Dreiunddreißigstes Kapitel

Die Meeresnymphen kommen und ziehen lange Schleppen aus Seetang hinter sich her. Sie waschen seinen Leichnam mit Rosenwasser und Nektar und flechten ihm Blumen ins goldene Haar. Die Myrmidonen errichten einen Scheiterhaufen und legen ihn darauf. Als die Flammen ihn verzehren, weinen die Nymphen. Von seiner schönen Gestalt bleibt nur graue Asche übrig.

Viele weinen nicht: Brisëis, die sich nicht rührt, bis die letzte Glut verglommen ist; Thetis, der der Wind durch die schwarzen, schlangenhaften Haare weht; Fürsten und Fußsoldaten. Sie stehen abseits aus Furcht vor den gespenstisch heulenden Nymphen und den blitzenden Augen von Thetis. Den Tränen nahe ist Ajax. Vielleicht denkt er daran, endlich selbst Aristos Achaion zu sein.

Der Scheiterhaufen ist heruntergebrannt. Wenn die Asche nicht bald eingesammelt wird, holt sie sich der Wind. Doch Thetis, deren Aufgabe es ist, sie zu bergen, rührt sich nicht. Odysseus wird geschickt, um mit ihr zu reden.

Er kniet vor ihr nieder. »Göttin, tu uns deinen Willen kund. Sollen wir die Asche einsammeln?«

Sie schaut auf ihn hinab. Ob sie trauert oder nicht, ist ihr nicht anzusehen.

»Sammelt sie. Bestattet sie. Ich habe getan, was ich zu tun bereit war.«

Er verbeugt sich tief. »Große Thetis, dein Sohn wünscht, dass seine Asche mit der –«

»Ich weiß. Tut, was ihr für richtig haltet. Mich geht es nichts mehr an.«

Dienerinnen sammeln die Asche ein und tragen sie zu der goldenen Urne, in der ich ruhe. Werde ich ihn spüren? Ich denke an die Schneeflocken, die uns am Pelion kühl auf die roten Wangen gefallen sind. Meine Sehnsucht nach ihm ist wie nagender Hunger. Seine Seele wartet irgendwo, bleibt aber für mich unerreichbar. Begrabt uns unter einem Stein mit unseren Namen. Lasst uns frei sein. Seine Asche vermengt sich mit meiner, doch ich spüre nichts.

Agamemnon lässt über den Bau einer Gruft beraten.

»Sie sollte dort sein, wo er gefallen ist«, schlägt Nestor vor.

Machaon schüttelt den Kopf. »Angemessener wäre es, sie in der Nähe der Agora zu errichten.«

»Damit wir tagtäglich Anstoß daran nehmen? Ausgeschlossen«, widerspricht Diomedes.

»Auf dem Hügel hinter dem Lager der Myrmidonen«, sagt Odysseus.

Egal wo.


»Ich bin gekommen, um den Platz meines Vaters einzunehmen«, schallt eine helle Stimme durch den Raum.

Die Köpfe der Könige fahren herum. Im Eingang des Pavillons steht ein Junge mit roten Haaren, die schimmern wie Flammenränder. Er ist wunderschön, aber auf seltsam kalte Weise, schön wie ein Wintermorgen. Kaum einer im Raum, der nicht sofort gewusst hätte, wer sein Vater war. Der Name steht ihm ins Gesicht geschrieben. Nur das Kinn ist anders; es läuft spitz zusammen wie das seiner Mutter.

»Ich bin Achills Sohn«, erklärt er.

Die Könige starren ihn an. Nur wenige wussten, dass Achill ein Kind hat. Odysseus hat sich als Erster wieder gefasst und fragt: »Und wie ist dein Name, Sohn des Achill?«

»Neoptolemos, aber genannt werde ich Pyrrhos.« Feuer. Ausschließlich der Haare wegen. »Wo hat mein Vater gesessen?«

Idomeneus sitzt auf dessen Platz. Er steht auf. »Hier.«

Pyrrhos mustert den kretischen König mit schneidendem Blick. »Ich verzeihe dir deine Anmaßung. Du wusstest nicht, dass ich komme.« Er setzt sich. »Herr von Mykene, Herr von Sparta.« Er neigt den Kopf kaum merklich. »Ich will mich euren Truppen anschließen.«

Agamemnons Gesicht verrät ungläubiges Staunen und Missfallen zugleich. Er hat geglaubt, sein Problem mit Achill sei gelöst. Doch nun scheint es sich in Person dieses seltsamen Jünglings fortzusetzen.

