Vierzehntes Kapitel

Deidameia verließ, wie angekündigt, die Burg am nächsten Morgen. »Sie besucht eine Tante«, erklärte Lykomedes dem Hofstaat beim Frühstück mit flacher Stimme. Niemand wagte es, Fragen zu stellen. Sie würde fort sein, bis das Kind geboren war und Achill sich zur Vaterschaft bekannte.

Die folgenden Tage durchlebten wir wie in einem Schwebezustand. Achill und ich hielten uns so häufig wie möglich außerhalb der Burg auf, und an die Stelle der Freude über unser Wiedersehen trat Ungeduld. Wir wollten gehen, um auf den Pelion oder nach Phthia zurückzukehren. Angesichts des Schicksals der Prinzessin plagte uns ein schlechtes Gewissen, und die Stimmung am Hof hätte schlechter kaum sein können. Lykomedes legte die Stirn in Falten, sooft er uns sah.

Und dann war da der Krieg. Nachrichten erreichten sogar die entlegene, vergessene Insel Skyros. Helenas ehemalige Bewerber hatten sich an ihren Schwur gehalten, und Agamemnons Streitkräfte waren voll fürstlichen Geblüts. Es hieß, er habe geschafft, was bisher keinem Mann gelungen sei: die Vereinigung unserer vielen kleinen Königreiche unter einer gemeinsamen Sache. Ich erinnerte mich an ihn, an sein grimmiges Gesicht und seine zottelige, bärenhafte Erscheinung. Sein Bruder Menelaos hatte auf mich, den Neunjährigen, mit seinen roten Haaren und der heiteren Stimme einen nachhaltigeren Eindruck hinterlassen. Aber Agamemnon war älter, sein Heer größer. Er würde den Feldzug gegen Troja anführen.

Es war an einem Vormittag im Spätherbst. Hier, so weit unten im Süden, welkte das Laub nicht, und der Luft am Morgen fehlte die frostige Kälte. Wir hockten in einer Felsnische hoch über dem Strand mit weitem Blick aufs Meer und warteten darauf, Schiffe vorbeisegeln oder graue Delfinrücken durchs Wasser ziehen zu sehen. Wir warfen Kieselsteine und beugten uns vor, um zu beobachten, wie sie über die Felswand in die Tiefe sprangen. So hoch oben waren wir, dass wir ihren Aufprall in der Tiefe nicht hören konnten.

»Ich wünschte, wir hätten die Leier deiner Mutter bei uns«, sagte er.

»Ja, ich auch.« Doch sie war mit all den anderen Dingen in Phthia zurückgeblieben. Schweigend erinnerten wir uns an den Klang ihrer Saiten.

Er blickte auf. »Was ist das?«

Blinzelnd folgte ich seinem Fingerzeig. Die Sonne stand tief und schien mir ins Gesicht.

»Ich kann nichts erkennen«, antwortete ich mit Blick auf den Dunst zwischen Horizont und Himmel. Ein dunkler Fleck zeichnete sich in der Ferne ab. Vielleicht war es ein Schiff, vielleicht aber auch nur die Spiegelung der Sonne auf dem Wasser. »Wenn es ein Schiff ist, wird es Neuigkeiten bringen«, sagte ich mit jenem mulmigen Gefühl in der Magengegend, das mir inzwischen vertraut war. Ich fürchtete seit längerem, dass jemand kommen würde, der nach dem letzten Bewerber Helenas suchte, dem Eidbrüchigen. Ich war damals noch sehr jung gewesen und hatte nicht bedacht, dass es kein Heerführer auf sich sitzen ließe, wenn jemand seinem Ruf nicht folgte.

»Es ist ein Schiff, ganz bestimmt«, sagte Achill. Der Fleck rückte näher; das Schiff schien schnell voranzukommen. Bald zeichneten sich vor dem blaugrünen Wasser die Segel ab.

»Eine Handelsbarke ist es jedenfalls nicht«, meinte Achill. Die fuhren unter weißen Segeln, die praktisch und billig waren. Nur reiche Herrscher konnten es sich leisten, das Segeltuch ihrer Schiffe zu färben. Agamemnon ließ wie die Könige aus dem fernen Osten rote und violette Segel hissen. Diejenigen, die wir sahen, waren gelb und mit schwarzen Kreislinien gemustert.

»Sagen dir diese Farben etwas?«, fragte ich.

Achill schüttelte den Kopf.

