Zehntes Kapitel

Es war Frühling, und wir waren fünfzehn. Der Winter hatte länger gedauert als gewöhnlich, und wir freuten uns, wieder draußen zu sein unter der Sonne. Wir zogen unsere Kleider aus, reckten die steifen Glieder und genossen die milde Brise auf der Haut. Aufgrund der Winterkälte hatten wir monatelang unsere Felle nicht abgelegt, abgesehen von den kurzen Momenten in der Felsnische, die uns als Bad diente. Den Vormittag verbrachten wir am Fluss und jagten in den Wäldern. Es fühlte sich gut an, wieder in Bewegung zu sein.

Ich betrachtete Achill. Da es auf dem Berg keine Spiegel gab – ausgenommen die glatte Oberfläche des Flusses –, konnte ich Veränderungen an mir nur mit Blick auf ihn zu erkennen versuchen. Er war immer noch schlank, aber ein wenig kräftiger und breiter im Kreuz geworden. Das Gesicht hatte schärfere Konturen angenommen.

»Du siehst älter aus«, sagte ich.

Er blieb stehen und sah mich an. »Wirklich?«

»Ja.« Ich nickte. »Und ich?«

»Komm mal näher.« Ich trat auf ihn zu. Er musterte mich eine Weile. »Ja, du auch.«

»Inwiefern?«, wollte ich wissen.

»Dein Gesicht ist anders«, antwortete er.

»Wo?«

Er fuhr mit den Fingerspitzen der rechten Hand über meinen Unterkiefer. »Hier. Er ist breiter als vorher.« Ich betastete mich mit der eigenen Hand, konnte aber keinen Unterschied feststellen. Mir schien, ich sei immer noch Haut und Knochen. Er führte meine Hand zum Schlüsselbein. »Auch da«, sagte er, »und dort.« Er tippe auf den Kehlkopf. Ich schluckte und spürte, wie er auf und ab ging.

»Wo sonst noch?«, fragte ich.

Er deutete auf die feinen dunklen Haare, die in einem dünnen Streifen vom Bauchnabel abwärts liefen.

Mir schoss das Blut ins Gesicht.

»Das reicht«, sagte ich schneller als beabsichtigt. Ich setzte mich wieder ins Gras, sah, wie der Wind durch seine Haare fuhr und seine Haut im Sonnenlicht golden schimmerte. Ich streckte mich aus und ließ ebenfalls die Sonne auf mich leuchten.

Nach einer Weile setzte er sich zu mir. Wir betrachteten die Bäume mit ihren frischen, jungen Trieben.

»Ich glaube, du wärst nicht unzufrieden«, sagte er plötzlich. »Mit deinem Aussehen.«

Ich spürte Hitze in mir aufsteigen. Aber wir verloren kein Wort mehr darüber.

Wir waren fast sechzehn. Bald würde Peleus wieder seine Boten mit Geschenken schicken, bald würden die Beeren reif sein, die Früchte uns in die Hände fallen. Es war das letzte Jahr unserer Kindheit. Danach würden wir als Männer gelten und nicht mehr nur unsere Leibröcke tragen, sondern auch Chitons und Umhänge. Peleus würde für Achill eine geeignete Braut aussuchen, und auch mir stünde es frei, eine Frau zu wählen. Ich dachte an die Dienstmädchen und ihre stumpfen Blicke und erinnerte mich an Gespräche der Jungen, die ich belauscht hatte, als sie von Brüsten und Hüften schwärmten.

Sie ist so weich wie Seide.


Wenn sie ihre Schenkel um dich geschlungen hat, vergisst du deinen eigenen Namen.


Die Jungen hatten aufgeregt und mit hochroten Gesichtern miteinander getuschelt. Aber wenn ich versuchte, mir vorzustellen, wovon sie sprachen, entglitten mir meine Gedanken wie Fische, die sich nicht fangen lassen wollten.

Stattdessen drängten sich andere Bilder auf. Die geschwungene Linie eines über eine Leier gebeugten Nackens, im Feuerschein schimmernde Haare, sehnige Hände in Bewegung. Wir waren stets zusammen, und es gab für mich kein Entrinnen vom Wohlgeruch des Öls, mit dem er seine Füße einrieb, oder von dem Anblick nackter Haut, wenn er sich anzog. In Erinnerung an den Tag am Strand und die Kälte seiner Augen zwang ich mich dann jedes Mal wegzuschauen. Und natürlich dachte ich an seine Mutter.

