Achtundzwanzigstes Kapitel

In der Nacht kommt Phoinix ins Lager mit der Nachricht von einem Duell. Beim Angriff am Morgen war Paris in goldener Rüstung vor die Reihen seiner Kämpfer getreten und hatte einen Zweikampf vorgeschlagen. Der Sieger bekommt Helena. Die Griechen johlten Beifall. Wer von ihnen würde nicht lieber heute als morgen nach Hause zurückkehren? Ein Kampf Mann gegen Mann, und es wäre ein für alle Mal ausgestanden. Paris, zwar glänzend und stolz in seiner Rüstung, schien ein schwacher Gegner, schlank und zart wie ein unverheiratetes Mädchen. Und so habe Menelaos, berichtet Phoinix, sofort die Chance ergriffen und eingewilligt, um seine Ehre und seine wunderschöne Frau zurückzugewinnen.

Zuerst kommen Speere zum Einsatz, dann wird das Duell mit Schwertern fortgesetzt. Paris ist ein geschickterer Gegner, als Menelaos angenommen hat, kein Kämpfer, aber schnell auf den Beinen. Doch dann leistet sich der trojanische Prinz einen Fehltritt, den sich der Grieche zunutze macht. Er stößt Paris zu Boden, packt ihn beim Schweif seines Helms und zerrt ihn hinter sich her. Hilflos tritt Paris ins Leere, seine Finger umklammern den einschneidenden Halsgurt. Doch dann löst sich der Helm, und der Prinz ist plötzlich verschwunden. Es ist, als habe er sich in Luft aufgelöst, und alles fragt sich: Wie kann das sein? Auch Menelaos schaut sich verdutzt blinzelnd nach allen Seiten um und sieht so den Pfeil nicht kommen, der, von einem trojanischen Bogen aus dem Gehörn eines Steinbocks abgegeben, auf ihn zufliegt, seine lederne Rüstung durchbohrt und im Bauch stecken bleibt.

Blut strömt über seine Schenkel und sammelt sich in einer Lache zu seinen Füßen. Dass er nicht tödlich verletzt ist, wissen die Griechen noch nicht. Sie fühlen sich betrogen und fallen schreiend über die Trojaner her. Es kommt zum blutigen Gemetzel.

»Und wo war Paris?«, frage ich.

Phoinix schüttelt den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

Der Kampf setzte sich bis in den Nachmittag fort. Dann war eine Fanfare zu hören, um auf Hektor aufmerksam zu machen, der zwischen die Fronten trat, um sich an seines Bruders statt einem Duell zu stellen, jedem, der es wagte, gegen ihn anzutreten. Menelaos, sagt Phoinix, wollte auch diese Herausforderung annehmen, wurde aber von Agamemnon daran gehindert, der seinen Bruder nicht gegen den stärksten aller Trojaner kämpfen sehen wollte.

Die Griechen ließen das Los entscheiden. Ich stelle mir das aufgeregte Durcheinander vor, wie die Lose in einem Helm gesammelt werden und alle die Luft anhalten, als man sie auf dem sandigen Boden ausstreut. Odysseus bückt sich und wählt eines aus. Ajax. Allgemeine Erleichterung: Er ist der Einzige, der sich mit Hektor messen kann, das heißt der Einzige, der heute kämpft.

Also treten Ajax und Hektor gegeneinander an. Sie bewerfen sich mit schweren Steinen und Speeren, lassen sie von ihren Schilden abprallen, es wird Nacht über ihrem Kampf, bis er schließlich von den Herolden beendet wird. Es geht sonderbar zivilisiert zu zwischen den Heeren, die friedlich voneinander abrücken. Hektor und Ajax schütteln sich als ebenbürtige Gegner die Hände. Die Soldaten tuscheln miteinander und sind sich einig: Wäre Achill zugegen gewesen, hätte der Kampf ein anderes Ende genommen.