Wir sahen das Schiff an der engen Einfahrt zur Bucht vorbeiziehen und auf den Sandstrand zusteuern. Ein Steinanker wurde gesetzt, eine Laufplanke ausgefahren. Aus der Entfernung waren die Männer an Bord nicht zu erkennen, wir sahen nur schwarze Köpfe.

Achill stand auf und ließ seine vom Wind zerzausten Haare unter dem Kopftuch verschwinden. Ich half ihm, sein Kleid zu richten, den Gürtel und die Bänder anzulegen, und hatte mich längst daran gewöhnt, ihn in dieser Aufmachung zu sehen. Als wir fertig waren, beugte er sich vor und gab mir einen Kuss. Seine weichen Lippen versetzten mich in Erregung. Er sah den Ausdruck meiner Augen und lächelte. »Später«, versprach er mir, drehte sich um und kehrte auf dem Pfad zurück, der zur Burg führte. Er würde sich in den Frauengemächern versteckt halten, bis der Bote die Insel wieder verlassen hatte.

Hinter meinen Augen machten sich Kopfschmerzen breit. Ich ging in meine kühle, abgedunkelte Kammer und schlief.

Ein Klopfen an der Tür weckte mich auf. Mit noch geschlossen Augen rief ich: »Herein.« Vielleicht, so dachte ich, verlangte Lykomedes nach mir.

»Schon zur Stelle«, sagte eine Stimme, belustigt und so trocken wie Treibholz. Ich öffnete die Augen und richtete mich auf. In der offenen Tür stand ein Mann von kräftiger Statur und mit kurz geschorenem dunkelbraunem Philosophenbart, der ein wenig rötlich schimmerte. Er lächelte, und ich sah an seinen Augenfältchen, dass er dies wohl häufiger tat. In meinem Gedächtnis rührte sich etwas.

»Tut mir leid, wenn ich störe«, sagte er freundlich und sorgfältig artikuliert.

»Schon gut«, entgegnete ich vorsichtig.

»Ich würde gerne ein paar Worte mit dir wechseln. Dürfte ich Platz nehmen?« Er deutete mit der Hand auf einen Schemel. Obwohl mir nicht wohl zumute war, sah ich keinen Grund, ihm die Bitte auszuschlagen.

Ich nickte, worauf er den Schemel zu mir ans Bett rückte. Seine Hände waren rau und voller Schwielen. Sie hätten sich gut an einem Pflug gemacht, doch schien der Mann von hoher Geburt zu sein. Um Zeit zu gewinnen, stand ich auf und öffnete die Fensterläden in der Hoffnung, den Schleier der Benommenheit in meinem Kopf zu lichten. War dieser Besucher gekommen, um mich an meinen Eid zu erinnern? Eine andere Möglichkeit fiel mir nicht ein. Ich wandte mich ihm zu.

»Wer bist du?«, wollte ich wissen.

Der Mann lachte. »Das ist eine gute Frage. Verzeihung, ich platze einfach hier herein, ohne mich vorgestellt zu haben. Ich bin einer der Kapitäne des großen Königs Agamemnon und fahre von Insel zu Insel, um junge verheißungsvolle Männer aufzusuchen, solche wie dich.« Er neigte den Kopf zum Zeichen der Anerkennung. »Auf dass sie sich unserem Heer anschließen, das gegen Troja in den Kampf zieht. Hast du davon gehört, dass Krieg geführt wird?«

»Ja«, antwortete ich.

»Gut.« Er lächelte und streckte die Beine aus. Auf der rechten Wade zeigte sich eine Narbe, die vom Knöchel bis zum Knie reichte und sich von der braunen Haut deutlich abhob. Eine zahnfleischfarbene Narbe. Mir wurde flau, als hätte ich mich über die höchste Klippe von Skyros hinausgelehnt und den Blick in schwindelnde Tiefe gerichtet. Er war älter geworden und breiter, auf dem Höhepunkt seiner Kraft: Odysseus.

Er sagte etwas, doch es drang nicht zu mir vor. In Gedanken war ich in Tyndareos’ Halle und erinnerte mich an seine schlauen, dunklen Augen, denen nichts zu entgehen schien. Ob er mich erkannt hatte? Ich starrte ihm ins Gesicht, fand aber auf meine Frage keine Antwort. Ich zwang mich, meine Angst zu unterdrücken.

