen an.

»Nimm du sie als deinen Preis. Bevor sie Agamemnon in die Hände fällt. Bitte.«

Er zögerte nicht lange.

»Männer von Griechenland«, sagte er und trat vor das Podest. Er trug noch seine Rüstung, die auch an diesem Tag voller Blut war. »Großer König von Mykene.«

Agamemnon wandte sich ihm zu und zog die Stirn in Falten. »Pelides?«

»Gib mir das Mädchen als meinen Preis.«

Odysseus, der hinter dem Podest stand, hob eine Braue. Ein Raunen ging durch die Menge der Soldaten. Achills Wunsch war ungewöhnlich, aber nicht unangebracht. In jedem anderen Heer hätte es ihm wie selbstverständlich zugestanden, sich als Erster zu bedienen. Agamemnon schien irritiert. Ich sah, wie es in seinem Kopf arbeitete. Er konnte Achill nicht leiden, befand aber wohl, dass es sich für ihn nicht lohnte, kleinlich zu erscheinen. Das Mädchen war zwar wunderschön, aber es gab ja noch andere.

»Du sollst sie haben, Prinz von Phthia. Sie gehört dir.«

Die Menge jubelte. Den Männern gefiel es, wenn ihre Anführer großzügig und ihre Helden so kühn wie tapfer waren.

Das Mädchen hatte den Wortwechsel mit wachen Sinnen verfolgt. Als ihr klar war, dass sie mit uns kommen sollte, schluckte sie und betrachtete Achill mit verstohlenen Blicken.

»Ich lasse meine Männer hier, damit sie den Rest meines Anteils entgegennehmen. Das Mädchen kommt mit mir, sofort.«

Es wurde laut gelacht und auf den Fingern gepfiffen. Das Mädchen fing zu zittern an wie ein Kaninchen, über dem ein Falke kreiste. »Komm«, sagte Achill. Wir drehten uns um und gingen. Das Mädchen folgte mit gesenktem Kopf.

Als wir in unserem Lager ankamen, zog Achill plötzlich sein Messer. Das Mädchen zuckte vor Schreck zusammen. Tatsächlich gab er ein furchterregendes Bild ab in seinen blutbefleckten Kleidern, und es war ihr Dorf, das er und die anderen geplündert hatten.

»Lass mich«, sagte ich und nahm ihm das Messer aus der Hand. Verlegen wich er einen Schritt zurück.

»Ich werde dich von den Fesseln befreien«, erklärte ich dem Mädchen.

Von nahem schaute ich ihr in die dunklen Augen, die auf die Klinge in meiner Hand gerichtet waren und mich an ein gehetztes Tier erinnerten.

»Nein, nein«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Wir werden dir nicht wehtun. Im Gegenteil, ich befreie dich.«

Der Schrecken war ihr ins Gesicht geschrieben. Sie verstand offenbar nicht, was ich sagte. Als einfaches Bauernmädchen, das sie war, hatte sie wahrscheinlich noch nie ein griechisches Wort gehört. Ich trat auf sie zu und legte ihr eine Hand auf den Arm, worauf sie zusammenzuckte, als fürchtete sie, geschlagen zu werden. Ich sah die Angst vor Missbrauch und Schlimmerem in ihren Augen.

Ihr Anblick war mir unerträglich. Ich wollte sie beruhigen und wusste keinen anderen Rat, als zu Achill zu gehen, ihn am Kragen seines Hemdes an mich zu ziehen und auf den Mund zu küssen.

Als ich mich von ihm löste, sah ich, dass sie uns anstarrte.

Ich deutete auf ihre Fesseln und dann auf das Messer. »In Ordnung?«

Sie zögerte einen Moment und streckte mir dann langsam ihre Hände entgegen.

Achill suchte Phoinix auf mit der Bitte, ein zweites Zelt zu beschaffen. Ich ging mit ihr auf den Hügel, ließ sie im Gras Platz nehmen und verarztete ihr geschwollenes Gesicht. Mit niedergeschlagenen Augen ließ sie die Behandlung über sich ergehen. Dann zeigte ich auf ihr Schienbein, auf dem eine lange Schnittwunde klaffte.