Nachdem Phoinix seinen Bericht beendet hat, steht er schwerfällig auf und geht, von Automedon gestützt, zurück in sein Zelt. Achill schaut mich an. Sein Atem geht schnell, und die Ohren sind gerötet. Er ergreift meine Hand und kann mit seiner Freude über das, was passiert ist, nicht an sich halten. Sein Name ist in aller Munde, und sogar in seiner Abwesenheit ist er den Soldaten gegenwärtig. Die Aufregung des Tages hat ihn ergriffen wie eine Flamme ausgedörrtes Gras. Er träumt jetzt zum ersten Mal vom ruhmvollen Todesstoß seines unfehlbaren Speers durch Hektors Herz. Ihn so reden zu hören lässt mich frösteln.

»Siehst du?«, sagt er. »Das ist der Beginn.«

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass unter der Oberfläche etwas in mir zerbricht.

Durch die Dämmerung des nächsten Morgens schallen Fanfarenstöße. Wir verlassen das Zelt, besteigen den Hügel und sehen ein Heer aus Reitern und leichten Streitwagen aus dem Osten kommend auf Troja zustreben. Die Pferde sind groß und bewegen sich mit fast übernatürlicher Schnelligkeit. Dem Tross voran fährt ein Streitwagen mit einem riesigen Mann an den Zügeln, der noch größer ist als Ajax. Seine langen schwarzen Haare sind, wie bei Spartanern üblich, geölt und fallen frei über die Schulter herab. Er trägt ein Banner in der Form eines Pferdekopfes.

Phoinix gesellt sich zu uns. »Lykier«, sagt er. Sie stammen aus dem Südwesten Kleinasiens und sind seit langem Verbündete Trojas. Wir haben uns oft gewundert, warum sie nicht schon längst an der Seite ihrer Freunde kämpfen. Jetzt aber kommen sie, wie von Zeus persönlich gerufen.

»Wer ist das?«, fragt Achill und zeigt auf den mächtigen Anführer.

»Sarpedon, ein Sohn des Zeus.« Die Sonne spiegelt sich auf seinen schweißnassen Schultern; seine Haut hat die Farbe dunklen Goldes.

Aus den geöffneten Stadttoren strömen Trojaner, die herauseilen, um ihre Verbündeten zu begrüßen. Hektor und Sarpedon begrüßen sich mit einem Handschlag und führen dann ihre Truppen aufs Feld. Die Lykier tragen seltsame Waffen: Wurfspieße mit gezackten Klingen und solche, die wie riesige Fischhaken aussehen. Den ganzen Tag über hören wir ihre wilden Schlachtrufe und das Stampfen der Pferde. Die Schlange der Verwundeten vor Machaons Zelt wird immer länger.

Als Einziger aus unserem Lager, der nicht in Ungnade gefallen ist, nimmt Phoinix am Abend an der Ratsversammlung teil. Als er zurückkehrt, fasst er Achill mit scharfem Blick ins Auge. »Idomeneus ist verwundet, und die Lykier haben unsere linke Flanke durchbrochen. Unser Heer droht zwischen Sarpedon und Hektor zerrieben zu werden.«

Achill nimmt keine Notiz von der missbilligenden Miene des Alten. Triumphierend wendet er sich an mich. »Hast du gehört?«

»Ja«, antworte ich.

Ein weiterer Tag vergeht und noch einer. Gerüchte machen die Runde. Es heißt, die Trojaner rücken vor, unaufhaltsam und ermutigt durch Achills Abwesenheit, während unsere Könige verzweifelt über geeignete Maßnahmen zur Gegenwehr streiten: nächtliche Angriffe, Bespitzelung, Überfälle. Und man hört, dass Hektor anscheinend im Kampf über sich hinauswächst und wie ein Buschbrand unter den Griechen wütet, so dass die Verluste von Tag zu Tag größer werden. Schließlich melden aufgebrachte Boten verheerende Rückschläge und selbst einige unserer Könige sind verwundet.

Achill hört sich alles an und bleibt gelassen. »Es wird nicht mehr lange dauern«, sagt er.

Die Scheiterhaufen brennen Nacht für Nacht. Hinter dem beißenden Rauch, der von ihnen aufsteigt, verschwindet der Mond. Ich versuche nicht daran zu denken, dass ich viele von denen, die da brennen, persönlich kannte.