»Tut mir leid«, sagte ich. »Was hast du gesagt?«

»Ich habe gefragt, ob du mit uns in den Kampf ziehen wirst?«

»Ich glaube kaum, dass an meinem Einsatz Interesse bestehen könnte. Ich bin kein guter Krieger.«

Er verzog den Mund. »Komisch, niemand, den ich frage, scheint sich für einen fähigen Kämpfer zu halten«, entgegnete er wie zum Scherz und ohne jeden Vorwurf in der Stimme. »Wie heißt du?«

Ich versuchte, einen möglichst beiläufigen Tonfall anzuschlagen. »Cheironides.«

»Cheironides«, wiederholte er und ließ durch nichts erkennen, dass er an meiner Antwort zweifelte. Ich entspannte mich ein wenig. Ich war damals noch ein kleiner Junge gewesen und hatte mich inzwischen so sehr verändert, dass er mich unmöglich wiedererkennen konnte.

»Nun, Cheironides, Agamemnon verspricht allen, die für ihn kämpfen, Gold und Ruhm. Der Krieg wird nicht lange dauern. Du wärst bis zum nächsten Herbst wieder zurück. Überleg’s dir. Ich bleibe noch ein paar Tage und hoffe, du hast dich bis zu meiner Abfahrt entschieden.« Er ließ die Hände auf die Knie fallen und stand auf.

»War es das?« Ich hatte damit gerechnet, dass er mich zu überreden versuchte oder mir gar Druck machte.

Er lachte freundlich. »Ja, das war’s. Ich nehme an, wir sehen uns beim Abendessen.«

Ich nickte. Er ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. »Seltsam, mir ist, als wären wir uns irgendwann schon einmal begegnet.«

»Das bezweifle ich«, beeilte ich mich zu sagen. »Ich kenne dich jedenfalls nicht.«

Er betrachtete mich einen Augenblick lang, zuckte dann mit den Schultern und sagte: »Dann muss ich dich wohl mit einem anderen jungen Mann verwechseln. Tja, es scheint wohl so zu sein, wie man sagt. Je älter man wird, desto schlechter kann man sich erinnern.« Er kratzte sich nachdenklich am Bart. »Wer ist dein Vater? Vielleicht kenne ich ihn.«

»Er hat mich verbannt.«

Er setzte eine traurige Miene auf. »Das tut mir leid. Woher stammst du?«

»Von der Küste.«

»Norden oder Süden?«

»Süden.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte schwören können, du wärst aus Thessalien oder Phthia. Du formulierst die Vokale genau so wie das Volk im Norden.«

Ich schluckte. In Phthia wurden die Konsonanten härter ausgesprochen, die Vokale in die Länge gezogen, was mir immer missfallen hatte, außer wenn ich Achill reden hörte. Mir war nicht aufgefallen, wie sehr ich diese Art zu sprechen mittlerweile selbst angenommen hatte.

»Das – das wusste ich nicht«, murmelte ich. Mein Herz pochte. Wenn er doch bloß ginge.

»Es ist immer wieder dasselbe mit mir, ich zerbreche mir über unwichtige Dinge den Kopf.« Er schmunzelte wieder. »Vergiss nicht, mich über deine Entscheidung zu informieren. Und vielleicht kennst du andere junge Männer, die bereit wären, sich uns anzuschließen.« Er zog die Tür hinter sich zu.

Der Gong zum Abendessen erklang, und die Gänge waren voller Dienstboten, die Geschirr und Stühle trugen. Als ich die Halle betrat, war mein Besucher schon zugegen. Er unterhielt sich mit Lykomedes und einem anderen Mann.

»Cheironides«, grüßte der alte König. »Das ist Odysseus, der Herrscher von Ithaka.«

»Gott sei Dank gibt es Gastgeber. Erst als ich deine Kammer verließ, fiel mir auf, dass ich dir meinen Namen nicht nannte«, sagte Odysseus.

Und ich habe nicht nach deinem Namen gefragt, weil ich ihn bereits kannte. Ein Fehler, der nicht mehr rückgängig zu machen war. Ich sperrte die Augen auf. »Du bist ein König?« Ich fiel auf die Knie und gab mich ehrerbietig und überrascht zugleich.

»Um genau zu sein, ist er nur ein Prinz«, meldete sich eine schleppende Stimme. »Der König bin ich.« Ich blickte auf und schaute dem dritten Mann in die Augen. Sie waren hellbraun, fast grell und scharf. Er trug einen kurzen schwarzen Bart, der sein keilförmiges Gesicht und das spitze Kinn betonte.

»Das ist Diomedes, König von Argos«, sagte Lykomedes. »Ein Waffenbruder des Odysseus.« Und ein weiterer ehemaliger Bewerber um Helenas Hand, obwohl ich mich nicht an seinen Namen erinnern konnte.