»Darf ich mal sehen?«, fragte ich und übersetzte, was ich sagte, in Gebärden. Sie antwortete nicht, ließ aber geschehen, dass ich die Wunde säuberte und einen Verband anlegte. Sie beobachtete jede meiner Handbewegungen, ohne mir auch nur ein einziges Mal in die Augen zu sehen.

Danach führte ich sie in das neu aufgebaute Zelt. Sie erschrak, als ich den Einstieg aufschlug und auf das zeigte, was für sie bereitgestellt worden war: etwas zu essen, ein Krug Wasser und frische Kleider. Zögernd trat sie ein und schaute sich verwundert um. Ich ließ sie allein.

Am nächsten Tag zog Achill wieder mit seinen Truppen los. Ich schlenderte durchs Lager, sammelte Treibholz und kühlte meine Füße in der Brandung. Immer wieder schaute ich zurück auf das neue Zelt. Das Mädchen hatte sich noch nicht herausgewagt. Der Einstieg war verschlossen wie die Tore Trojas.

Endlich, es war schon gegen Mittag, sah ich sie. Sie beobachtete mich, halb versteckt hinter der Zeltplane. Als sie sah, dass ich sie bemerkt hatte, zog sie sich eilig wieder zurück.

»Warte!«, rief ich.

Sie trug eine meiner Tuniken, die ihr bis zu den Knöcheln reichte und sie wie ein Kind aussehen ließ. Wie alt war sie? Nicht einmal das wusste ich von ihr.

Ich trat auf sie zu. »Hallo.« Sie starrte mich aus ihren großen Augen an. Die Haare waren zurückgekämmt und entblößten ihre zarten Wangenknochen. Sie war sehr hübsch.

»Hast du gut geschlafen?« Ich weiß selbst nicht, warum ich immer wieder mit ihr zu reden versuchte. Vielleicht hoffte ich, sie damit trösten zu können. Cheiron hatte einmal gesagt, dass Säuglinge, auch wenn sie kein Wort verstehen konnten, sich durch gutes Zureden beruhigen ließen.

»Patroklos«, sagte ich und zeigte auf mich. Sie warf mir einen flüchtigen Blick zu und schaute wieder zu Boden.

»Pa-tro-klos«, wiederholte ich langsam. Sie schwieg, rührte sich nicht und hielt mit klammernden Fingern den Saum des Einstiegs gepackt. Ich machte ihr Angst und schämte mich dafür.

»Keine Sorge, ich lasse dich in Ruhe«, sagte ich und wandte mich ab.

Sie murmelte etwas. Ich blieb stehen.

»Wie bitte?«

»Brisëis«, wiederholte sie und zeigte auf sich.

So lernten wir uns kennen.

Es stellte sich heraus, dass sie ein wenig Griechisch sprach, ein paar Worte, beigebracht von ihrem Vater, als er hörte, dass die Griechen kommen würden. Gnade war eines. Ja und Bitte und Was wollt ihr? Anscheinend hatte er sie auf ihre Versklavung vorbereiten wollen.

Tagsüber waren wir in unserem Lager fast ungestört. Häufig saßen wir am Strand und versuchten, uns zu verständigen. Bald konnte ich ihrer Miene und den ausdrucksvollen Augen ablesen, was ihr durch den Kopf ging. Wenn sie lächelte, hielt sie die Hand vor den Mund. Viel hatten wir uns in den ersten Tagen nicht zu sagen, aber das war uns auch nicht wichtig. Es reichte uns, nebeneinanderzusitzen und die Wellen über die Füße schwappen zu lassen. Ein wenig erinnerte mich Brisëis an meine Mutter, wenngleich ihre Augen viel klarer und aufgeweckter waren.

An manchen Nachmittagen streiften wir durchs Lager. Dann machte ich sie auf Dinge aufmerksam und brachte ihr bei, wie sie in unserer Sprache hießen. So lernte sie Wort für Wort, und bald mussten wir uns nur noch gelegentlich mit Gebärden behelfen, die wir aber inzwischen so gut beherrschten, dass es kaum noch Missverständnisse gab. Wenn ich sie zum Beispiel bat, für uns zu kochen, übersetzte sie meinen Wunsch so gestenreich, dass ich das Essen beinahe riechen konnte. Immer wieder musste ich über ihre Einfälle laut lachen, was sie zum Schmunzeln brachte.