Achill spielt gerade auf der Leier, als sie kommen: Phoinix, gefolgt von Odysseus und Ajax.

Ich sitze neben Achill. Ein wenig abseits bereitet Automedon Fleisch für das Abendbrot zu. Achill hat den Kopf in den Nacken gelegt und singt mit heller, süßer Stimme. Als sie sich nähern, ziehe ich meine Hand von seinem Fuß zurück.

Die drei kommen auf uns zu und bleiben auf der anderen Seite des Feuers stehen. Sie warten, bis Achill zu Ende gesungen und die Leier aus der Hand gelegt hat.

»Willkommen. Ihr werdet doch hoffentlich mit uns essen?« Er steht auf und schüttelt jedem von ihnen lächelnd die Hand. Die Verwunderung über die herzliche Begrüßung steht ihnen ins Gesicht geschrieben.

Da ich weiß, was sie zu uns geführt hat, entschuldige ich mich murmelnd: »Ich muss mich um das Essen kümmern.« Als ich mich abwende, spüre ich Odysseus’ Blicke im Rücken.

Das Lammfleisch brutzelt auf dem Rost. Zischend tropft Fett in die Glut. Durch Rauchschlieren hindurch schaue ich immer wieder zurück auf die Männer am Feuer, die wie Freunde beieinanderhocken. Ich kann nicht hören, was sie sagen, sehe aber, dass Achill immerzu lächelt, scheinbar unbeeindruckt von den grimmigen Gesichtern der anderen. Dann ruft er mich zu sich. Ich kann mich dem Geschehen nicht länger entziehen, bringe das Abendessen und setze mich neben ihn.

Er plaudert über dies und das, bewirtet seine Gäste und achtet tunlichst darauf, dass kein Teller lange leer bleibt, vor allem der von Ajax nicht, der am meisten vertragen kann. Sie essen, während er in einem fort redet. Als schließlich alle satt sind, sich den Mund abgewischt und die Teller beiseitegeschoben haben, kommt endlich zur Sprache, was die beiden zu uns geführt hat. Natürlich ist es Odysseus, der den Anfang macht.

Zunächst spricht er nur von Dingen, die er wie beiläufig aufzählt. Zwölf schnelle Pferde, sieben bronzene Dreifüße und sieben hübsche Mädchen, zehn Barren Gold, zwölf große Kupferkessel und dergleichen mehr – Schalen, Kelche, Rüstzeug und schließlich das Beste überhaupt: Brisëis Rückkehr. Lächelnd breitet er die Arme aus und hebt die Schultern zu jener Pose, die typisch für ihn ist.

Dann breitet er vor sich eine Schriftrolle aus und liest im Feuerschein die Namen der gefallenen Griechen vor. Achill beißt die Zähne aufeinander. Ajax betrachtet seine vom Kriegsdienst schorfig gewordenen Hände.

Und schließlich klärt uns Odysseus darüber auf, dass die Trojaner bis auf tausend Schritt vorgerückt sind und unweit unseres Palisadenwalls Stellung bezogen haben. Ob wir Beweise wollten? Die Feuer ihres Lagers, sagt Odysseus, seien von der Hügelkuppe aus zu sehen. Morgen früh müsse mit ihrem Angriff gerechnet werden.

Es dauert eine Weile, bis Achill auf die Frage antwortet, die noch gar nicht gestellt worden ist. »Nein«, sagt er und lässt anklingen, dass er sich weder von versprochenen Schätzen noch von Schuldgefühlen bestechen lässt. Seine Ehre ist keine Kleinigkeit, die sich von einer zweiköpfigen Gesandtschaft in später Stunde zurückbringen ließe, zumal sie ihm vor versammeltem Heer in Abrede gestellt wurde.

Der König von Ithaka stochert mit einem Stecken im Feuer.