»Mein Herr.« Ich verbeugte mich vor ihm, ohne bange sein zu müssen, dass er mich erkannte, denn er hatte sich bereits abgewendet.

Die Speisen wurden aufgetragen und Lykomedes bat zu Tisch.

Mit uns am Tisch saßen mehrere Berater von Lykomedes, und ich war froh, zwischen ihnen verschwinden zu können. Odysseus und Diomedes unterhielten sich mit dem König und beachteten uns kaum.

»Wie stehen die Dinge in Ithaka?«, erkundigte sich Lykomedes höflich.

»Bestens«, antwortete Odysseus. »Ich habe meine Frau und unseren Sohn dort zurückgelassen. Sie sind wohlauf und gesund.«

»Stell ihm Fragen zu seiner Frau«, sagte Diomedes. »Er spricht liebend gern von ihr. Weißt du, wie er sie kennengelernt hat? Das ist seine Lieblingsgeschichte.« Er verhehlte kaum, dass er sich lustig zu machen versuchte.

Lykomedes ließ seinen Blick zwischen beiden hin und her wandern. »Und? Wie hast du deine Gemahlin kennengelernt, Prinz von Ithaka?«

Odysseus ließ nicht erkennen, ob er sich gereizt fühlte oder nicht. »Nett von dir, dass du fragst. Als Tyndareos einen Gatten für Helena suchte, kamen Bewerber aus aller Herren Länder. Ich bin sicher, du weißt davon.«

»Zu der Zeit war ich bereits verheiratet«, erwiderte Lykomedes. »Darum bin ich nicht gekommen.«

»Natürlich nicht. Und der da war wohl leider noch zu jung.« Er warf mir ein Lächeln zu und richtete seinen Blick zurück auf den König.

»Von allen Bewerbern war ich glücklicherweise der erste, der am Hof eintraf. Der König lud mich ein, mit seiner Familie zu speisen: Helena, seine Schwester Klytämnestra und deren Kusine Penelope.«

»Er lud dich ein?«, frotzelte Diomedes. »War’s nicht eher so, dass du der Holden nachgestiegen bist und ihr aufgelauert hast?«

»Ich bin mir sicher, dass der Prinz von Ithaka so etwas nicht täte.« Lykomedes zog die Stirn in Falten.

»Ich muss gestehen, dass ich ihr tatsächlich nachstellte, obwohl ich dein Vertrauen in mich zu schätzen weiß«, sagte Odysseus und schenkte dem alten König ein strahlendes Lächeln. »Penelope hat mich sogar dabei ertappt. Sie verriet mir später, mich die ganze Zeit über beobachtet und gefürchtet zu haben, ich könne mich am Dornbusch verletzen, hinter dem ich steckte. Das war natürlich peinlich, zumal mir auch Tyndareos auf die Schliche kam, aber er kam und bat mich zu bleiben. Als wir dann bei Tisch saßen, wurde mir bewusst, dass Penelope noch viel klüger war als ihre Kusinen und genauso schön. Und –«

»So schön wie Helena?«, unterbrach Diomedes. »War sie deshalb, obwohl schon zwanzig, immer noch unverheiratet?«

Odysseus lächelte mild. »Du wirst von einem Mann doch nicht verlangen, dass er seine Gemahlin im Vergleich zu anderen Frauen weniger vorteilhaft beschreibt.«

Diomedes verdrehte die Augen, lehnte sich zurück und stocherte mit der Spitze seines Messers zwischen den Zähnen.

Odysseus wandte sich wieder Lykomedes zu. »Im Laufe unserer Unterhaltung und als mir bewusst wurde, dass Penelope Gefallen an mir fand –«

»An deiner äußeren Erscheinung kann es wohl nicht gelegen haben«, kommentierte Diomedes.