»Dazu fehlt es dir an Jahren.«

Er ist elf.


»Ich habe bei den Göttern auf dem Meeresgrund gelebt«, sagt er. »Ich habe ihren Nektar getrunken und mich an Ambrosia gelabt. Jetzt werde ich den Sieg für euch erringen. Die Schicksalsgöttinnen haben geweissagt, dass Troja nicht ohne mich fällt.«

»Was?« Agamemnon ist entsetzt.

»Wenn dem so ist, freuen wir uns, dich in unseren Reihen zu wissen«, sagt Menelaos. »Wir beraten gerade darüber, wo dein Vater bestattet werden soll.«

»Auf dem Hügel«, beharrt Odysseus.

Menelaos nickt. »Ein passender Ort für beide.«

»Beide?«

Es bleibt eine Weile still.

»Für deinen Vater und seinen Gefährten. Patroklos.«

»Und warum sollte dieser an der Seite des Aristos Achaion begraben werden?«

Die Luft ist zum Schneiden dick. Alle warten auf Menelaos’ Antwort.

»Weil es dein Vater so wollte, Prinz Neoptolemos. Wir können den einen nicht ohne den anderen begraben.«

Pyrrhos hebt sein spitzes Kinn. »Ein Sklave ist fehl am Platz in der Gruft seines Herrn. Zwar lässt sich die Asche beider nicht mehr voneinander trennen, doch werde ich nicht zulassen, dass der Ruhm meines Vaters Schaden nimmt. Für ihn allein soll das Denkmal sein.«

Nein! Lass mich nicht hier ohne ihn.

Die Könige tauschen fragende Blicke miteinander.

»So sei es«, sagt Agamemnon. »Ganz wie du willst.«

Ich bin Luft und Gedanke und kann nichts tun.

Je größer das Denkmal, desto größer der Mensch, dem es gewidmet ist. Die Griechen markieren sein Grab mit einem großen weißen Stein, der bis zum Himmel reicht und mit der Aufschrift ACHILL versehen ist. Er steht für ihn und sagt allen, die vorüberziehen: Er lebte und starb und lebt in der Erinnerung weiter.

Pyrrhos’ Banner trägt das Wappen von Skyros, der Heimat seiner Mutter. Nicht etwa das von Phthia. Auch seine Truppen stammen von der Insel. Pflichtschuldig lässt Automedon die Myrmidonen antreten, um ihn zu begrüßen. Sie sehen ihn mit seinen Kämpfern, alle in strahlender Rüstung, über den Strand auf sich zukommen. Seine rotgoldenen Haare lodern vor der Bläue des Himmels.

»Ich bin Achills Sohn«, stellt er sich ihnen vor. »Eure Dienstbarkeit und Treue geht auf mich als seinen Erben über.« Er heftet seinen Blick auf eine Frau, die ihre Augen niedergeschlagen und die Hände gefaltet hat. Er geht auf sie zu und hebt mit der Hand ihr Kinn an.

»Wie heißt du?«, fragt er.

»Brisëis.«

»Ich habe von dir gehört. Deinetwegen hat mein Vater die Waffen gestreckt.«

In der Nacht schickt er seine Leibwachen zu ihr. Ergeben lässt sie sich abführen und in Pyrrhos’ Zelt bringen. Der sitzt in einem Sessel, ein Bein lässig über die Armlehne gelegt. In dieser Pose hätte man früher auch Achill antreffen können, doch nie wären seine Augen so kalt und leer gewesen wie die des Jungen.

Sie kniet nieder. »Mein Herr.«

»Deinetwegen hat sich mein Vater seinem Heer entfremdet. Es scheint, du bist eine vorzügliche Bettsklavin.«

Brisëis rührt keine Miene. »Deine Worte ehren mich, mein Herr. Doch ich glaube nicht, dass er sich meinetwegen zu kämpfen geweigert hat.«

»Weswegen dann? Deiner Sklavenmeinung nach?« Er zieht eine Braue hoch. Ihn so mit ihr sprechen zu sehen ist schrecklich. Er ist eine Schlange, die jederzeit beißen könnte.

