Achtes Kapitel

Die zum Frühstück versammelten Jungen wussten bereits, dass er gegangen war. Sie tuschelten miteinander und beäugten mich, während ich mein Essen zu mir nahm. Ich kaute und schluckte, und das Brot lag mir wie ein Stein im Magen. Mich drängte es hinaus aus dem Palast an die frische Luft.

Ich ging in den Olivenhain. Der Boden unter meinen Füßen war ausgetrocknet. Ich fragte mich, ob die anderen Jungen jetzt, da er weg war, von mir erwarteten, dass ich mich ihnen anschließen würde, ob sie es überhaupt bemerkten, wenn ich es täte. Fast hoffte ich, sie würden es bemerken. Und mich verprügeln.

Ich konnte das Meer riechen. Es war überall, in meinen Haaren, in den Kleidern und auf der schweißnassen Haut. Selbst hier im Hain mit seinen Gerüchen von Laub und Erde suchte mich diese salzige Pest auf. Mir drehte sich der Magen um und ich lehnte mich an den schrundigen Stamm eines Baumes. Die raue Rinde stützte meinen Kopf. Du musst weg von diesem Gestank, dachte ich.

Ich ging nach Norden, zur Straße hin, einer staubigen Bahn, geebnet von Rädern und Hufen. Sie gabelte sich jenseits des Palasts. Die eine Abzweigung führte nach Südwesten über Weiden und sanft geschwungene Hügel. Von dort war ich vor drei Jahren gekommen. Der Weg auf der anderen Seite führte ins Othrys-Gebirge und auf den Pelion zu, jenen noch weiter im Norden aufragenden Gebirgszug. Ich folgte der Straße mit meinen Augen. Sie wand sich an den bewaldeten Ausläufern entlang und verschwand in der Ferne.

Die Sonne brannte glühend heiß vom Sommerhimmel herab, als wollte sie mich zurück in den Palast treiben. Doch ich blieb. Ich hatte von der Schönheit unserer Bergwelt gehört, von den Feigenkakteen und Zypressen, von den Bächen, die Schmelzwasser führten. Dort oben würde es kühl sein und schattig. Weit weg von den gleißenden Stränden und funkelnden Wellen.

Ich könnte fortgehen. Der Einfall kam plötzlich und überraschend. Ich war zur Straße gegangen, um mich vom Meer zu entfernen. Doch nun, da ich sie erreicht hatte, lagen die Berge vor mir. Und Achill. Mein Atem ging in kurzen Stößen, als versuchte er, mit meinen Gedanken Schritt zu halten. Es gab nichts, was ich zurücklassen würde, denn ich besaß nichts. Selbst der Leibrock und die Sandalen gehörten Peleus. Ich brauche nicht einmal zu packen.

Nur eines hielt mich noch zurück, es war die Leier meiner Mutter, die im Holzkasten der Musikkammer lag. Ich zögerte einen Moment, dachte, dass ich sie holen und mitnehmen könnte. Aber es war bereits Mittag. Mir blieb nur der Nachmittag zur Flucht. Am Abend, dachte ich, würde man mein Fehlen bemerken und nach mir schicken. Ich schaute zum Palast zurück und konnte niemanden sehen. Die Wachen waren woanders. Jetzt oder nie, dachte ich.

Ich rannte los. Weg von dem Palast, die Straße hinunter auf den Wald zu, auf dem heißen Sandboden, der mir die Sohlen verbrannte. Ich rannte und gelobte, dass, wenn ich ihn je wieder sähe, meine Gedanken vor ihm verschließen würde. Ich wusste nun um den Preis, den es kostete, wenn ich es nicht täte. Die Beine fingen zu schmerzen an, und dass mir ein Stechen durch die Brust ging, war mir willkommen. Ich rannte.

Der Schweiß floss in Strömen und tropfte mir vom Kinn. Ich war bald über und über von Schmutz und Staub bedeckt, Laub klebte an meinen Beinen. Alles, was ich von der Welt um mich herum wahrnahm, waren einzig meine stampfenden Füße und die nächsten staubigen Schritte auf meinem Weg.

