Siebenundzwanzigstes Kapitel

Auf dem Webteppich in unserem Zelt liegen drei kleine Steine, die wahrscheinlich unter Sandalen gesteckt haben und so mit hereingebracht worden sind. Ich hebe sie auf, um etwas zu haben, woran ich festhalten kann.

»Ich werde nicht länger für ihn kämpfen«, sagt er, und seine Stimme klingt erfrischt. »Immer wieder versucht er, meinen Ruhm zu schmälern, Schatten auf mich zu werfen und mich in Zweifel zu stürzen. Er kann es nicht ertragen, dass ein anderer höher geachtet wird als er. Aber er muss es lernen. Er wird erfahren, was sein Heer wert ist ohne den Aristos Achaion

Ich spüre, wie er in Wallung gerät. Es ist, als zöge ein Sturm herauf, dem man schutzlos ausgeliefert ist.

»Die Griechen werden scheitern, und er wird gezwungen sein, mich anzuflehen, es sei denn, er zieht es vor zu sterben.«

Ich erinnere mich, wie er ausgesehen hat, als er zu seiner Mutter ging. Wild, wie im Fieber. Ich stelle mir vor, wie er vor ihr niederkniete, vor Wut geweint und mit den Fäusten auf die vom Wasser umspülten Felsen geschlagen hat. Er sei gedemütigt und entehrt worden, hat er ihr wahrscheinlich gesagt. Man hätte seinen unsterblichen Ruhm in Gefahr gebracht.

Sie hört ihm zu, streicht in Gedanken versunken mit der Hand über den langen, weißen Hals und nickt. Sie hat eine Idee, einen göttlichen Einfall, der Rache verspricht, und erklärt ihm, was zu tun ist. Er hört auf zu weinen.

»Wird er es tun?«, fragt Achill seine Mutter. Er meint Zeus, den König der Götter, dessen Haupt von Wolken umkränzt ist und der mit seiner Faust Blitze schleudert.

»Ja«, antwortet Thetis. »Er steht in meiner Schuld.«

Zeus, stets auf Ausgleich bedacht, wird dafür sorgen, dass die Griechen geschlagen und aufs Meer zurückgedrängt werden, damit sie am Ende erkennen, an wen sie sich mit ihren Bitten zu wenden haben.

Thetis beugt sich vor und küsst seine Wange, die so rot angelaufen ist wie ein Seestern. Dann dreht sie sich um und versinkt im Wasser, ohne auch nur ein Kräuseln auf der Wasseroberfläche zu hinterlassen.

Ich lasse die Steinchen auf den Boden zurückfallen, wo sie in einer Anordnung liegen bleiben, die womöglich etwas besagen will. Wäre Cheiron hier, könnte er daraus die Zukunft ablesen. Aber er ist nicht hier.

»Was, wenn er dich nicht anfleht?«, frage ich.

»Dann wird er sterben. Alle werden sterben. Erst wenn er mich auf Knien bittet, werde ich den Kampf wieder aufnehmen.« Er reckt sein Kinn nach vorn und wappnet sich gegen meinen Einwand.

Ich bin erschöpft. Die Wunde schmerzt, und mir ist, als badete ich im eigenen Schweiß.

»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

»Ja«, antworte ich. »Die Griechen werden sterben.«

Cheiron hatte einmal gesagt, dass Nationen die törichtste Erfindung der Sterblichen seien. »Niemandes Wert ist größer als der des anderen.«

»Aber wie steht’s um den Wert eines Freundes?«, hatte Achill gefragt. »Oder um den eines Bruders? Soll man ihn genauso behandeln wie einen Fremden?«

»Darüber streiten Philosophen«, hatte Cheiron geantwortet. »Zugegeben, dein Freund oder Bruder besitzt für dich einen größeren Wert. Doch der Fremde ist auch eines anderen Freund oder Bruder. Wer also ist wichtiger?«

Wir waren damals vierzehn und nicht weise genug für solche Fragen. Auch jetzt mit achtundzwanzig tun wir uns schwer damit.