»Ich war Kriegsbeute, und Agamemnon hat ihn entehrt, indem er mich zu sich nahm. Das ist alles.«

»Du warst nicht seine Bettsklavin?«

»Nein, mein Herr.«

»Genug.« Seine Stimme ist scharf. »Belüge mich nie wieder. Du bist die beste Frau im Lager und hast ihm gehört.«

Ihre Schultern straffen sich. »Ich fürchte, du machst dir ein falsches Bild von mir. So glücklich war ich nie.«

»Warum nicht? Was stimmt mit dir nicht?«

Sie zögert. »Mein Herr, hast du von dem Mann gehört, mit dem dein Vater begraben ist?«

Seine Miene verliert jeden Ausdruck. »Er ist ein Niemand.«

»Und doch hat ihn dein Vater geliebt und verehrt. Es war sein Wunsch, mit ihm begraben zu werden. Für mich hatte er keine Verwendung.«

Pyrrhos starrt sie an.

»Mein Herr –«

»Schweig still!«, herrscht er sie an. »Ich will dich lehren, was es heißt, den Aristos Achaion zu belügen.« Er steht auf. »Komm her.« Er ist erst elf, sieht aber um einiges älter aus und hat die Statur eines jungen Mannes.

Ihre Augen sind weit aufgerissen. »Mein Herr, es tut mir leid, dich verstimmt zu haben. Aber du kannst andere fragen, Phoinix oder Automedon. Sie werden bestätigen, dass ich nicht lüge.«

»Ich habe dir einen Befehl erteilt.«

Sie steht auf und zupft nervös an den Falten ihres Gewandes. Lauf weg, flüstere ich. Geh nicht zu ihm. Aber sie geht.

»Mein Herr, was willst du von mir?«

Er tritt mit funkelnden Augen auf sie zu. »Du wirst tun, was ich verlange.«

Ich sehe nicht, woher das Messer kommt. Sie hat es plötzlich in ihrer Hand und fährt damit auf ihn nieder. Dabei hat sie noch nie einen Mann getötet. Sie weiß nicht, wie die Klinge zu führen ist, und es fehlt ihr die nötige Entschlossenheit. Zudem reagiert er blitzschnell und weicht ihr aus. Die Klinge streift seine Haut und ritzt sie auf, ohne ins Fleisch einzudringen. Mit einem wuchtigen Schlag streckt er sie zu Boden. Sie schleudert ihm das Messer ins Gesicht, steht auf und rennt.

Sie flieht aus dem Zelt, an zwei Wachen vorbei, die zu langsam sind, sie zu greifen, hinunter zum Strand und ins Meer. Pyrrhos setzt ihr nach. Sein Leibrock ist zerrissen und blutdurchtränkt. Er bleibt neben den verdutzten Wachen stehen und nimmt ruhig einen Speer aus der Hand des einen.

»Wirf!«, drängt dieser ihn, denn sie ist schon jenseits der Brandung.

»Moment«, murmelt Pyrrhos.

Wie auf Vogelschwingen gleitet sie durch die grauen Wellen. Sie war schon immer die beste Schwimmerin von uns dreien und hat einmal, wie sie uns versicherte, schwimmend die Insel Tenedos erreicht, die zwei Bootsstunden vor der Küste liegt. Zu meiner großen Erleichterung sehe ich, wie sie sich immer weiter entfernt. Der Einzige, dessen Speer sie jetzt noch erreichen könnte, ist tot. Sie ist frei.

Der Einzige bis auf seinen Sohn.

Der Speer, vom Strand aus geschleudert, fliegt lautlos und präzise. Seine Spitze trifft auf ihren Rücken wie ein Stein auf ein treibendes Laubblatt. Das Wasser verschlingt sie.

Phoinix schickt einen Mann, um sie zu bergen, doch er findet sie nicht. Vielleicht sind ihre Götter freundlicher als die unseren und gewähren ihr Frieden. Dafür würde ich noch einmal mein Leben hingeben.