»Deiner Sklavin ist kein Leid zugefügt worden. Die Götter allein wissen, woher Agamemnon die Kraft zur Zurückhaltung genommen hat, aber fest steht, sie ist wohlauf und gut versorgt. Sie und mit ihr deine Ehre warten darauf, an dich zurückerstattet zu werden.«

»Du sprichst, als hätte ich meine Ehre aufgegeben«, entgegnet Achill. »Das habt ihr euch schön zurechtgelegt. Bist du jetzt Agamemnons Spinne, die mit dieser Geschichte Fliegen zu fangen versucht?«

»Sehr poetisch«, erwidert Odysseus. »Nur, morgen werden keine Lieder gesungen. Morgen werden die Trojaner unser Lager stürmen und unsere Schiffe in Flammen aufgehen lassen. Willst du ihnen untätig dabei zusehen?«

»Das hängt von Agamemnon ab. Wenn er das Unrecht, das er an mir begangen hat, wiedergutmacht, werde ich, wenn ihr es wünscht, die Trojaner bis nach Persien jagen.«

Unvermittelt fragt Odysseus: »Warum ist Hektor noch nicht gefallen?« Er hebt die Hand. »Ich suche nicht nach einer Antwort, sondern wiederhole lediglich, was sich alle Männer fragen. Während der vergangenen zehn Jahre gab es tausendfach Gelegenheit für dich, ihn zu töten. Aber du hast es nicht getan, worüber sich alle wundern.«

Seine Stimme verrät, dass er sich selbst nicht wundert. Er kennt die Prophezeiung. Ich bin froh, dass er nur von Ajax begleitet wird, der nicht versteht, was Odysseus meint.

»Ich freue mich für dich, dass du zehn zusätzliche Jahre herausgeschunden hast. Aber was ist mit uns anderen?« Seine Lippen kräuseln sich. »Dein Müßiggang zwingt uns zu warten. Du hältst uns hier fest, Achill. Du hattest die Wahl und hast dich entschieden. Jetzt verhalte dich entsprechend.«

Wir starren ihn an. Er hat offenbar noch mehr zu sagen.

»Dass du den Lauf der Dinge aufzuhalten versuchst, ist verständlich. Aber es wird dir auf Dauer nicht gelingen. Das lassen die Götter nicht zu.« Er legt eine Pause ein, damit jedes seiner Worte seine Wirkung entfalten kann. »Du zerreißt den Faden nicht, den dir das Schicksal gesponnen hat. Als dein Freund rate ich dir, den vorbestimmten Weg mutigen Schrittes zu gehen.«

»Das werde ich.«

»Gut«, sagt Odysseus. »Ich habe gesagt, was ich sagen wollte.«

Achill steht auf. »Dann ist es Zeit für euch zu gehen.«

»Noch nicht«, meldet sich Phoinix zu Wort. »Ich habe noch etwas hinzuzufügen.« Aus Respekt vor dem Alten setzt sich Achill wieder hin und schluckt seinen Stolz hinunter.

»Als du ein Kind warst, hat dein Vater dich mir anvertraut. Deine Mutter hatte sich längst zurückgezogen, und ich war zuerst deine Amme, dann dein Lehrer. Jetzt bist du ein Mann, doch ich sorge mich immer noch um dein Wohl.«

Ich werfe einen Blick auf Achill und sehe, dass er angespannt und argwöhnisch ist. Ich weiß, er fürchtet, sich von den freundlichen Worten des Alten einwickeln zu lassen. Oder schlimmer noch: dass Phoinix gegen ihn Partei ergreifen und sich von ihm abwenden könnte.

Der Alte hebt eine Hand wie zur Abwehr solcher Gedanken. »Was immer du tust, ich werde dir beistehen. Aber bevor du dich entscheidest, will ich dir eine Geschichte erzählen.«

Er lässt Achill keine Zeit, Widerspruch einzulegen. »Zu Zeiten deines Vaters machte ein junger Held namens Meleager von sich reden, dessen Heimatstadt Kalydon von einem wilden Volk, den Kureten, belagert wurde.«

Ich kenne diese Geschichte aus Peleus’ Mund und erinnere mich, wie Achill mir zuschmunzelte, während sein Vater sie erzählte. Damals hatte Achill noch kein Blut an den Händen, und von der Weissagung seines frühen Todes ahnte niemand etwas.