Ich machte mich nun manchmal selbstständig und ging schon früh am Morgen, wenn Achill noch schlief, oder nachmittags, wenn er seinen Speerwurf zu verbessern suchte, allein hinaus in den Wald. Ich nahm eine Flöte mit mir, spielte aber nur selten darauf. Oft lehnte ich mich an einen Baum und sog den scharfen Zypressenduft in mich auf, der von der höchsten Stelle des Berges herabwehte.

Langsam, als sollte ich es nicht bemerken, glitt dann meine Hand zwischen die Schenkel in meinen Schoß. Ich schämte mich für das, was ich tat, mehr noch der Gedanken wegen, die mich dabei beschlichen. Aber viel schlimmer wäre es gewesen, ihnen im Inneren der Rosenquarzhöhle und in seinem Beisein nachzuhängen.

Manchmal fiel es mir schwer, danach in die Höhle zurückzukehren. »Wo warst du?«, fragte er oft.

»Dort drüben«, antwortete ich dann immer und deutete vage in eine Richtung.

Er nickte, doch ich war mir sicher, er bemerkte, dass ich errötete.

Der Sommer wurde heißer. Wir hielten uns im Schatten auf oder badeten im Fluss und ließen das Wasser glitzernd aufspritzen. Die Kieselsteine im Flussbett waren bemoost und kühl und glitschten unter meinen Füßen weg. Aufgeschreckt von unseren Rufen, flohen die Fische in ihre Felsnischen oder in stilleres Wasser flussaufwärts. Das reißende Schmelzwasser des Frühjahrs war längst verronnen. Der Länge nach ausgestreckt, ließ ich mich in der Strömung treiben. Es gefiel mir, die Sonne auf dem Bauch und gleichzeitig die kühlen Tiefen des Wassers unter mir zu spüren.

Wenn wir genug davon hatten, schwammen wir auf die herabhängenden Zweige der Weiden zu und hangelten uns daran empor. An diesem Tag ließen wir uns daran herabbaumeln, schlangen unsere Beine umeinander und versuchten, den anderen zurück ins Wasser zu zwingen. Spontan ließ ich vom Ast ab und klammerte mich an seinem Rumpf fest. Er rief überrascht aus, und wir rangen lachend miteinander, bis der Ast über uns krachte und wir in die Fluten stürzten. Eingetaucht ins kühle Wasser, rauften wir uns weiter.

Kaum waren wir wieder aufgetaucht, um Luft zu schnappen, fiel er über mich her und tauchte mich unter oder ich ihn, und so ging es eine Weile weiter, bis uns die Lungen vor Anstrengung brannten und unsere Gesichter rot angelaufen waren. Schließlich schleppten wir uns zurück an Land, wo wir uns ins Riedgras und Sumpfkraut fallen ließen, die Füße im kühlen Schlamm des Uferrandes. Wasser tropfte uns aus den Haaren, und ich sah es über seine Brust und die Arme rinnen.


Am Morgen seines sechzehnten Geburtstags wachte ich früh auf. Cheiron hatte mir an einem fernen Berghang einen Feigenbaum gezeigt, der schon reife Früchte trug, die ersten in diesem Jahr. Achill wisse nichts davon, versicherte mir der Zentaur. Ich ging hinaus und pflückte etliche zum Frühstück.

Es war nicht mein einziges Geschenk an ihn. Ich hatte mir beizeiten von Cheiron ein gut abgelagertes Stück Eschenholz geben lassen und fast zwei Monate darauf verwendet, eine Gestalt daraus zu schnitzen – einen Leier spielenden jungen Mann mit himmelwärts gerichtetem Gesicht und geöffneten Lippen, als würde er singen. Ich hatte die Figur bei mir, als ich loszog.

Die Feigen hingen prall und schwer am Baum. Die violette Haut war so weich, dass sie unter meinen Fingern nachgab. In zwei Tagen würden sie überreif sein. Ich füllte eine Holzschale damit und trug sie vorsichtig zur Höhle zurück.

Achill saß mit Cheiron auf der Lichtung. Zu seinen Füßen lag ein Geschenk von Peleus, das noch nicht ausgepackt war. Er machte große Augen, als er sah, was ich brachte, sprang auf und langte in die Schale, noch ehe ich sie abgestellt hatte. Wir aßen uns an den Feigen satt und unsere Hände und Lippen klebten von ihrer Süße.