Schließlich – nach einer Stunde? Oder waren es zwei? – musste ich anhalten. Keuchend beugte ich mich vornüber. Mir wurde schwarz vor Augen, und das Blut rauschte in den Ohren. Ich war im Wald, die Straße von dichtem Gestrüpp gesäumt, und Peleus’ Palast lag weit hinter mir. Rechts erhoben sich die Othrys-Berge, dahinter die Gipfelgrate des Pelion. Ich versuchte die Entfernung zu schätzen. Zehntausend Schritte? Fünfzehntausend? Im Schritttempo setzte ich meinen Weg fort.

Stunden vergingen. Mir schwanden die Kräfte, die Füße schmerzten, und die Sonne senkte sich herab. In vier oder fünf Stunden würde es dunkel sein. Ich konnte mir ausrechnen, dass der Pelion vor Nachtanbruch nicht zu erreichen war. Ich hatte nichts zu essen, kein Trinkwasser und auch keine Hoffnung, irgendwo Unterschlupf zu finden. Ich hatte nichts als meine Sandalen an den Füßen und die von Schweiß durchnässte Tunika.

Ich würde Achill nicht einholen können, so viel stand fest. Er hatte längst die Straße verlassen und war jetzt ohne Pferd auf den steilen Hängen zu Fuß unterwegs. Ein guter Fährtenleser würde an Abdrücken oder geknickten Pflanzen erkennen können, welchen Weg er eingeschlagen hatte. Doch darauf verstand ich mich nicht. Ich entdeckte nirgends Spuren, denen ich hätte folgen können. Meine Ohren summten vom Zirpen der Zikaden, schrillen Vogelrufen und meinem eigenen Keuchen. Plötzlich überkamen mich Hunger und Verzweiflung.

Und dann gab es da noch etwas, einen Laut, kaum vernehmlich. Aber ich nahm ihn wahr, und er ließ mir trotz der Hitze das Blut in den Adern gefrieren. Ich kannte dieses Geräusch. Es war eines von heimlicher Bewegung, die lautlos zu sein versuchte, ein gelegentliches Rascheln, ein falsch gesetzter Tritt.

Ich lauschte bang. Wo kam es her? Ich schaute mich nach allen Seiten um und rührte mich nicht vom Fleck. Im Laufschritt unterwegs hatte ich nicht an Gefahr gedacht, doch jetzt malte ich sie mir aus: Soldaten, von Peleus oder womöglich sogar von Thetis geschickt, weiße, kalte Hände, die sich mir um den Hals legten. Oder Wegelagerer. Mir war bekannt, dass sie an den Straßen lauerten, und ich erinnerte mich an Geschichten über junge Männer, die geraubt und gequält worden waren. Ich hielt die Luft an und stand still, um mich nicht zu verraten. Mein Blick fiel auf ein Büschel blühender Schafgarbe, in dem ich mich würde verstecken können. Jetzt. Los.

Ich bemerkte, wie sich etwas zu meiner Linken im Wald bewegte, und fuhr mit dem Kopf herum. Zu spät. Etwas – jemand – schlug von hinten zu und stieß mich nach vorn. Ich stürzte der Länge nach zu Boden mit dem Angreifer im Nacken und erwartete mit geschlossenen Augen den Stich einer Klinge.

Doch der blieb aus. Stille ringsum. Ich spürte Knie im Rücken, so platziert, dass sie nicht wehtaten.

»Patroklos.« Pa-tro-klos.

Ich rührte mich nicht.

Der Druck der Knie ließ nach. Hände wälzten mich behutsam herum. Achill blickte auf mich herab.

»Ich hatte gehofft, dass du mir folgst«, sagte er. Meine Nerven flatterten vor Erleichterung und die Anspannung löste sich. Ich sog seinen Anblick in mich auf, sein helles Haar, seine geschwungenen Lippen. Meine Freude war so groß, dass ich nicht zu atmen wagte. Was hätte ich sagen können? Tut mir leid, vielleicht. Oder irgendetwas anderes. Ich öffnete den Mund.

»Ist er verletzt?«

Eine tiefe Stimme meldete sich aus dem Hintergrund. Achill warf einen Blick über die Schulter. Am Boden liegend, sah ich nur die Beine eines Pferdes, dunkelbraun und die Fesseln voller Staub.