»Anfangs konnten die Kureten dank der Kriegskunst des Meleagers zurückgeschlagen werden«, führt Phoinix aus. »Eines Tages tötete Meleager seinen Onkel, woraufhin seine Mutter ihn verfluchte. Im Zorn über seine Mutter weigerte er sich hinfort, für seine Stadt zu kämpfen. Das Volk machte ihm Geschenke und bat ihn um Verzeihung, doch er nahm davon nichts an, sondern legte sich stattdessen zu seiner Frau Kleopatra, um Trost bei ihr zu finden.«

Bei der Erwähnung ihres Namens funkeln Phoinix’ Augen, wie mir scheint.

»Als schließlich ihre Stadt den Feinden in die Hände zu fallen drohte und viele ihrer Freunde gestorben waren, hielt es Kleopatra nicht länger aus und flehte ihren Gatten an, den Kampf wieder aufzunehmen. Weil er sie über alles liebte, ließ er sich erweichen und erfocht einen großartigen Sieg für sein Volk. Zwar hatte er es gerettet, doch waren schon zu viele Leben seinem Stolz zum Opfer gefallen. Und so wurde ihm kein Dank zuteil, im Gegenteil, man verachtete ihn, weil er nicht früher eingegriffen hatte.«

In der Stille, die nun einsetzt, höre ich den Alten ächzend Luft einsaugen. Er hat sich mit seiner langen Rede verausgabt. Ich wage es nicht, ein Wort zu sagen oder mich zu rühren, und fürchte, dass man mir ansieht, was ich denke. Was Meleager letztlich umgestimmt hat, war nicht etwa die Aussicht auf Ruhm und Ehre, auch nicht die Sorge um Freunde oder um das eigene Leben. Es war vielmehr Kleopatra, die mit tränennassem Gesicht auf den Knien vor ihm kauerte. Mir ist klar, worauf Phoinix abzielt. Allein schon ihr Name legt den Vergleich nahe. Er ist meinem ähnlich, nur eine Umkehrung der Silben: Kleopatra, Patroklos.

Achill lässt sich nicht anmerken, ob auch er den tieferen Sinn versteht. Dem Alten zuliebe spricht er leise, bleibt aber bei seinem Nein. Nicht bevor Agamemnon meine Ehre wiederhergestellt hat. Odysseus scheint mit seiner Weigerung gerechnet zu haben. Ich kann mir vorstellen, wie er den anderen Bericht erstattet, die Arme zu einer Gebärde des Bedauerns ausbreitet und sagt: Ich habe es versucht. Würde Achill nachgeben, wäre alles gut. Doch eine Weigerung trotz all der angebotenen Geschenke und Entschuldigungen kann nur als krankhafte Trotzhaltung und Verblendung ausgelegt werden. Man wird ihn dafür verabscheuen, so wie man Meleager verabscheute.

Mir schnürt sich vor Angst die Kehle zu. Ich möchte auf die Knie fallen und ihn anflehen. Aber das tue ich nicht, denn wie Phoinix habe auch ich mich schon entschieden. Ich will mich nicht länger treiben lassen, ins Dunkle und darüber hinaus, auf einem Kurs, den allein Achill vorgibt.

Ajax reagiert sehr viel weniger gelassen als Odysseus. Er hat dessen Gleichmut nicht und macht aus seiner Wut kein Hehl. Es hat ihn viel gekostet, zu uns gekommen zu sein und sich als Bittsteller klein zu machen. Wenn Achill nicht kämpft, ist er der Aristos Achaion.

Ich erhebe mich mit den anderen und reiche Phoinix meinen Arm. Er ist sehr müde und kann sich kaum auf den Beinen halten. Ich helfe ihm zu seinem Lager, und als ich unser Zelt betrete, ist Achill bereits eingeschlafen.

Trauer und Enttäuschung übermannen mich, hatte ich doch gehofft, noch ein paar Worte mit ihm zu wechseln, in seinen Armen zu liegen und mich davon überzeugen zu können, dass es neben dem Achill, den ich beim Essen sah, noch einen anderen gibt. Ich lasse ihn träumen und schleiche nach draußen.

Ich kauere auf losem Sand im Schatten eines kleinen Zelts.

»Brisëis?«, rufe ich leise.