Das von Peleus geschickte Paket enthielt wieder ein paar Hemdröcke und Leiersaiten, darüber hinaus aus gegebenem Anlass – es war schließlich der sechzehnte Geburtstag – einen prächtigen Mantel, kostbar gefärbt aus dem Drüsensaft der Purpurschnecke. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie gut ihn dieses scharlachrote Gewand kleiden würde.

Auch Cheiron beschenkte ihn – mit einem Wanderstab und einem neuen Messer, das man am Gürtel befestigen konnte. Schließlich überreichte ich ihm meine Schnitzerei. Er begutachtete sie und fuhr mit den Fingerspitzen über die kleinen Kerben, die mein Messer hinterlassen hatte.

»Das bist du«, sagte ich und grinste verlegen.

Er blickte mich aus freudig leuchtenden Augen an.

»Ich weiß«, entgegnete er.

Nicht lange danach hockten wir eines späten Abends vor den glühenden Resten des Feuers vor der Höhle. Achill war fast den ganzen Nachmittag über mit seiner Mutter zusammen gewesen. Nun spielte er auf der Leier meiner Mutter und ließ Laute erklingen, die so klar und hell waren wie die Sterne am Himmel.

Neben mir saß Cheiron auf seinen unter sich zusammengefalteten Läufen. Ich hörte ihn gähnen, worauf die Leier verstummte und Achill fragte: »Bist du müde, Cheiron?«

»Ja, das bin ich.«

»Dann lassen wir dich jetzt in Ruhe.«

Es war eigentlich nicht seine Art, so zu reden, schon gar nicht, für mich zu sprechen, doch ich war selbst müde und sagte nichts. Er stand auf, wünschte Cheiron eine gute Nacht und wandte sich der Höhle zu. Ich reckte mich, genoss noch einen Moment den Feuerschein und folgte dann.

Achill lag schon im Bett. Sein Gesicht war noch feucht; er hatte sich an der Quelle gewaschen. Auch ich wusch mir das Gesicht.

»Du hast mich nicht gefragt, wie der Besuch meiner Mutter war«, sagte er.

»Wie geht es ihr?«

»Gut.« Diese Antwort gab er immer. Deshalb hatte ich ihn auch nicht gefragt.

Ich spülte mir die Seife vom Gesicht. Wir seihten sie aus Olivenöl, wonach sie auch noch ein wenig duftete, buttrig und bitter.

Achill sagte: »Sie kann uns hier nicht sehen.«

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er Weiteres mitteilen wollte. »Hmmm?«

»Sie kann uns nicht sehen, hier am Pelion.«

Seine Stimme hatte einen angestrengten Unterton. Ich wandte mich ihm zu. »Was soll das heißen?«

Er hatte den Blick auf die Höhlendecke gerichtet. »Ich habe sie gefragt, ob sie uns … beobachtet«, antwortete er. »Sie sagte nein.«

Es wurde still zwischen uns. Zu hören war nur das plätschernde Wasser.

»Oh«, sagte ich.

»Ich dachte, es könnte dich interessieren. Sie –«, er zögerte. »Ihr hat meine Frage nicht gefallen.«

»Nicht gefallen«, wiederholte ich. Mir wurde schwindlig. Seine Worte schwirrten mir durch den Kopf. Sie kann uns nicht sehen. Ich stand, wie mir bewusst wurde, vor dem Wasserbecken und hielt das Handtuch noch ans Kinn. Dann zwang ich mich, die Kleider abzulegen und ins Bett zu steigen. Ich war in Aufruhr, voller Hoffnung und Angst.

Er hatte das Bett schon angewärmt, als ich hineinkroch. Er starrte immer noch an die Decke der Höhle.

»Und – hat dir ihre Antwort gefallen?«, fragte ich schließlich.

»Ja«, sagte er.

Wir lagen da und lauschten der spannungsgeladenen und lebendigen Stille. Normalerweise erzählten wir uns vorm Einschlafen noch Witze oder Geschichten. Die Decke über uns war mit Sternen bemalt, und wenn wir zu müde waren, um zu reden, machten wir uns gegenseitig auf einzelne Sternbilder aufmerksam. »Orion«, sagte ich dann, wenn sein Finger darauf zeigte. »Die Plejaden.«

Aber in dieser Nacht schwiegen wir. Ich schloss die Augen und wartete bangend, bis ich glaubte, er sei eingeschlafen. Ich drehte den Kopf und schaute ihn an.