Wieder erklang die Stimme, maßvoll und bedächtig. »Kann es sein, Achill Pelides, dass er der Grund ist, warum du noch nicht zu mir auf den Berg gekommen bist?«

Ich versuchte, mir einen Reim darauf zu machen. Achill war nicht zu Cheiron gegangen und hatte stattdessen hier auf mich gewartet.

»Zum Gruße, Meister Cheiron. Ich bitte um Entschuldigung. Ja, deshalb bin ich säumig.« Achill sprach mit seiner Prinzenstimme.

»Verstehe.«

Ich wünschte, Achill wäre aufgestanden, kam ich mir doch töricht vor, wie ich so unter ihm am Boden lag. Und ich hatte Angst. Die Stimme des Mannes ließ zwar keine Verärgerung erkennen, aber auch keine Freundlichkeit. Sie war klar, ernst und leidenschaftslos.

»Steh auf«, sagte er.

Achill gehorchte.

Ich hätte laut aufgeschrien, wäre mir nicht vor Schreck die Luft weggeblieben. Stattdessen gab ich nur ein Winseln von mir und kroch hastig zurück.

Die kräftigen Vorderläufe des Pferds trugen den nicht weniger kräftigen Rumpf eines Mannes. Ich starrte auf die sonderbare Nahtstelle zwischen Tier und Mensch, diesen Übergang zwischen glatter Haut und glänzendem braunem Fell.

Achill verbeugte sich. »Meister Zentaur«, sagte er. »Entschuldige meine Verspätung. Ich musste auf meinen Gefährten warten.« Er kniete nieder in den Staub. »Bitte verzeih mir. Schon seit langem wünsche ich mir, dein Schüler zu sein.«

Die Miene des Mannes – des Zentauren – war so ernst wie seine Stimme. Er war schon betagt, wie ich sah, und hatte einen sorgfältig gestutzten schwarzen Bart.

Er betrachtete Achill einen Moment lang. »Du musst vor mir nicht niederknien, Pelides. Obwohl ich deine Höflichkeit zu schätzen weiß. Und wer ist dieser Gefährte, der dich aufgehalten hat?«

Achill schaute mich an und reichte mir seine Hand. Ich ergriff sie und ließ mir aufhelfen.

»Das ist Patroklos.«

Es blieb eine Weile still. Anscheinend war es nun an mir, zu sprechen.

»Mein Herr«, sagte ich und verbeugte mich.

»Ich bin kein Herr, Patroklos Menoitiades.«

Mein Kopf schnellte in die Höhe, als ich den Namen meines Vaters hörte.

»Ich bin Zentaur und ein Lehrer der Menschen. Mein Name ist Cheiron.«

Ich schluckte und nickte. Zu fragen, woher er meinen Namen kannte, wagte ich nicht.

Er musterte mich. »Mir scheint, du bist sehr müde. Du brauchst Wasser und etwas zu essen. Es ist ein weiter Weg bis zu mir nach Hause auf den Pelion, zu weit für dich. Also müssen wir andere Mittel bemühen.«

Er drehte sich um, und ich versuchte, ihn nicht anzustarren, als ich sah, wie er seine Läufe bewegte.

»Ihr beide werdet auf meinem Rücken reiten«, sagte der Zentaur. »Einem Unbekannten erweise ich diese Ehre normalerweise nicht. Aber jetzt gilt es, eine Ausnahme zu machen.« Er stockte. »Ich vermute, man hat euch zu reiten gelehrt.«

Wir beide nickten eifrig.

»Schade. Vergesst, was ihr gelernt habt. Ich mag es nicht, wenn mir Beine die Flanken quetschen oder wenn man an mir zerrt. Wer vorn sitzt, hält sich an meiner Hüfte fest, der andere am Vordermann. Wenn einer zu stürzen droht, soll er mir ein Zeichen geben.«

Achill und ich schauten einander an.

Er trat vor.

»Wie soll ich –?«

»Ich gehe in die Knie.« Seine Vorderläufe knickten ein. Er hatte einen breiten Rücken, der schweißnass glänzte. »Hier, nehmt meinen Arm als Stütze«, sagte der Zentaur. Achill folgte seinem Rat und schwang ein Bein über den Widerrist.