Die Prophezeiung bewahrheitet sich. Pyrrhos ist gekommen und Troja fällt, jedoch nicht allein durch ihn. Auch mit Hilfe des Holzpferds und der List des Odysseus sowie des riesigen Heers. Aber er ist derjenige, der Priamos tötet und Hektors Frau Andromache aufspürt, die sich mit ihrem Sohn in einem Keller versteckt hält. Er reißt ihr das Kind aus den Armen und zerschmettert seinen Kopf an der Mauerwand. Sogar Agamemnon erbleicht, als er davon hört.

Das Herz der Stadt ist gebrochen. Die griechischen Könige beladen ihre Schiffe mit goldenen Säulen und Prinzessinnen. Schneller, als ich es für möglich gehalten habe, packen sie ihre Zelte und Gerätschaften ein und räumen das Lager. Der Strand gleicht bald einem bis auf die Knochen abgenagten Kadaver.

Ich zeige mich in ihren Träumen. Geht nicht, flehe ich sie an. Nicht bevor ihr mir meinen Frieden gegeben habt. Doch niemand antwortet.

Pyrrhos wünscht ein letztes Opfer für seinen Vater, bevor sie in See stechen. Die Könige versammeln sich am Grab. Mit seinen Gefangenen Andromache, Königin Hekabe und der jungen Prinzessin Polyxena im Gefolge zelebriert Pyrrhos das Ritual. Er führt die drei Frauen nunmehr ständig mit sich zum Zeichen seines Triumphs.

Kalchas bringt ein weißes Kalb zum Grabstein. Doch als er zum Messer greift, hält Pyrrhos ihn zurück. »Ein einziges Kalb? Ist das alles? Nur das, was jedem gewöhnlichen Mann zukäme? Mein Vater war der Aristos Achaion, der beste von allen, und sein Sohn hat sich als noch besser erwiesen. Und ihr wollt geizen?«

Pyrrhos packt Polyxena bei ihrem Gewand und zerrt sie zum Altar. »Hier ist, was die Seele meines Vaters verdient.«

Nein, das kann er nicht wagen.


Wie zur Antwort schmunzelt Pyrrhos. »Ihm wird’s gefallen«, sagt er und schlitzt ihr die Kehle auf.

Ich kann es immer noch schmecken, dieses Gemisch aus Salz und Eisen. Es sickert ins Gras, unter dem wir begraben sind, und entsetzt mich. So ist es nicht gemeint, wenn es heißt, dass die Toten nach Blut dürsten. Nicht nach ihrem.

Morgen werden die Griechen aufbrechen. Ich bin verzweifelt.

Odysseus.


Er schläft, wenn auch nicht tief. Seine Augenlider flackern.

Odysseus. Hör mich an!


Er zuckt, ist selbst im Schlaf nicht entspannt.

Als du ihn um Hilfe gebeten hast, habe ich geantwortet. Willst du mir jetzt nicht ebenfalls antworten? Du weißt, was er für mich war, wusstest es schon, bevor du uns hierhergeführt hast. Unser Friede liegt in deiner Hand.



»Entschuldige, dass ich so spät noch störe, Prinz Pyrrhos.« Er schenkt ihm sein freundlichstes Lächeln.

»Ich schlafe nicht«, sagt Pyrrhos.

»Das trifft sich gut. Und es erklärt, warum du mehr schaffst als alle anderen.«

Pyrrhos mustert ihn aus verengten Augen, unschlüssig, wie er das Kompliment deuten soll.

»Wein?« Odysseus hebt einen Schlauch in die Höhe.

»Warum nicht?« Pyrrhos deutet mit der Kinnspitze auf zwei Kelche. »Lass uns allein«, sagt er zu Andromache. Während sie ihre Kleider zusammenrafft, schenkt Odysseus ein.

»Nun, du wirst zufrieden sein mit dem Erreichten. Erst elf Jahre alt und schon ein Held. Das können nur wenige von sich behaupten.«

»Keiner.« Seine Stimme ist kalt. »Was willst du?«

»Ich fürchte, mein Gewissen regt sich.«

»Oh –«

»Wir brechen morgen auf und lassen viele tote Griechen hinter uns zurück. Sie sind alle bestattet, und ihr Name kennzeichnet ihr Grab, das an sie erinnert. Von einem abgesehen. Obwohl ich kein frommer Mann bin, gefällt mir der Gedanke nicht, dass Seelen unter uns Lebenden wandeln, ohne zur Ruhe zu kommen. Ich möchte nicht von rastlosen Geistern heimgesucht werden.«

Pyrrhos hört zu und verzieht verächtlich den Mund, wie es seine Art ist.