Er lag auf der Seite und betrachtete mich. Ich hatte nicht gehört, dass er sich herumgewälzt hatte. Ich höre ihn nie. Er rührte sich nicht. Ich holte Luft und war mir der Nähe zu ihm bewusst. Nur ein Teil des schwarzen Kissens lag zwischen uns.

Er beugte sich vor.

Unsere Lippen berührten einander, und seine Wärme ergoss sich in meinen Mund. Ich konnte an nichts denken, nur empfinden und trinken, jeden Atemhauch. Es war ein Wunder.

Ich zitterte und fürchtete, ihn zu verschrecken. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, was ihm gefallen mochte. Ich küsste seinen Hals, seine Brust und schmeckte Salz. Er schien unter meinen Berührungen zu schwellen, zu reifen. Er duftete nach Mandeln, drückte sich an mich und ich presste meine Lippen an seinen Körper.

Er wurde still, als ich ihn in die Hand nahm, was sich anfühlte wie Samt und so zart wie Blütenblätter. Ich kannte den Anblick seiner goldenen Haut, der geschwungenen Linie des Nackens, der Beuge seiner Ellbogen. Ich wusste, wie er aussah, wenn ihm wohl zumute war. Unsere Körper legten sich aufeinander wie Hände.

Die Wolldecke verrutschte. Er warf sie beiseite. Die kalte Luft auf der Haut war ein Schock und ließ mich frösteln. Ich sah seine Silhouette vor den Sternen, Polaris über seiner linken Schulter. Seine Hand fuhr über meinen Bauch, der atmend immer schneller auf und ab ging. Er streichelte mich so sanft, als versuchte er, feinstes Tuch zu glätten, und ich schob ihm meine Hüften entgegen, zog ihn an mich und zitterte. Auch er zitterte, und sein Atem ging wie nach einem langen Lauf.

Ich glaube, ich nannte seinen Namen, hauchte ihn. Ich war wie ein hohler Rohrhalm, über den der Wind hinwegstrich. Die Zeit blieb stehen, nur unser Atem ging.

Ich fand seine Haare zwischen meinen Fingern. In meinem Inneren ballte sich alles zusammen. Mein Puls schlug unter der Bewegung seiner Hand. Er drückte sein Gesicht an mich, und ich versuchte, ihn noch fester an mich zu pressen. Hör nicht auf, sagte ich.

Er hörte nicht auf. Das Gefühl nahm zu und verdichtete sich, bis mir ein Schrei aus der Kehle fuhr. Ich bäumte mich auf.

Aber es war noch nicht genug. Ich suchte mit der Hand und fand die Stelle seiner Wonne. Er hatte die Augen geschlossen. Ich fand den Rhythmus, der ihm gefiel. Ich konnte es spüren, sein Sehnen. Meine Finger standen nicht still und folgten seinem beschleunigten Atem. Seine Augenlider hatten die Farbe der Morgendämmerung. Er duftete wie die Erde nach einem Regenschauer. Sein Mund öffnete sich zu einem wilden Schrei. Ich spürte es heiß aus ihm herausschießen. Er bebte, und dann lagen wir still beieinander.

Langsam wie der Übergang vom Tag zur Nacht wurde ich mir meines Schweißes bewusst, der Feuchtigkeit der Laken und der Nässe zwischen unseren Körpern. Wir lösten uns voneinander. Unsere Gesichter waren geschwollen von Küssen. Es roch heiß und süß in der Höhle wie von der Sonne beschienene Früchte. Unsere Blicke begegneten sich, und wir schwiegen. Mir wurde angst und bange in diesem Moment echter Gefahr. Ich fürchtete seine Reue.

Er sagte: »Ich hätte nicht gedacht –« Und stockte. Ich wollte um alles in der Welt hören, was er zurückbehielt.

»Was?«, fragte ich. Wenn es etwas Schlimmes ist, sag es lieber gleich.

»Ich hätte nicht gedacht, dass wir je –.« Er zögerte vor jedem Wort, und ich konnte ihm nachempfinden.

»Ich auch nicht«, erwiderte ich.

»Tut es dir leid?«, fragte er hastig.

»Nein«, antwortete ich.

»Mir auch nicht.«

Es wurde wieder still. Mir machte es nichts aus, dass das Laken feucht und ich schweißgebadet war. Seine Augen schimmerten grün und golden. Eine Gewissheit stieg in mir auf und setzte sich in der Brust fest. Ich werde ihn nie verlassen. So wird es bleiben, immer, so lange er es will.