Es bleibt eine Weile still. Dann: »Patroklos?«

»Ja.«

Sie schlägt die Zeltplane auf und zieht mich hinein. Ihr ist anzusehen, dass sie sich fürchtet. »Du dürftest nicht hier sein«, flüstert sie aufgebracht. »Es ist zu gefährlich. Agamemnon wütet. Er wird dich töten.«

»Weil Achill seine Gesandtschaft zurückgewiesen hat?«, frage ich.

Sie nickt und beeilt sich, den brennenden Kienspan auszublasen. »Agamemnon kommt häufig, um nach mir zu sehen. Du bist hier nicht sicher.« Im Dunkeln kann ich ihr Gesicht nicht erkennen, doch ihre Stimme ist voller Sorge. »Du musst gehen.«

»Ich habe etwas mit dir zu bereden. Es dauert nicht lange.«

»Dann musst du dich verstecken. Er kommt immer ohne Vorwarnung.«

»Wo?« Das Zelt ist klein. Es gibt darin nur eine Pritsche, Kissen, Decken und ein paar Kleidungsstücke.

»Im Bett.«

Sie lässt mich unter Decken verschwinden und legt sich neben mich. Ihr Duft, ihre Wärme und vertraute Nähe hüllen mich ein. Ich flüstere ihr ins Ohr: »Odysseus sagt, dass die Trojaner morgen unser Lager stürmen werden. Wir müssen dich verstecken. Unter den Myrmidonen oder im Wald.«

Ich spüre ihre Wange an meiner. Sie schüttelt den Kopf. »Da werden sie als Erstes nach mir suchen, und wenn sie mich finden, gibt es nur noch mehr Ärger. Es ist besser, ich bleibe hier.«

»Aber was, wenn sie das Lager einnehmen?«

»Dann ergebe ich mich Äneas, dem Vetter Hektors. Es heißt, er sei ein frommer Mann, und sein Vater lebte eine Zeitlang als Hirte in der Nähe meines Dorfes. Wenn nicht bei ihm, werde ich bei Hektor oder einem der anderen Söhne Priamos’ Zuflucht suchen.«

Ich schüttele den Kopf. »Das ist zu gefährlich. Du darfst dich nicht zeigen.«

»Sie werden mir nichts antun. Ich bin schließlich eine von ihnen.«

Ich komme mir töricht vor. Für sie sind die Trojaner natürlich Befreier und keine Bedrohung. »Verstehe«, hauche ich. »Du wirst dann wieder frei sein. Und vielleicht möchtest du mit –«

»Brisëis!« Die Plane wird beiseitegeworfen. Agamemnon steht im Eingang.

»Ja?« Sie richtet sich auf und gibt acht, dass die Decke, unter der ich liege, nicht verrutscht.

»Mit wem sprichst du?«

»Ich habe gebetet, mein Herr.«

»Im Liegen?«

Durch das dicke Gewebe hindurch sehe ich eine Fackel brennen. Seine Stimme ist so laut, als stünde er direkt neben uns. Ich rühre mich nicht. Wenn er mich hier findet, wird sie dafür bestraft.

»So hat es mir meine Mutter beigebracht, mein Herr.«

»Du solltest es inzwischen besser wissen. Hat dir der Götterjüngling nicht erklärt, wie man betet?«

»Nein, mein Herr.«

»Ich habe ihm heute angeboten, dich zurückzugeben, aber er will dich nicht.« Ich höre den hässlichen Unterton seiner Stimme. »Und wenn er weiterhin auf dich verzichtet, erhebe ich Anspruch auf dich.«

Ich balle meine Hände zu Fäusten. Aber Brisëis sagt nur:

»Ja, mein Herr.«

Ich höre die Zeltbahn fallen. Das Licht verschwindet. Ich rühre mich erst wieder, als Brisëis neben mir ist.

»Du kannst nicht hierbleiben«, sage ich.

»Keine Sorge. Er droht nur. Es gefällt ihm, mir Angst zu machen.«

Ihr nüchterner Tonfall entsetzt mich. Wie kann ich sie jetzt allein lassen? Und doch, wenn ich bleibe, gerät sie in noch größere Gefahr.