Die Überfälle wurden unvermindert fortgesetzt. Tagtäglich bestieg Agamemnon das Podest, auf dem sich die Beute häufte. »Ansonsten gibt es nichts Neues«, sagte er dann. Nichts Neues bedeutete, dass die Stadt weder Truppen in Stellung gebracht noch irgendwelche Botschaften an uns gerichtet hatte. Sie hatte sich trotzig verbarrikadiert und ließ uns warten.

Unsere Männer trösteten sich auf ihre Weise. Fast jeden Tag stand ein anderes Mädchen auf dem Podest. Es waren allesamt Bauernmädchen mit schwieligen Händen und sonnenverbrannten Nasen von der Feldarbeit. Agamemnon und die anderen Könige bedienten sich. Man sah die Frauen jetzt überall zwischen den Zelten Wasserkübel schleppen oder mit anderen Dingen beschäftigt, nach wie vor in den Kleidern, in denen man sie gefangen genommen hatte und die entsprechend abgetragen waren. Sie servierten Früchte, Käse und Oliven, bereiteten Fleisch zu und schenkten Wein aus. Sie polierten Metallspangen und klemmten, im Sand sitzend, das Rüstzeug zwischen die Beine. Manche webten sogar und spannen Fäden aus der Wolle von Tieren, die wir auf unseren Raubzügen erbeutet hatten.

Nachts dienten sie auf andere Art. Es war schrecklich für mich, an allen Ecken und Enden des Lagers ihre Schreie gellen zu hören. Ich versuchte, die Gedanken an ihre niedergebrannten Dörfer und toten Väter zu verdrängen, was mir aber kaum gelang. Die Schrecken waren den Mädchen ins Gesicht geschrieben und entstellten sie vielleicht noch mehr als die Faustschläge, mit denen sie traktiert worden waren.

Ich konnte den Anblick kaum ertragen, wenn sie auf das Podest gezerrt und feilgeboten wurden. Ich bat Achill, so viele von ihnen wie möglich für sich zu gewinnen, was ihm den Ruf eintrug, unersättlich zu sein. »Ich wusste gar nicht, dass du auf Mädchen scharf bist«, frotzelte Diomedes.

Brisëis kümmerte sich um jedes neue Mädchen und sprach ihnen in ihrer sanft klingenden Mundart Trost zu. Sie sorgte dafür, dass sie baden konnten, gab ihnen neue Kleider und machte sie mit den anderen bekannt. Wir ließen ein weiteres, größeres Zelt errichten, in dem alle – acht, zehn, elf – Mädchen Platz fanden. Nur Phoinix und ich sprachen mit ihnen; Achill hielt sich fern. Er wusste, dass sie ihn ihre Brüder, Liebhaber und Väter hatte töten sehen. Und das war unverzeihlich.

Mit der Zeit verloren sie ihre Angst. Sie spannen, unterhielten sich in ihrer Sprache und brachten einander die Wörter bei, die sie von uns aufgeschnappt hatten, nützliche Wörter wie Käse, Wasser oder Wolle. Sie lernten nicht so schnell wie Brisëis, gaben sich aber redlich Mühe, so dass sie bald mit uns reden konnten.

Auf Brisëis’ Bitte hin gab ich den Mädchen tagtäglich Unterricht, was sich schwieriger gestaltete als angenommen. Sie beäugten mich voller Argwohn und wussten nicht, was sie von mir halten sollten. Wieder war es Brisëis, die ihnen ihre Angst nahm und beim Lernen half, indem sie einzelne Wörter und Gesten erklärte. Ihr Griechisch war inzwischen so gut, dass ich sie beim Unterricht zurate ziehen konnte. Außerdem war sie die bessere Lehrerin, und viel lustiger. Wenn sie mit ihren Gebärden eine Eidechse mit schläfrigen Augen nachahmte oder zwei kämpfende Hunde, konnten wir uns vor Lachen nicht halten. Es machte mir Spaß, mit den Mädchen zusammen zu sein, und die Zeit verging wie im Flug, bis ich Achill auf seinem Wagen ins Lager zurückkehren hörte und nach draußen eilte, um ihn zu begrüßen.

In solchen Momenten fiel es mir noch einigermaßen leicht, zu vergessen, dass der eigentliche Krieg erst beginnen sollte.

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