Ich wusste nicht, was ich Passendes hätte sagen können. Nichts konnte das, was ich fühlte, treffend zum Ausdruck bringen.

Als hätte er mich gehört, ergriff er meine Hand. Ich brauchte nicht hinzuschauen. Wie sie aussah, war in meiner Erinnerung eingraviert: schlank, wie ein Blütenblatt geädert, kräftig und sicher.

»Patroklos«, sagte er. Er verstand sich schon immer besser auf Worte als ich.

Am Morgen erwachte ich benommen und mit warmem Wohlgefühl. Nach den Zärtlichkeiten und der Leidenschaft der langen schwelgerischen Nacht lag er nun neben mir, die Hand auf meinem Bauch wie eine geschlossene Blüte in der Früh, und ich wurde wieder nervös. Ich erinnerte mich an das, was ich im Ansturm der Gefühle gesagt und getan, an die Geräusche, die ich von mir gegeben hatte, und fürchtete, der Bann sei gebrochen und das Licht, das durch den Höhleneinstieg sickerte, könnte alles zu Stein werden lassen. Aber als er dann aufwachte, formulierten seine Lippen einen schläfrigen Gruß, und schon tastete seine Hand wieder nach meiner. So lagen wir beieinander, bis es ganz hell wurde und Cheiron rief.

Wir aßen und eilten dann zum Fluss, um uns zu waschen. Ich kostete das Wunder aus, ihn ohne Scheu betrachten zu können, genoss den Anblick des gesprenkelten Lichts auf seiner Haut und der Wölbung des Rückens, als er ins Wasser tauchte. Später lagen wir am Ufer und studierten die Linien unserer Körper aufs Neue. Diese hier und jene dort. Wir waren wie die Götter zu Anbeginn der Welt, und unsere Freude war so hell, dass wir nichts anderes sahen als uns.

Vielleicht bemerkte Cheiron die Veränderung in unserem Verhalten zueinander, doch er brachte es nicht zur Sprache. Ich machte mir Sorgen.

»Glaubst du, er könnte wütend auf uns sein?«

Wir lagen im Olivenhain auf der Nordflanke des Bergs. Hier war die Luft besonders süß, kühl und rein wie Quellwasser.

»Nein.« Er zeichnete mit der Fingerspitze den Schwung meines Schlüsselbeins nach.

»Vielleicht doch. Er wird es inzwischen wohl wissen. Sollten wir ihm nicht lieber etwas sagen?«

Es war nicht das erste Mal, dass ich diese Frage stellte. Wir hatten sie schon oft erwogen wie Verschwörer.

»Wenn du willst.« So hatte er immer geantwortet.

»Du glaubst nicht, dass er wütend wird?«

Er dachte nach, ich liebte das an ihm. Egal, wie oft ich ihn fragte, wenn er antwortete, war es immer, als wäre es das erste Mal.

»Ich weiß nicht.« Er schaute mich an. »Und wennschon. Es würde für mich nichts ändern.« Seine Stimme war warm und zärtlich. Ich spürte einen wohligen Rausch durch meinen Körper gehen.

»Aber er könnte es deinem Vater sagen, und der wäre bestimmt wütend«, entgegnete ich fast verzweifelt. Mir wurde heiß und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

»Na und?«

Ich war schockiert. Dass er, auch wenn sein Vater wütend wäre, tun würde, was ihm beliebte, war so unerhört, dass ich es kaum glauben konnte. Ihn so sprechen zu hören war für mich wie eine Droge, von der ich immer mehr haben wollte.

»Und was ist mit deiner Mutter?«

Das war die Dreiheit meiner Ängste – Cheiron, Peleus und Thetis.

Er zuckte mit den Achseln. »Was könnte sie schon tun? Mich entführen?«

Sie könnte mich umbringen, dachte ich, sagte es aber nicht. Das laue Lüftchen war so wohlig, die Sonne so warm, dass ich einen solchen Gedanken nicht aussprechen mochte.

Er musterte mich. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn sie wütend wäre?«

Ja. Ich hatte schon immer Angst vor Missbilligung gehabt; sie steckte tief in mir drin, und ich konnte mich nicht so leicht von ihr befreien, wie es Achill offenbar vermochte. Trotzdem war ich entschlossen, nicht zuzulassen, dass sie uns entzweite. »Nein«, antwortete ich.

