Dreiundzwanzigstes Kapitel

An einem Feiertag kurz nach unserer Landung vor Troja war Achill in aller Frühe aufgestanden. »Wo willst du hin?«, fragte ich.

»Zu meiner Mutter«, sagte er, und bevor ich noch etwas sagen konnte, hatte er das Zelt verlassen.

Seine Mutter. Natürlich. Die Küste Anatoliens war für sie ebenso problemlos erreichbar wie irgendeine griechische Insel. Und ihre Trauer bewirkte, dass ihre Besuche umso länger ausfielen. Achill ging immer im ersten Morgenlicht und kam erst zurück, wenn die Sonne fast im Zenit stand. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Was mochte sie ihm sagen, das so viel Zeit in Anspruch nahm? Ich fürchtete das Schlimmste, dass sie ihn mir entreißen würde.

Oft kam Brisëis und wartete mit mir. »Wollen wir hinauf in den Hain gehen?«, fragte sie dann. Allein ihre sanfte Stimme und der Wunsch, mich zu trösten, halfen mir in meiner Not. Und mit ihr durch den Hain zu schlendern beruhigte mich. Wie Cheiron schien sie um alle Geheimnisse des Waldes zu wissen – wo sich Pilze versteckten und Kaninchen ihre Bauten hatten. Sie brachte mir sogar die Namen von Pflanzen und Bäumen in ihrer Sprache bei.

Wenn wir erschöpft waren, setzten wir uns auf den Kamm der Hügelkuppe, der das Lager überblickte, so dass ich sehen konnte, wann er zurückkehrte. Oft saßen wir dort zusammen. An diesem Tag hatten wir Kräuter im Wald gesammelt und der Koriander, der in einem kleinen Körbchen neben ihr stand, verströmte einen würzigen Duft.

»Er kommt bestimmt bald zurück«, sagte sie. Ihre Worte klangen wie frisch gegerbtes Leder, noch ein wenig steif, weil kaum abgenutzt. Als ich nicht antwortete, fragte sie: »Wo bleibt er nur so lange?«

Warum sollte sie nicht Bescheid wissen? Es war schließlich kein Geheimnis.

»Seine Mutter ist eine Göttin«, erklärte ich. »Eine Meernymphe. Er trifft sich mit ihr.«

Ich hatte erwartet, dass sie erschrecken oder Angst bekommen würde, doch sie nickte und sagte: »Ich dachte mir schon, dass er – etwas Besonderes ist. Er –« Sie stockte. »Er bewegt sich anders als wir Menschen.«

Ich lächelte. »Wie bewegt sich denn ein Mensch?«

»So wie du«, antwortete sie.

»Also tollpatschig.«

Dieses Wort kannte sie noch nicht. Ich machte ihr seine Bedeutung vor, was sie zum Lachen brachte. Dann schüttelte sie entschieden den Kopf. »Nein, so bewegst du dich nicht. Ich meinte etwas anderes.«

Was sie tatsächlich meinte, habe ich nie erfahren, denn in diesem Moment kam uns Achill entgegen.

»Hier seid ihr also«, sagte er. Brisëis stand auf und kehrte zu ihrem Zelt zurück. Achill warf sich neben mir auf den Boden und verschränkte die Hände hinterm Kopf.

»Ich habe Hunger«, sagte er.

»Nimm.« Ich reichte ihm den Käserest, der vom Mittagessen übrig geblieben war. Er langte dankbar zu.

»Wie war das Gespräch mit deiner Mutter?«, fragte ich so nervös, dass ich Mühe hatte zu sprechen. Allein der Gedanke an seine Mutter ließ mich erschaudern.

Er stieß einen Schwall Luft aus, halb seufzend. »Sie macht sich Sorgen um mich«, antwortete er.

»Warum?« Ich sträubte mich gegen den Gedanken, dass sie sich genauso wie ich um ihn sorgte.