»Ich kann nicht behaupten, ein Freund deines Vaters gewesen zu sein. Aber ich habe seine Fähigkeiten bewundert und ihn als Kämpfer wertgeschätzt. In zehn Jahren lernt man einen Menschen kennen, ob man es will oder nicht. Darum bin ich überzeugt, dein Vater wollte nicht, dass Patroklos vergessen wird.«

Pyrrhos versteift sich. »Hat er das so gesagt?«

»Er hat verlangt, dass die Asche des Gefährten mit seiner vermengt und eins wird. Damit wollte er also auch das Gedenken an ihn bewahrt wissen.« Zum ersten Mal freue ich mich über seine Cleverness.

»Ich bin sein Sohn. Ich entscheide, was sein Geist wünscht.«

»Eben aus diesem Grunde bin ich gekommen. Ich selbst habe nichts zu verlieren, bin ein ehrlicher Mann, der Wert darauf legt, das Recht geschieht.«

»Hältst du für rechtens, dass der Ruhm meines Vaters um eines Sklaven willen geschmälert wird?«

»Patroklos war kein Sklave. Als Prinz geboren, wurde er in die Verbannung geschickt. Er hat unserem Heer tapfer gedient, und viele bewunderten ihn. Durch seine Hand fiel Sarpedon, der nach Hektor stärkste Krieger Trojas.«

»In meines Vaters Rüstung. Dank seines Ruhms.«

Odysseus neigt den Kopf zur Seite. »Zugegeben. Aber Ruhm ist etwas Sonderbares. Manche erringen ihn erst nach ihrem Tod, und bei vielen verblasst er schon zu Lebzeiten. Was die eine Generation bewundert, verabscheut mitunter die nächste.« Er breitet seine großen Hände aus. »Niemand weiß, wer den Vernichtungsfeldzug der Erinnerung überlebt.« Er lächelt. »Vielleicht werde ich eines Tages berühmt sein, womöglich berühmter als du.«

»Das bezweifle ich.«

Odysseus zuckt mit den Achseln. »Wir können es nicht vorhersehen, denn wir sind nur Menschen und unser Leben ein kurzes Aufflackern. Die uns nachfolgen, werden uns nach Belieben erhöhen oder herabsetzen. Patroklos könnte denen angehören, die später hoch geachtet werden.«

»Nie und nimmer.«

»Es wäre zumindest eine gute Tat, fromm und großherzig, eine Ehrung deines Vaters und eine Gefälligkeit gegenüber einem Toten, der ein Recht auf Ruhe hat.«

»Er ist eine Schande für meinen Vater und für mich. Nimm deinen sauren Wein und geh!« Seine Worte klingen wie brechendes Holz.

Odysseus steht auf, rührt sich aber nicht vom Fleck. »Hast du eine Frau?«, fragt er.

»Natürlich nicht.«

»Ich habe meine Frau seit zehn Jahren nicht gesehen und weiß nicht, ob ich sie jemals lebend wiedersehen werde.«

Ich dachte immer, das mit seiner Frau sei ein Scherz, eine frei erfundene Geschichte. Aber er spricht jetzt langsam, mit milder Stimme und es scheint, als würde er jedes Wort aus großer Tiefe hervorbringen müssen.

»Ich tröste mich damit, dass wir spätestens in der Unterwelt wieder zusammentreffen. Dass wir uns, wenn nicht zu Lebzeiten, immerhin dort wiedersehen. Ohne sie will ich nicht sein.«

»Mein Vater hatte keine solche Frau«, sagt Pyrrhos.

Odysseus betrachtet die unergründliche Miene des jungen Mannes. »Ich habe mein Möglichstes getan«, sagt er. »Dass ich es versucht habe, möge in Erinnerung bleiben.«

Ich bin ihm dankbar.

Die Griechen segeln davon und nehmen meine Hoffnung mit sich. Ich kann ihnen nicht folgen, denn ich bin gebunden an diesen Ort, der meine Asche birgt unter dem aus Stein gehauenen Obelisken seines Grabmals. Ich weiß nicht, ob er sich kalt oder warm anfühlt, wenn man die Hand darauf legt. ACHILL steht darauf geschrieben. Er ist in die Unterwelt gefahren, ich bleibe hier zurück.