»Gut«, sagte er.

Ich streckte den Arm aus und streichelte die Härchen an seiner Schläfe. Er schloss die Augen. Ich betrachtete sein der Sonne zugewandtes Gesicht. Seine zarten Züge ließen ihn jünger erscheinen, als er war. Die Lippen waren voll und rot.

Er öffnete die Augen. »Nenn mir einen Helden, der glücklich war.«

Ich überlegte. Herakles verfiel dem Wahn und tötete seine Familie; Theseus verlor Braut und Vater; Jasons Kinder und seine neue Gemahlin wurden von deren Vorgängerin umgebracht; Bellerophontes bezwang die Chimäre, stürzte aber später vom Rücken des Pegasus und wurde zum Krüppel.

»Dir fällt keiner ein.« Er richtete sich auf und rückte näher.

»Ja, ich kenne keinen.«

»Es gibt auch keinen, denn die da oben lassen niemanden berühmt und glücklich sein.« Er hob eine Augenbraue. »Ich verrate dir ein Geheimnis.«

»Nur zu.« Es gefiel mir, wenn er heimlich tat.

»Ich werde der Erste sein.« Er ergriff meine Hand. »Beschwör’s!«

»Warum sollte ich es beschwören?«

»Weil du der Grund dafür bist. Na los …«

»Ich schwöre«, sagte ich und verlor mich in der Farbe seiner Wangen und seinem feurigen Blick.

»Ich schwöre«, echote er.

Hand in Hand hockten wir beieinander. Er grinste.

»Ich habe einen Sterbenshunger.«

Irgendwo unter uns am Hang erschallte plötzlich ein Horn, abrupt und schmetternd wie zur Warnung. Bevor ich etwas sagen oder mich rühren konnte, war er schon auf den Beinen und hatte seinen Dolch aus der Scheide gezogen. In Wirklichkeit war es nur ein Jagdmesser, aber in seiner Hand würde es allemal reichen. Er stand vollkommen reglos da, lauschte mit all seinen halbgöttlichen Sinnen.

Auch ich hatte ein Messer bei mir. Ich nahm es leise zur Hand und stand auf. Er hatte sich schützend vor mich gestellt, und ich wusste nicht, ob ich neben ihn treten und meine Waffe heben sollte. Ich tat es nicht. Was wir gehört hatten, war der Schall eines Soldatenhorns gewesen, und zu kämpfen war, wie mir Cheiron unumwunden erklärt hatte, meine Sache nicht.

Wieder tönte das Horn. Kurz darauf war ein Rascheln im Dickicht zu hören, die Schritte einer einzelnen Person. Vielleicht hatte sie sich verirrt oder womöglich war sie in Gefahr. Achill trat einen Schritt auf die Stelle zu, von der die Geräusche kamen. Wie zur Antwort darauf erschallte wieder das Horn. Dann rief eine Stimme: »Prinz Achill!«

Wir erstarrten.

»Achill! Ich bin hier, um Prinz Achill zu sprechen.«

Vögel flatterten aus den Bäumen auf, gestört durch den Lärm.

»Dein Vater schickt nach dir«, flüsterte ich. Nur ein königlicher Bote konnte wissen, wo wir waren.

Achill nickte, schien aber nichts sagen zu wollen. Ich konnte mir vorstellen, wie heftig sein Herz schlug. Soeben war er noch entschlossen gewesen zu töten.

»Wir sind hier!«, rief ich durch den mit meinen Händen geformten Trichter. Die Geräusche verstummten.

»Wo?«

»Folge meiner Stimme.«

Es dauerte eine Weile, bis der, der uns suchte, auf die Lichtung hinaustrat. Sein Gesicht war zerkratzt, sein Palastrock durchgeschwitzt. Er kniete ungelenk nieder und widerwillig, wie es schien. Achill senkte das Messer, behielt es aber in der Hand.

»Ja?«, fragte er mürrisch.

»Dein Vater ruft dich in einer dringenden Angelegenheit.«

Ich spürte, wie ich mich versteifte und ebenso reglos dastand wie Achill. Ich dachte, wenn wir nur still stünden, würde nichts Schlimmes passieren.

»In was für einer Angelegenheit?«, fragte Achill.

Der Mann hatte sich anscheinend ein wenig erholt und daran erinnert, dass ein Prinz vor ihm stand.