»Sie sagt, die Götter ergreifen Partei in diesem Krieg und streiten miteinander. Sie haben mir zwar Ruhm versprochen, verschweigen aber, wie groß er sein wird.«

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, obwohl es auf der Hand lag: In unseren Geschichten gab es viele unterschiedliche Charaktere. Den großen Perseus oder den bescheidenen Peleus. Herakles oder dessen fast vergessenen Gefährten Hylas. Manchen waren lange Gedichte gewidmet, anderen nur eine Zeile.

Er richtete sich auf und umfasste seine Knie mit den Armen. »Ich glaube, sie fürchtet, dass ein anderer Hektor tötet. Bevor ich es tue.«

Eine weitere Sorge. Womöglich blieb ihm noch wenig Zeit. »Wer könnte das sein?«

»Ich weiß es nicht. Ajax hat es versucht und ist gescheitert. So auch Diomedes. Die beiden sind die besten nach mir. Mir fällt sonst niemand ein, der dazu in der Lage wäre.«

»Was ist mit Menelaos?«

Achill schüttelte den Kopf. »Nein. Er ist zwar tapfer und stark, kommt aber kaum in Frage. Er würde vor Hektor zerbrechen wie Wasser am Fels. Also werde ich es sein oder niemand.«

»Du wirst es nicht tun«, sagte ich, darauf bedacht, meine Worte nicht wie flehentliches Bitten klingen zu lassen.

»Nein.« Er schwieg für eine Weile. »Aber ich kann es sehen. Das ist das Seltsame. Wie in einem Traum. Ich sehe mich, wie ich den Speer schleudere, und ich sehe ihn fallen. Ich gehe auf seinen Leichnam zu und schaue auf ihn herab.«

Furcht stieg in mir hoch. Ich holte tief Luft. »Und was dann?«

»Das ist das Seltsamste. Ich sehe sein Blut und weiß, dass mir der eigene Tod bevorsteht. Im Traum aber kümmert’s mich nicht. Im Gegenteil, ich bin erleichtert.«

»Glaubst du, es hat mit der Prophezeiung zu tun?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, es ist nichts weiter als Tagträumerei.«

Ich versuchte, meine Stimme so unbekümmert klingen zu lassen wie seine. »Du hast wohl recht. Hektor hat dir schließlich nichts getan.«

Er lächelte, wie ich es gehofft hatte. »Ja«, sagte er. »Den Ausspruch kenne ich.«

Während der langen Stunden seiner Abwesenheit suchte ich im Lager nach Gesellschaft, um auf andere Gedanken zu kommen. Thetis’ Nachricht hatte mich verstört. Solange die Götter untereinander Streit hatten, war Achills Ruhm gefährdet. Mir schwirrten so viele Fragen durch den Kopf, dass ich fast wahnsinnig wurde. Ich brauchte Ablenkung. Einer der Soldaten wies mir den Weg zum weißen Zelt der Ärzte. »Wenn du dich nützlich machen willst – sie brauchen immer Hilfe«, sagte er. Ich erinnerte mich an Cheirons geduldige Hände und seine chirurgischen Instrumente an den Rosenquarzwänden. Ich ging.

Es war dunkel im Inneren des Zelts, die Luft süß und schwer von metallischem Blutgeruch. Ich traf auf Machaon, den bärtigen, grobschlächtigen Arzt, der aus praktischen Gründen den Oberkörper entblößt und einen alten Schurz um die Lenden gewickelt hatte. Seine Haut war dunkler als die der anderen Griechen, obwohl er sich die meiste Zeit im Schatten aufhielt. Er hatte, wiederum aus praktischen Gründen, die Haare kurz geschoren, damit sie ihm bei der Arbeit nicht ins Gesicht fielen. Er beugte sich gerade über das verwundete Bein eines Mannes und löste vorsichtig eine Pfeilspitze aus dem Fleisch. Auf der anderen Seite stand sein Bruder Podaleirios, der sich eine Rüstung angelegt hatte und mit einem knappen Abschiedsgruß das Zelt verließ. Er war dafür bekannt, dass er lieber kämpfte als heilte, diente jedoch in beiden Lagern.