»Gewiss nicht«, pflichtete ihm Odysseus bei. »Jedenfalls fragte sie mich, welches Geschenk ich meiner Braut machen würde. Ich sagte: ein Hochzeitsbett aus edelster Steineiche. Damit war sie allerdings nicht einverstanden. Ein Hochzeitsbett, entgegnete sie, solle nicht aus totem, trockenem Holz gemacht werden, sondern aus grünem, lebendigem. ›Und was, wenn ich dir ein solches Bett baue?‹, fragte ich. ›Wirst du mich dann zum Gemahl nehmen?‹ Darauf antwortete sie –«

Der König von Argos schnaubte verächtlich. »Ich kann die Geschichte nicht mehr hören.«

»Dann hättest du vielleicht nicht vorschlagen sollen, dass ich sie erzähle.«

»Und du solltest dir vielleicht etwas Neues einfallen lassen, sonst langweile ich mich verdammt nochmal zu Tode.«

Lykomedes zeigte sich entrüstet. Solche Flüche waren vielleicht auf dem Exerzierplatz oder im Gesindehaus entschuldbar, nicht aber bei Hofe, zumal an der Speisetafel. Odysseus schüttelte den Kopf. »Wahrlich, die Männer von Argos werden von Jahr zu Jahr barbarischer. Lykomedes, bringen wir dem König von Argos ein bisschen Kultur bei. Ich hoffe, die berühmten Tänzerinnen deiner Insel bewundern zu dürfen.«

Lykomedes schluckte. »Nun ja«, stammelte er. »Ich habe nicht –« Er unterbrach sich, fing von neuem an und bemühte sich um einen angemessenen Ton. »Wenn du es wünschst.«

»Wir beide wünschen es«, sagte Diomedes.

»Nun denn.« Lykomedes’ Blicke huschten zwischen seinen Gästen hin und her. Thetis hatte verlangt, die Frauen versteckt zu halten, doch er konnte den beiden ihre Bitte unmöglich ausschlagen. Er räusperte sich und traf eine Entscheidung. »Also gut, sie sollen kommen.« Er gab einem Diener ein Zeichen, worauf dieser eilends die Halle verließ. Ich starrte auf meinen Teller, um mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich mich fürchtete.

Die Frauen hatten nicht mit einem Auftritt gerechnet und zupften noch an ihren Gewändern, als sie die Halle betraten. Achill war unter ihnen und hielt den verhüllten Kopf gesenkt. Ich warf einen ängstlichen Blick auf Odysseus und Diomedes, doch sie schienen ihn nicht zu bemerken.

Die Mädchen nahmen Aufstellung und die Musik fing zu spielen an. Es war ein Genuss, ihrem Tanz zuzuschauen, obwohl Deidameia fehlte, denn sie tanzte bei weitem am schönsten.

»Welche ist deine Tochter?«, fragte Diomedes.

»Sie ist nicht dabei«, antwortete Lykomedes. »Sie besucht eine Tante.«

»Schade«, erwiderte Diomedes. »Ich hatte gehofft, diese da sei es.« Er zeigte auf ein kleines Mädchen, das tatsächlich ein wenig aussah wie Deidameia. Sie hatte besonders hübsche Fußfesseln, die unter dem wirbelnden Saum des Kleides zum Vorschein traten.

Lykomedes räusperte sich wieder. »Bist du vermählt, mein Herr?«

Diomedes schmunzelte. »Einstweilen, ja«, antwortete er, ohne die Frauen aus den Augen zu lassen.

Als sie zu Ende getanzt hatten, stand Odysseus auf und sprach mit lauter Stimme: »Wir fühlen uns geehrt durch eure liebreizende Darbietung. Nur wenige können sich rühmen, die Tänzerinnen von Skyros gesehen zu haben. Zum Zeichen unserer Bewunderung haben wir für euch und euren König Geschenke mitgebracht.«

Die Mädchen tuschelten aufgeregt miteinander. Nur selten gelangten Luxusgüter nach Skyros. Es fehlte einfach an Geld.

»Zu gütig«, sagte Lykomedes, vor Freude gerötet, wie man sah. Damit hatte er nicht gerechnet. Auf Odysseus’ Zeichen hin schleppten Diener mehrere Koffer in die Halle und luden sie auf den langen Tischen aus. Ich sah Silber blinken, Glas und Edelsteine. Wir alle reckten den Hals, begierig zu sehen, was die Gäste mitgebracht hatten.

»Bitte, nehmt, was euch gefällt«, sagte Odysseus. Die Mädchen eilten zu den Tischen, und ich beobachtete, wie sie sich über die verführerischen Gaben hermachten: zierliche Glasfläschchen, gefüllt mit Duftwässern und versiegelt mit Wachs, Handspiegel mit Griffen aus geschnitztem Elfenbein, goldene Armreifen, dunkelrot und violett gefärbte Bänder. Manche anderen Dinge waren, wie ich vermutete, für Lykomedes und seine Berater gedacht: Lederschilde, Lanzenschäfte und versilberte Schwerter in Scheiden aus Ziegenleder. Dem alten König gingen die Augen über. Odysseus stand vor den Tischen und lächelte großmütig.