Menschen besuchen sein Grab. Manche halten Abstand, als fürchteten sie, sein Geist könnte daraus hervorspringen und sie zum Kampf herausfordern. Andere treten näher heran, um die Szenen aus seinem Leben zu betrachten, die auf die Schnelle, aber klar erkennbar in den Stein gemeißelt wurden: wie er Memnon tötet, Hektor, Penthesilea. Nichts als Mord und Totschlag. Ähnliche Bilder werden Pyrrhos’ Grabmal schmücken. Wird er damit in Erinnerung bleiben?

Thetis kommt. Wo sie geht und steht, verdorrt das Gras unter ihren Füßen. Ich empfinde Hass wie schon lange nicht mehr. Sie schuf Pyrrhos und liebt ihn mehr als Achill.

Sie schaut sich die Reliefs auf dem Grabstein an, Mordszene um Mordszene, und streckt die Hand aus, um sie zu berühren. Ich kann es nicht ertragen.

Thetis, sage ich.

Ihre Hand schreckt zurück. Sie verschwindet.

Später kommt sie wieder. Thetis. Sie reagiert nicht, steht nur stumm da und betrachtet das Grabmal ihres Sohnes.

Auch ich liege hier begraben. In Achills Urne.


Sie rührt sich nicht. Sie hört mich nicht.

Jeden Tag kommt sie. Sie setzt sich vor den Stein, und mir ist, als spürte ich ihre Kälte durch das Erdreich bis zu mir herabdringen. Ich vermag es nicht, sie zu vertreiben, aber ich kann sie hassen.

Du bezichtigst Cheiron, ihn verdorben zu haben. Aber das ist nicht wahr. Wenn ihn einer verdorben hat, dann warst du es allein, und das weißt du. Sieh nur, als was er im Gedächtnis bleiben wird. Als Mörder von Hektor und Troilos. Für grausame Taten, die er in tiefster Trauer begangen hat.


Ihr Gesicht ist steinern wie das Grabmal. Tage kommen und gehen.

Vielleicht verstehen Götter solche Taten als tugendhaft. Aber was soll am Töten ruhmreich sein? Menschen umzubringen ist nicht schwer. Sorg dafür, dass die Geschichten, die man sich von ihm erzählt, mehr enthalten.


»Mehr wovon?«, fragt sie.

Das erste Mal habe ich keine Angst vor ihr. Was könnte sie mir auch antun?

Er gab Hektors Leichnam an Priamos zurück, antworte ich. Daran soll man sich erinnern.

Sie schweigt lange. »Und woran noch?«

An sein Leierspiel und seine wunderschöne Stimme.


Sie scheint auf mehr zu warten.

An die Mädchen, die er unter seinen Schutz stellte, damit sie nicht in die Hände eines anderen gerieten.


»Dafür hast du gesorgt.«

Warum bist du nicht bei Pyrrhos?


Ihre Augen flackern. »Er ist tot.«

Wie ich mich freue! Wie ist er gestorben?

»Agamemnons Sohn hat ihn getötet.«

Warum?


Sie lässt sich mit der Antwort lange Zeit. »Er raubte dessen Braut.«

»Du wirst tun, was ich verlange«, hatte er auf Brisëis’ Frage geantwortet, was er von ihr wolle. Hast du ihn Achill vorgezogen?

Sie presst die Lippen aufeinander. »Hast du noch andere Erinnerungen zu bieten?«

Ich bestehe aus Erinnerungen.


»Dann sprich!«

Lieber würde ich schweigen, doch meine Trauer um ihn ist so viel stärker als meine Wut. Ich möchte von dem sprechen, was nicht tot oder göttlich ist. Ich möchte, dass er lebt.

Es fällt mir schwer, einen Anfang zu finden. Aber meine Erinnerungen quellen hervor wie Wasser im Frühling, so schnell, dass ich sie nicht eindämmen kann. Es sind keine Worte, die mir einfallen, sondern eher Träume, die wie Düfte aus regenfeuchter Erde aufsteigen. Dies und das kommt mir in den Sinn. Der Glanz seiner Haare im Licht der Sommersonne. Sein Gesicht, wenn er läuft. Seine Augen, ernst und aufgeschlossen. Dies und das. So viele glückliche Momente drängen nach oben.