Ohne aufzublicken, sagte Machaon: »Wenn du so lange auf den Beinen stehen kannst, wirst du wohl kaum verwundet sein.«

»Nein«, erwiderte ich. »Ich bin gekommen –« Ich stockte, als er die Pfeilspitze herausgezogen hatte und zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe hielt. Der Soldat seufzte erleichtert.

»Ich höre.« Seine Stimme klang trocken, aber nicht unfreundlich.

»Brauchst du Hilfe?«

Er gab ein Geräusch von sich, das ich als Zustimmung deutete. »Setz dich und reiche mir die Salben.« Er hatte mich immer noch keines Blicks gewürdigt. Ich gehorchte und sammelte ein paar kleine Flaschen ein, die auf dem Boden verstreut lagen. In manchen steckten Kräuter, andere waren mit Salbe gefüllt. Ich roch daran und erinnerte mich, Knoblauch und Honig gegen Entzündungen, Mohnsamen zur Beruhigung und Schafgarbe zur Blutgerinnung, an Dutzende von Heilkräutern, die ich in der Höhle des Zentauren kennengelernt hatte und an ihrem Geruch unterscheiden konnte.

Ich reichte ihm, was er haben wollte, und sah zu, wie er dem Verwundeten eine Prise beruhigenden Pulvers auf die Oberlippe streute, damit er daran leckte und den ätherischen Duft durch die Nase einsaugte. Dann strich er eine nach Bienenwachs riechende Salbe auf die Wunde, um einer Entzündung vorzubeugen, und wickelte schließlich einen Verband um das Bein. Erst als er damit fertig war, blickte er zu mir auf: »Patroklos, nicht wahr? Und du hast bei Cheiron gelernt? Du bist hier willkommen.«

Draußen wurden plötzlich Rufe und Schmerzensschreie laut. Er deutete mit einer Kopfbewegung zum Zelteingang. »Da kommt wieder einer. Kümmere du dich drum.«

Soldaten – es waren Nestors Männer – hievten einen Gefährten auf die leere Pritsche in der Ecke des Zelts. Er war an der rechten Schulter von einem Pfeil mit gezackter Spitze getroffen worden. Sein Gesicht war schweißgebadet, der Mund fest zusammengepresst. Er zitterte am ganzen Leib, atmete in kurzen, schnellen Stößen und verdrehte vor Schmerzen die Augen. Ich widerstand der Versuchung, Machaon zu Hilfe zu bitten – er verarztete schon einen anderen Mann, der zu wimmern angefangen hatte –, und langte nach einem Tuch, um meinem Patienten das Gesicht zu trocknen.

Der Pfeil hatte die dickste Stelle der Schulter durchbohrt und stak auf der anderen Seite neben dem Schulterblatt bis zur Hälfte hervor. Ich würde die Befiederung abbrechen und den Schaft durch die Wunde ziehen müssen, ohne Splitter im Fleisch zurückzulassen, die zu Eiterung und Fäulnis führen könnten.

Schnell rührte ich, wie von Cheiron gelernt, einen Sud aus Mohn und Weidenrinde an, der die Sinne benebelte und gegen Schmerzen unempfindlich machte. Weil er den Becher nicht selbst halten konnte, hob ich seinen Kopf an, führte den Trunk an seine Lippen und gab acht, dass er sich nicht daran verschluckte. Schweiß und Blut sickerten durch mein Kleid.

Ich versuchte, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen und stattdessen eine beruhigende Miene aufzusetzen. Es war, wie ich erkannte, Antilochos, ein Sohn von Nestor, und nur wenig älter als ich. Mit seinem hübschen Gesicht geriet er nach dem Vater. »Es wird schon wieder«, redete ich ihm und mir ein.

Der Pfeilschaft war das eigentliche Problem, denn er steckte so tief, dass vor der Befiederung nur ein kurzes Stück frei geblieben war, weshalb ich fürchten musste, die Wunde weiter aufzureißen, wenn ich den Schaft dort abbrechen würde. Was tun?

Einer der Soldaten, die ihn gebracht hatten, stand unruhig im Eingang. Ich winkte ihn zu mir.