»Mein Herr, verzeih, ich weiß es nicht genau. Boten aus Mykene kamen zum König mit Nachrichten. Dein Vater will heute Abend zu seinem Volk sprechen und wünscht, dass du dabei bist. Unten warten Pferde auf euch.«

Es blieb eine Weile still. Ich glaubte schon, Achill würde ihn fortschicken, doch dann sagte er: »Patroklos und ich müssen noch unsere Sachen packen.«

Auf dem Weg zurück zur Höhle fragten wir uns, was für Nachrichten das sein könnten, von denen die Rede gewesen war. Mykene lag tief unten im Süden. Sein König war Agamemnon, der sich selbst gern Herr der Menschen nannte. Es hieß, dass er über das größte Heer überhaupt verfügte.

»Worum es auch immer gehen mag, wir werden nur eine, höchstens zwei Nächte fort sein«, versicherte mir Achill. Ich nickte dankbar. Nur ein paar Tage.

Cheiron erwartete uns. »Ich habe die Rufe gehört«, sagte der Zentaur. Wir kannten ihn so gut, dass wir ihm sein Missfallen an der Stimme anhörten. Er mochte es nicht, wenn der Frieden seines Bergs gestört wurde.

»Mein Vater ruft mich zu sich«, erklärte Achill. »Wir werden bald wieder zurück sein.«

»Verstehe«, entgegnete Cheiron. Auf seinen langen Läufen wirkte er noch größer als gewöhnlich. Seine kastanienbraunen Flanken glänzten im Sonnenlicht. Ich fragte mich, ob er sich ohne uns vielleicht ein bisschen einsam fühlte. Er bekam nie Besuch, und als wir uns einmal erkundigt hatten, ob er manchmal mit anderen Zentauren zusammenkäme, hatte er nur abfällig mit dem Wort »Barbaren« geantwortet.

Wir packten unsere Sachen. Ich hatte kaum etwas mitzunehmen, nur ein paar Leibröcke und eine Flöte. Achill besaß ein wenig mehr, seine Kleider, ein paar Speerspitzen, die er selbst hergestellt hatte, und die von mir geschnitzte Statue. Wir steckten alles in Ledersäcke und verabschiedeten uns von Cheiron. Achill, wie immer kühner als ich, umarmte den Zentauren und schlang seine Arme um die Stelle, wo das Tierfell in Menschenhaut überging. Der Bote stand hinter mir und scharrte ungeduldig mit den Füßen.

»Achill«, sagte Cheiron, »erinnerst du dich an meine Frage, was du tun würdest, wenn man dich zum Kampf herausfordert?«

»Ja«, sagte Achill.

»Du solltest über deine Antwort nachdenken.«

Mir wurde ganz kalt, als ich Cheiron hörte, und ehe ich mich besinnen konnte, wandte er sich mir zu.

»Patroklos.« Er rief mich zu sich. Ich trat vor ihn hin, worauf er mir seine große, warme Hand auf den Kopf legte. Ich sog seinen eigentümlichen Körpergeruch in mich auf, eine Mischung aus Pferdeschweiß, Kräutern und Wald.

Er sprach leise. »Gib das, was dir lieb ist, nicht so einfach auf«, sagte er.

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, und sagte bloß: »Danke.«

Er lächelte. »Alles Gute.« Dann zog er seine Hand wieder zurück, und ich spürte, wie mir ein kühler Wind durch die Haare strich.

»Wir werden bald wieder zurück sein«, wiederholte Achill.

Cheirons Augen, von der Sonne abgewandt, waren dunkel. »Ich werde nach euch Ausschau halten«, sagte er.

Wir schulterten unsere Taschen und verließen die Lichtung vor der Höhle. Es war nach Mittag, der Bote drängte zur Eile. Zügig stiegen wir ins Tal hinab, wo Pferde für uns bereitstanden. Nach so langer Zeit, in der ich ausschließlich zu Fuß unterwegs gewesen war, fühlte ich mich unbeholfen im Sattel, und die Pferde machten mich nervös. Ich erwartete fast, dass sie anfangen würden, mit mir zu sprechen, was natürlich nicht geschah. Immer wieder drehte ich mich um und schaute zurück auf den Pelion und hoffte, die Rosenquarzhöhle erkennen zu können, vielleicht sogar Cheiron. Aber wir waren schon zu weit entfernt. Ich schaute nach vorn und ließ mich nach Phthia führen.

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