Achill schlich unauffällig um die Tische. Er tupfte ein paar Tropfen Parfüm auf sein Handgelenk, fuhr mit den Fingern über den glatten Spiegelgriff. Dann betrachtete er ein Paar Ohrringe aus blauen Edelsteinen, gefasst in Silberdraht.

Eine Bewegung am anderen Ende der Halle ließ mich plötzlich aufmerken. Diomedes hatte den Raum durchquert und sprach mit einem seiner Sklaven, der daraufhin durch die hohe Doppeltür nach draußen ging. Was immer sein Auftrag sein mochte, wichtig konnte er nicht sein, denn Diomedes blickte müde und gelangweilt.

Ich schaute zurück zu Achill. Er hielt sich die Ohrringe ans Ohr, neigte in mädchenhafter Gebärde den Kopf mal zur einen, mal zur anderen Seite und spitzte die Lippen, was ihn zu amüsieren schien. Unsere Blicke trafen sich, und ich konnte es mir nicht verkneifen zu lächeln.

Draußen erschallte eine Fanfare, laut und alarmierend. Ein lang gezogener Ton, gefolgt von drei kurzen Stößen: das Signal für unmittelbar drohende Gefahr. Lykomedes sprang auf, die Wachen stürzten zur Tür. Die Mädchen schrien auf und ließen die Geschenke fallen. Klirrend brach Glas auf dem steinernen Boden.

Alle Mädchen, bis auf eines. Ehe die Fanfare verstummte, hatte Achill eines der silbernen Schwerter aus der Scheide gerissen. Der Tisch, vor dem er stand, versperrte ihm den Weg zur Tür. Er sprang darüber hinweg und schnappte sich dabei eine der Lanzen. Mit erhobenen Waffen und kampfbereit landete er auf beiden Füßen – ganz und gar nicht mädchenhaft. Nicht einmal ein gewöhnlicher Mann vermochte sich so in Stellung zu bringen. Das konnte nur er. Der größte Kämpfer seiner Generation.

Ich riss meinen Blick von ihm los und sah zu meinem Entsetzen, dass Odysseus und Diomedes bis über beide Ohren grinsten. »Zum Gruße, Prinz Achill«, sagte Odysseus. »Wir haben dich gesucht.«

Alle Augen waren auf Achill gerichtet, der nun langsam die Waffen senkte. Ich war hilflos und rührte mich nicht.

»Odysseus«, sagte er mit bemerkenswert ruhiger Stimme. »Diomedes.« Er verneigte sich höflich vor beiden. »Ich fühle mich geehrt, der Anlass so großer Bemühungen zu sein.« Seine Worte klangen vornehm und gleichzeitig ein wenig spöttisch, womit er den Besuchern die Möglichkeit nahm, ihn zu demütigen.

»Ich nehme an, ihr wollt mit mir sprechen. Einen Moment noch, ich werde gleich bei euch sein.« Er legte Schwert und Lanze zurück auf den Tisch und lüftete sein Kopftuch. Seine Haare schimmerten wie polierte Bronze. Die Höflinge tuschelten aufgeregt miteinander, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

»Wie wär’s damit?« Odysseus warf ihm einen Leibrock zu, den er von wer weiß woher hervorgezaubert hatte. Achill fing ihn auf.

»Danke«, sagte er. Wie gebannt schaute der ganze Hofstaat zu, als er sein Frauengewand ablegte und die Tunika anlegte.

Odysseus wandte sich dem alten König zu. »Lykomedes, wir würden uns gern mit dem Prinzen von Phthia in eine leere Kammer zurückziehen. Wir haben einiges miteinander zu bereden.«

Lykomedes’ Gesicht war zu einer Maske erstarrt. Ich ahnte, dass er an Thetis dachte und deren Strafe fürchtete. Er antwortete nicht.

»Lykomedes!«, bellte Diomedes.

»Ja, natürlich«, krächzte der Alte. Er tat mir leid. »Gleich dahinten.« Er zeigte auf eine Tür.

Odysseus nickte. »Danke.« Er ging zur Tür, voller Zuversicht und als zweifelte er keinen Augenblick daran, dass Achill ihm folgen würde.

»Nach dir«, feixte Diomedes. Achill zögerte und warf einen flüchtigen Blick auf mich.

»Oh, ich vergaß«, rief Odysseus über die Schulter hinweg. »Patroklos ist ebenfalls herzlich eingeladen. Es geht schließlich auch um ihn.«

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