Jetzt war ich an der Reihe. Immerhin musste ich nicht vorn sitzen, unmittelbar hinter der Stelle, wo die nackte Haut in ein Fellkleid überging. Cheiron reichte mir seine kräftige Hand, auf der schwarze Haare wucherten, die so gar nicht mit der Farbe und Beschaffenheit seines Fells übereinstimmten. Ich musste meine Beine auf seinem breiten Rücken so weit spreizen, dass es fast schmerzte.

Cheiron sagte: »Ich richte mich jetzt auf.« Obwohl er langsam und vorsichtig in die Höhe ging, hielt ich mich ängstlich an Achill fest. Cheiron war um einiges größer als ein normales Pferd, und mir wurde schwindlig in der Höhe. Achill hatte ihm seine Hände lose auf die Hüften gelegt. »Wenn ihr euch nicht richtig festhaltet, werdet ihr stürzen«, mahnte der Zentaur.

Ich hielt Achill mit beiden Armen fest umklammert und wagte es nicht, mich auch nur für einen Moment zu entspannen. Die Gangart des Zentauren war weniger gleichmäßig als die eines Pferdes und steil der Grund, auf dem wir ritten. Ich geriet auf dem verschwitzten Fell immer wieder bedrohlich ins Rutschen.

Ein Pfad war nirgends auszumachen, doch wir stiegen zwischen den Bäumen rasch bergan, getragen von Cheiron, dessen sichere Schritte kein einziges Mal zögerten. Manchmal schüttelte es mich so heftig, dass ich ihm versehentlich in die Seite trat.

Cheiron erklärte uns mit ruhiger Stimme, wo wir waren.

Das ist das Othrys-Gebirge.


Wie ihr seht, sind die Zypressen hier stämmiger als auf der Nordseite.


Dieser Bach dort mündet in den Apidanos, der durch Phthia fließt.


Achill drehte sich zu mir um und grinste.

Wir stiegen immer höher hinauf, und der Zentaur ließ seinen Schweif hin und her peitschen, um die Fliegen von uns fernzuhalten.

In einem lichten Wäldchen angelangt, hielt er so plötzlich an, dass ich gegen Achills Rücken prallte. Noch war der Gipfel nicht erreicht, der über uns in den blauen Himmel ragte. In unmittelbarer Nähe erhob sich ein Halbrund schroffer Felsen.

»Wir sind am Ziel.« Cheiron ging in die Knie und ließ uns absitzen.

Vor uns öffnete sich eine Höhle, die aber nicht etwa ins Dunkle führte, sondern in ein Gewölbe aus schimmerndem Rosenquarz.

»Kommt«, sagte der Zentaur. Wir folgten ihm durch den Eingang, der so hoch war, dass er sich nicht bücken musste. Die kristallenen Wände funkelten, und es dauerte eine Weile, bis sich unsere blinzelnden Augen an das eigentümliche Licht gewöhnt hatten. In einer Nische plätscherte das Wasser einer Quelle herab und verlor sich im Gestein darunter.

An den Wänden hingen Gegenstände, wie ich sie noch nie gesehen hatte: seltsame, bronzene Geräte. An der Decke über uns waren Linien und Farbflecken zu sehen, die die Himmelsgestirne und ihre Bewegungen abbildeten. Auf hölzernen Regalen standen Dutzende kleiner Keramikbehälter, beschriftet mit sonderbaren Zeichen. In einer Ecke entdeckte ich Leiern und Flöten neben Werkzeugen und Kochgeschirr.

Es gab nur ein einziges Bett, dick gepolstert mit Tierhäuten. Darin sollte Achill schlafen. Der Zentaur selbst schien kein Lager zu haben. Vielleicht brauchte er keins.