»Ich muss gehen«, sage ich.

»Warte.« Sie berührt meinen Arm. »Die Männer –«, sie zögert. »Sie sind zornig auf Achill und geben ihm die Schuld an ihren Verlusten. Agamemnon lässt sie von seinen Dienern anstacheln. Die Seuche ist fast vergessen. Und je länger sich Achill verweigert, desto mehr wird man ihn hassen.« Ich fürchte nichts mehr, als dass sich Phoinix’ Mahnung bewahrheitet. »Wird er den Kampf wieder aufnehmen?«

»Erst dann, wenn sich Agamemnon entschuldigt.«

Sie beißt sich auf die Lippen. »Auch die Trojaner fürchten und hassen niemanden mehr als unseren Freund. Wenn sie morgen Gelegenheit dazu finden, werden sie ihn töten, und mit ihm alle, die ihm lieb und teuer sind. Du musst dich vorsehen.«

»Er wird mich beschützen.«

»Ich weiß, das wird er«, sagt sie, »solange er lebt. Aber nicht einmal Achill kann es mit Hektor und Sarpedon gleichzeitig aufnehmen.« Sie zögert wieder. »Wenn das Lager fällt, werde ich behaupten, du seist mein Gatte. Vielleicht hilft das. Vorausgesetzt, du verschweigst, was er für dich bedeutet. Es wäre dein Todesurteil, wenn du dich offenbaren würdest.« Sie hielt meinen Arm umklammert. »Versprich es mir.«

»Brisëis«, sage ich. »Wenn er tot ist, was ist dann mein Leben noch wert?«

Sie drückt meine Hand an ihre Wange. »Dann versprich mir etwas anderes«, sagt sie. »Versprich mir, dass du Troja nicht ohne mich verlässt, egal, was passiert. Ich weiß, du kannst mir nicht –« Sie unterbricht sich. »Ich würde lieber als Schwester an deiner Seite leben, als hier zurückzubleiben.«

»Daran muss ich mich nicht mit einem Versprechen binden«, entgegne ich. »Wenn du es willst, nehme ich dich gern mit. Sollte der Krieg tatsächlich morgen enden, wäre es mir unerträglich, dich nie wieder zu sehen.«

Sie lächelt wehmütig. »Das freut mich.« Ich behalte für mich, dass ich nicht daran glaube, Troja jemals zu verlassen.

Ich nehme sie in die Arme und drückte sie an mich. Sie legt ihren Kopf auf meine Schulter, und für einen Moment vergessen wir alle Gefahr und drohendes Unheil. Ich streichle ihre Wange und gebe mich ganz dem Wohlgefühl hin, das sich einstellt bei der Berührung ihrer weichen Haut und dem Lavendelduft ihrer Haare. Seufzend schmiegt sie sich an mich. So könnte, stelle ich mir vor, mein Leben sein. Wir könnten heiraten und ein Kind miteinander haben.

Wenn es Achill nicht gäbe, vielleicht.

»Es ist besser, ich gehe jetzt«, sage ich.

Sie schlägt die Decke beiseite, um mich aufstehen zu lassen, nimmt aber noch einmal meinen Kopf in ihre Hände und sagt: »Sei vorsichtig, bester aller Myrmidonen.« Bevor ich etwas einwenden kann, verschließt sie mit ihren Fingern meinen Mund. »Es ist so. Lass es gelten.« Dann führt sie mich zum Ausgang, hält die Zeltbahn auf und drückt mir zum Abschied die Hand.

In der Nacht liege ich neben Achill. Im Schlaf sieht er aus wie ein unschuldiger Knabe. Ich liebe diesen Anblick, der zum Ausdruck bringt, wie er von Grund auf ist: ernst und arglos, voller Mutwillen, aber ohne Tücke. Er ist der Hinterlist von Agamemnon und Odysseus, ihren Lügen und Machtspielen ausgeliefert. Sie haben ihn in Verwirrung gebracht, geködert und an sich gefesselt. Ich streichle seine Stirn. Wenn ich es könnte und er es zuließe, würde ich seine Fesseln lösen.

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