Er ist meine halbe Seele, um die Worte der Dichter zu gebrauchen. Bald wird er tot sein und nur seine Ehre wird ihn überdauern. Sie ist sein Kind, sein teuerster Besitz. Sollte ich ihm deshalb Vorwürfe machen? Ich habe Brisëis gerettet. Ich kann nicht alle retten.

Inzwischen weiß ich, wie ich auf Cheirons Frage antworten würde. Ich würde sagen: Es gibt keine Antwort. Es ist gleich, wie man sich entscheidet, man liegt doch falsch.

Am Abend gehe ich zurück in Agamemnons Lager. Unterwegs sehe ich mich neugierigen und mitleidsvollen Blicken ausgesetzt. Alle scheinen sich zu fragen, ob mir Achill folgen wird. Er tut es nicht.

Als ich ihm vorhin sagte, wohin ich gehe, schien wieder ein Schatten auf ihn zu fallen. »Sag ihr, dass es mir leidtut«, bat er mich, den Blick gesenkt. Ich habe nichts darauf entgegnet. Tut es ihm leid, weil er sich jetzt noch besser zu rächen weiß, nämlich nicht nur an Agamemnon, sondern an dem ganzen undankbaren Heer? Ich verdränge diesen Gedanken. Es tut ihm leid. Das soll reichen.

»Komm herein«, sagt sie, und ihre Stimme klingt fremd. Sie trägt ein golddurchwirktes Kleid, eine Halskette aus Lapislazuli und silberne, fein ziselierte Armreifen, die wie Rüstzeug klirren, wenn sie sich bewegt.

Mir fällt auf, dass sie sich unwohl fühlt. Wir haben keine Zeit, miteinander zu reden, denn schon betritt Agamemnon hinter mir das Zelt.

»Ich hoffe, du siehst, wie gut sie es bei mir hat«, sagt er. »Das ganze Lager wird bezeugen können, dass ich an ihr meine Hochachtung vor Achill zum Ausdruck bringe. Er braucht sich nur zu entschuldigen, und ich werde ihn mit Ehren überhäufen. Es ist doch sehr bedauerlich, dass ein so junger Mann bereits so stolz ist.«

Der selbstgefällige Ausdruck auf seinem Gesicht macht mich zornig. Aber was habe ich anderes erwartet? Ich habe diesen Tausch in die Wege geleitet. Ihre Sicherheit für seine Ehre. »Das ist dein Verdienst, großmächtiger König.«

»Berichte deinem Freund, dass ich sie gut behandle«, fährt Agamemnon fort. »Du kannst jederzeit kommen, um dich davon zu überzeugen.« Er grinst und macht keinerlei Anstalten zu gehen.

Ich sehe Brisëis an. Sie hat mir ein paar Worte ihrer Sprache beigebracht, mit denen ich mich jetzt an sie wende.

»Geht es dir wirklich gut?«

»Ja, durchaus«, antwortet sie im anatolischen Singsang. »Wie lange werde ich hierbleiben müssen?«

»Ich weiß es nicht.« Wie lange muss ein Eisen im Feuer liegen, bist es weich und biegsam ist? Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich komme bald wieder«, sage ich auf Griechisch.

Sie nickt.

Agamemnon schaut mir nach. Ich hörte ihn fragen: »Was hat er gesagt?«

Beim Hinausgehen höre ich ihre Antwort: »Er hat mein Kleid bewundert.«

Am nächsten Morgen führen alle Könige ihre Heere in den Kampf gegen die Trojaner. Nur die Truppen aus Phthia nehmen nicht daran teil. Achill und ich verweilen beim Frühstück. Warum auch nicht? Es gibt nichts anderes zu tun. Wir könnten schwimmen gehen, dem Müßiggang frönen oder den ganzen Tag um die Wette laufen. Seit unserer Ausbildung am Pelion haben wir nicht mehr so viel freie Zeit gehabt.

Aber es kommt uns nicht so vor wie Müßiggang. Es ist eher so, als hielten wir die Luft an wie ein Adler, ehe er auf seine Beute herabstürzt. Ich habe meine Schultern eingezogen und kann es mir nicht verkneifen, immer wieder auf den menschenleeren Strand hinauszublicken. Wir warten auf ein Zeichen der Götter.

Lange müssen wir nicht warten.

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