»Setzt euch«, sagte er. Nach der heißen Sonnenglut war es angenehm kühl in der Höhle, und ich ließ mich dankbar auf eines der Kissen fallen, auf die der Pferdemensch zeigte. Er ging zur Quelle, füllte zwei Becher und brachte sie uns. Das Wasser schmeckte süß und frisch. Ich trank gierig. Cheiron betrachtete mich und sagte: »Spätestens morgen werden euch sämtliche Glieder im Leib wehtun. Ihr solltet euch kräftigen und etwas essen.«

Aus einem Topf, der über einem kleinen Feuer im hinteren Teil der Höhle hing, schöpfte er einen Eintopf aus Gemüse und Fleisch in zwei Schalen. Es gab auch Früchte, rote Beeren, die er in einer kleinen Einbuchtung der Höhlenwand aufbewahrte. Ich aß mit großem Appetit und wunderte mich selbst, wie hungrig ich war. Mein Blick wanderte immer wieder zu Achill zurück. Ich war überglücklich.

Mit neu gewonnenem Mut zeigte ich auf die bronzenen Gegenstände an der Wand und fragte: »Was sind das für Sachen?«

Cheiron hatte sich vor uns auf dem Boden niedergelassen. »Chirurgische Instrumente«, antwortete er.

»Chirurgische?« Das Wort war mir fremd.

»Zur Heilung. Ich vergaß, dass ihr, die ihr aus dem Tiefland kommt, Barbaren seid.« Seine Stimme klang nüchtern und sachlich. »Manchmal muss ein kranker Körperteil abgetrennt werden, damit der Rest gesunden kann. Diese Geräte da sind zum Schneiden, jene zum Vernähen von Wunden.« Er bemerkte, dass ich mit ungläubigem Staunen auf das Sägeblatt mit den scharfen Zacken starrte.

»Würdest du gern lernen, wie man heilt?«

Ich errötete. »Davon habe ich keine Ahnung.«

»Du antwortest auf eine Frage, die ich gar nicht gestellt habe.«

»Tut mir leid, Meister Cheiron.« Ich wollte ihn nicht verärgern. Er wird mich sonst zurückschicken.

»Das muss dir nicht leidtun. Antworte einfach.«

»Ja, gern«, stammelte ich. »Die Heilkunde ist nützlich, nicht wahr?«

»Sehr nützlich«, bestätigte er und wandte sich an Achill, der bislang nichts gesagt hatte.

»Und was meinst du, Pelides? Hältst du die Medizin ebenfalls für nützlich?«

»Natürlich«, antwortete Achill. »Bitte, nenn mich nicht Pelides. Ich bin Achill.«

In den dunklen Augen des Pferdemenschen zeigte sich etwas, das als Zeichen der Belustigung hätte gedeutet werden können.

»Also gut. Hast du eine Frage zu den Dingen, die du hier siehst?«

»Ja.« Achill zeigte auf die Musikinstrumente, die Leiern, Flöten und die siebensaitige Kithara. »Kannst du darauf spielen?«

»Allerdings«, antwortete Cheiron.

»Ich auch«, sagte Achill. Und dann: »Ich habe gehört, du hast Herakles und Theseus unterrichtet. Stimmt das?«

»So ist es.«

Ich konnte es kaum fassen. Er kannte diese beiden Helden persönlich, von Kindesbeinen an.

»Ich würde mich freuen, von dir zu lernen.«

Cheirons strenge Miene löste sich ein wenig. »Darum bist du zu mir geschickt worden. Damit ich dir beibringen kann, was ich weiß.«




Im Licht der Abendsonne führte uns Cheiron durch das Gelände nahe der Höhle. Er zeigte uns, wo die Berglöwen ihren Bau hatten, und wo der Fluss war, der gemächlich dahinplätscherte und klares, von der Sonne erwärmtes Wasser führte.

»Du könntest ein Bad nehmen, wenn du willst.« Er schaute mich an. Ich hatte vergessen, wie schmutzig ich war, fuhr mit der Hand durch die Haare und wühlte den Staub darin auf.