Sie schließt die Augen. Ihre Lider haben die Farbe blassen Sandes. Zuhörend erinnert auch sie sich.

Sie erinnert sich, an einem Strand gestanden zu haben. Wie der Schweif eines Pferdes fällt ihr langes schwarzes Haar bis weit über die Schultern herab. Vor den Felsen brechen sich schiefergraue Wellen. Ein Sterblicher überwältigt sie mit seinen groben Händen und tut ihr Gewalt an. Später vermählen die Götter sie mit ihm.

Sie erinnert sich an das Kind, das strahlend in der Dunkelheit ihres Leibes heranwächst. Und sie wiederholt im Stillen, was ihr die drei alten Frauen geweissagt haben: Dein Sohn wird seinen Vater überragen.

Die anderen Götter erschraken darüber, denn sie wissen, was mächtige Söhne ihren Vätern antun. Zeus’ Blitze stinken immer noch nach versengtem Fleisch und Vatermord. Sie haben ihr einen Sterblichen an die Hand gegeben, damit er das mächtige Kind im Zaum halte, es vermenschliche und vermindere.

Sie hält ihren Bauch mit den Händen und spürt ihn darin heranwachsen. Es ist ihr Blut, das ihn stark macht.

Freudig eilt sie über den Strand auf unser Zelt zu. Er hat soeben Hektor erschlagen. Unsterblicher Ruhm ist ihm gewiss. Sie teilt die Zeltbahn und will sich mit ihm freuen, schaut aber in ein Gesicht, das entstellt ist vor Kummer und Gram. Er weicht ihr aus, als sie ihn zu berühren versucht. Sein Anblick, fleckig, kläglich und matt, entsetzt sie.

Warum gehst du nicht zu ihm?


»Ich kann nicht.« Dem schmerzlichen Klang ihrer Stimme nach scheint etwas in ihr zu zerbrechen. »Ich kann nicht zu ihm hinabsteigen.« In die Unterwelt mit ihren finsteren Höhlen und flackernden Seelen, zu der nur Tote Zugang haben. »Mehr bleibt mir nicht«, sagt sie mit starrem Blick auf das Denkmal. Eine Ewigkeit aus Stein.

Ich beschwöre das Bild des Jungen herauf. Sein Strahlen, als er die Feigen in den Händen hält. Seine grünen Augen, die mich anlachen. Fang, sagt er. Ich sehe ihn an einem Ast über dem Fluss hängen, seine Silhouette scharf gezeichnet gegen den Himmel. Sein schläfriger Atem warm an meinem Ohr. Wenn du gehen musst, werde ich dich begleiten. In seiner wonnigen Umarmung sind meine Ängste vergessen.

Immer mehr Erinnerungen tauchen auf. Sie hört zu und starrt dabei auf die Körnung des Steins. Darin sind wir alle verewigt, die Gottheit, der Sterbliche und der Junge, der beides war.

Die Sonne versinkt im Meer und wirft ihre Farben über das Wasser. In der schleichend heraufziehenden Dämmerung sitzt sie da und schweigt. Ihr Gesicht ist so makellos wie an jenem Tag, als ich sie zum ersten Mal sah. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt, als wollte sie etwas für sich behalten.

Ich habe ihr alles über uns gesagt und nichts zurückbehalten.

Die Sonne geht im Westen unter und der Tag neigt sich dem Ende.

»Ich hätte keinen Gott aus ihm machen können«, sagt sie mit brüchiger Stimme.

Aber das hast du doch.


Sie schweigt lange, sitzt einfach nur da und blickt ins sterbende Licht.

»Ich habe es getan«, sagt sie schließlich, was ich nicht sofort verstehe. Doch dann sehe ich den Grabstein und ihr Zutun. ACHILL, steht darauf zu lesen. Und daneben: PATROKLOS.

»Geh«, fordert sie mich auf. »Er wartet auf dich.«

Zwei Schatten streben in hoffnungsloser, schwerer Düsternis aufeinander zu. Ihre Hände berühren sich, und wie aus hundert zerbrochenen goldenen Urnen flutet helles Sonnenlicht.


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