»Ich will«, sagte Achill, und schon hatte er seine Tunika abgestreift. Ich folgte ihm. In der Tiefe war das Wasser kalt, aber nicht unangenehm. Cheiron belehrte uns vom Ufer aus: »Das da sind Schmerlen. Seht ihr sie? Und hier, ein Barsch. Dort drüben schwimmen Zährten. Die gibt’s nur hier. Man erkennt sie an den silbernen Bäuchen und dem Wulst, der wie eine Nase aussieht.«

Seine Stimme mischte sich mit dem Rauschen des Wassers und linderte, was es an Spannungen zwischen Achill und mir noch gegeben haben mochte. Cheirons ruhige, gutmütige und zugleich bestimmende Art machte uns wieder zu Kindern, die nur diesen Augenblick im Sinn hatten und sich um nichts weiter kümmerten. In seiner Nähe war fast vergessen, was sich am Strand zugetragen hatte. Ja, wir kamen uns sogar wieder klein und schmächtig vor neben seiner mächtigen Gestalt. Wer hatte uns bloß eingeredet, dass wir erwachsen wären?

Erfrischt und gereinigt stiegen wir aus dem Wasser und schüttelten im letzten Licht der Sonne unsere nassen Haare. Ich kauerte mich ans Ufer und schrubbte mit Kieselsteinen den Schmutz aus meiner Tunika. Bis sie wieder trocken sein würde, war ich nackt, aber Cheirons Einfluss reichte so weit, dass nicht einmal das etwas ausmachte.

Die ausgewrungenen Kleider über die Schulter geworfen, folgten wir ihm zurück in die Höhle. Manchmal blieb er stehen und machte uns auf die Spuren von Hasen, Wiesenrallen und Hirschen aufmerksam. Er sagte, wir würden zu gegebener Zeit Jagd auf sie machen, und brachte uns bei, ihre Fährten zu lesen. Wir hörten ihm zu und stellten eifrig Fragen. Im Palast hatte es nur diesen mürrischen Musiklehrer gegeben oder Peleus persönlich, der über seine eigenen Worte fast einschlief. Wir wussten nichts über das Leben im Wald oder von all den anderen Dingen, von denen uns Cheiron berichtete. Ich dachte an die Gegenstände an der Höhlenwand, an die Heilkräuter und Werkzeuge. Chirurgische Instrumente hatte er sie genannt.

Es war fast dunkel, als wir die Höhle erreichten. Cheiron betraute uns mit kleinen Aufgaben. Wir sollten Holz sammeln und in der Lichtung vor dem Eingang zur Höhle ein Feuer machen. Als es brannte, setzten wir uns vor die Flammen und genossen ihre Wärme in der kühler werdenden Luft. Wir waren müde und erschöpft nach den Anstrengungen des Tages, und unsere Füße und Beine prickelten angenehm. Wir schmiedeten Pläne für den nächsten Tag, waren aber so mundfaul wie zufrieden und machten nicht viel Worte. Zum Abendessen gab es erneut von dem Eintopf und ein dünnes Fladenbrot, das Cheiron auf einem Bronzeblech über dem Feuer gebacken hatte. Zum Nachtisch reichte er uns Beeren mit Honig.

Das Feuer verglomm. Schon halb träumend, konnte ich die Augen kaum mehr offen halten. Mir war wohlig warm, der Boden, auf dem ich saß, war weich von Moos und welkem Laub. Ich konnte kaum glauben, noch am Morgen in Peleus’ Palast aufgewacht zu sein. Die kleine Lichtung und die schimmernden Wände der Höhle wirkten lebendiger auf mich als die bleichen weißen Mauern des Palasts.

Cheirons Stimme schreckte mich aus meinem Dämmerzustand auf. »Achill, deine Mutter hat mir eine Botschaft zukommen lassen.«

Ich bemerkte, dass sich Achills Körper versteifte, und mir selbst schnürte sich plötzlich die Kehle zu.

»Oh, und was sagt sie?«, fragte er betont gleichmütig.

»Sie sagt, falls dir der verbannte Sohn des Menoitios gefolgt sein sollte, sei er von dir fernzuhalten.«

Wieder hellwach, richtete ich mich auf.

Achill fragte scheinbar sorglos: »Hat sie auch gesagt, warum?«

»Nein.«

Ich schloss die Augen. Dass es mir erspart blieb, vor Cheiron gedemütigt zu werden, indem der Vorfall am Strand zur Sprache gekommen wäre, erleichterte mich ein wenig. Doch ein Trost war es nicht.

»Du weißt ja wohl, wie sie zu dieser Sache steht«, fuhr Cheiron fort. »Und ich möchte nicht hintergangen werden.«

Mein Gesicht glühte. Zum Glück war es dunkel. Die Stimme des Zentauren klang härter als zuvor.

Meine Kehle war so trocken, dass ich mich räuspern musste, um etwas sagen zu können. »Tut mir leid«, hörte ich mich sprechen. »Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen. Achill kann nichts dafür. Er wusste nicht, dass ich ihm folgen würde. Mir schien –« Ich stockte und musste einen neuen Anlauf nehmen. »Ich hatte gehofft, sie würde es nicht bemerken.«

»Das war dumm von dir.« Auf Cheirons Gesicht lag ein Schatten.

»Cheiron –«, hob Achill mutig an.

Der Zentaur winkte mit der Hand ab. »Die Botschaft erreichte mich schon am Morgen, ehe ihr gekommen seid. Ihr habt mich also in eurer Torheit gar nicht erst täuschen können.«

»Du wusstest Bescheid?« Es war Achill, der fragte. Ich hätte es nicht gewagt. »Dann hast du dich also schon entschieden? Du wirst nicht tun, was sie verlangt?«

Cheirons Stimme ließ eine Warnung mitschwingen. »Sie ist eine Göttin, Achill, und nicht zuletzt deine Mutter. Gelten dir ihre Wünsche so wenig?«

»Ich halte sie in Ehren, Cheiron. Aber in dieser Sache liegt sie falsch.« Er hatte die Fäuste so fest geballt, dass ich trotz der Dunkelheit die angespannten Sehnen auf dem Handrücken sehen konnte.

»Und warum liegt sie falsch, Pelides?«

Ich schaute ihn an, und mein Magen krampfte sich zusammen. Was würde er wohl antworten?

»Sie meint –« Er stockte, und ich hielt den Atem an. »Dass er als Sterblicher nicht der richtige Umgang für mich ist.«

»Und du findest, er ist der richtige Umgang?«, fragte Cheiron, dessen Stimme keine vorgefasste Meinung anklingen ließ.

»Ja«, antwortete Achill, ohne zu zögern und mit trotzig erhobenem Kinn.

»Verstehe.« Der Zentaur wandte sich mir zu. »Und du, Patroklos? Bist du seiner würdig?«

Ich schluckte. »Das weiß ich nicht. Aber ich wünschte, bleiben zu dürfen.« Und wieder musste ich schlucken. »Bitte.«

Es blieb eine Weile still. Dann sagte Cheiron: »Als ich euch hierhergeführt habe, war mir noch nicht klar, wie ich mich entscheiden würde. Thetis hat vieles auszusetzen und in einigen Dingen wohl auch recht damit, doch nicht in allen, wie mir scheint.«

Seiner Stimme war wieder kein Unterton anzuhören, und ich fühlte mich zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin- und hergerissen.

»Auch sie ist jung und voller Vorurteile. Ich bin älter und darf mir einbilden, einen Menschen besser einschätzen zu können. Ich habe gegen Patroklos als deinen Gefährten nichts einzuwenden.«

Vor lauter Erleichterung hatte ich den Eindruck, inwendig ganz hohl zu sein, als wäre ein Sturm durch mich hindurchgefegt.

»Es wird mir nicht gefallen, aber es wäre nicht das erste Mal, dass ich den Zorn der Götter auf mich ziehe.« Und dann sagte er: »Es ist spät, Zeit für euch, schlafen zu gehen.«

»Danke, Meister Cheiron.« Achills Stimme war ernst und kräftig. Wir standen auf.

Ich zögerte und deutete auf Cheiron. »Ich würde gerne noch –« Achill verstand und zog sich in die Höhle zurück.

Ich wandte mich an den Zentauren. »Ich werde gehen, falls es Schwierigkeiten geben sollte.«

Es entstand eine längere Pause, und ich glaubte schon, er habe mich nicht gehört. Dann aber sagte er:

»Gib das, was du heute gewonnen hast, nicht so einfach wieder preis.«

Dann wünschte er mir eine gute Nacht, und ich ging zu Achill in die Höhle.

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