»Ein Messer, schnell. Das schärfste, das du auftreiben kannst.« Ich wunderte mich selbst über den festen, gebieterischen Ton meiner Stimme, der zu Gehorsamkeit zwang. Kurz darauf kehrte er mit einer fein geschliffenen Klinge zum Schneiden von Fleisch zurück, an der noch Blut klebte. Er putzte sie an seinem Hemd ab und reichte sie mir.

Das Gesicht des Jungen hatte sich entspannt; die Zunge hing schlaff im Mund. Über ihn gebeugt, zerdrückte ich das Gefieder mit der einen Hand, setzte mit der anderen das Messer dicht darunter an und fing vorsichtig zu sägen an. Er schnaufte und murmelte halb bewusstlos vor sich hin.

Ich schnitt und sägte. Mein Rücken fing zu schmerzen an, und ich bereute, seinen Kopf auf meine Knie gelegt und nicht günstiger gebettet zu haben. Schließlich brach das gefiederte Ende ab. Es blieb nur ein langer Splitter stehen, der mit dem Messer schnell entfernt war. Endlich.

Nun galt es, den Schaft aus der Wunde im Rücken herauszuziehen. Ein noch schwierigeres Unterfangen. Zum Glück kam mir ein guter Einfall zu Hilfe. Ich schmierte das Schaftende mit Wundsalbe ein. So würde es besser durch die Wunde gleiten und diese gleichzeitig von innen desinfizieren. Behutsam machte ich mich ans Werk und zog den Pfeil Stück für Stück heraus. Wie eine kleine Ewigkeit kam mir diese Prozedur vor, doch dann hatte ich es endlich geschafft. Am Ende meiner Kraft, schloss ich dann die Wunde mit einem quer über die Brust gewickelten Verband.

Später gab mir Podaleirios zu verstehen, dass es unsinnig gewesen sei, das gefiederte Pfeilende so vorsichtig abgeschnitten zu haben. Einmal fest zugepackt, sagte er, und der Schaft wäre durchbrochen gewesen. Eine weiter aufgerissene Wunde und Splitter waren zwar unglücklich, aber schließlich gebe es noch andere Verwundete, um die man sich zu kümmern habe. Machaon jedoch sah, wie gut die Wunde heilte, ganz ohne Entzündung und fast schmerzfrei. Als tags darauf wieder ein Mann mit einer Pfeilwunde eingeliefert wurde, rief er mich zu sich, reichte mir ein scharfes Messer und sah mich erwartungsvoll an.

Es war eine schwere Zeit. Der Gedanke, dass sich Achills Schicksal bald erfüllen sollte, ließ mich nicht los, zumal das Murren der Götter über den Kriegsverlauf lauter wurde. Doch selbst ich konnte mich nicht gänzlich der Angst überlassen. Ich habe einmal gehört, dass Menschen, die an einem Wasserfall wohnen, sein Rauschen irgendwann nicht mehr hören. So lernte ich mit Furcht und Schrecken zu leben. Die Tage vergingen, und er überstand sie unbeschadet. Monate vergingen, und ich lernte, die Gedanken an seinen Tod zu verdrängen. Das Wunder eines Jahres, dann eines zweiten.

Auch die anderen schienen sich mit dem, was war, abgefunden zu haben. Wir wuchsen zu einer kleinen Familie zusammen, die sich um das Lagerfeuer scharte und das Abendbrot teilte. Wenn der Mond aufging und die Sterne am schwarzen Himmel funkelten, fanden wir uns alle dort ein – Achill und ich, der alte Phoinix und die jungen Frauen, zuerst nur Brisëis, dann aber auch die anderen, als sie ihre Scheu abgelegt hatten und sicher sein konnten, dass sie bei uns willkommen waren. Und noch einer gesellte sich zu uns: Automedon, der Jüngste von uns mit seinen gerade mal siebzehn Jahren. Er war sehr zurückhaltend und schweigsam, aber, wie wir wussten, ein großartiger Wagenlenker, der mit Achills feurigen Pferden bestens zurechtkam und sie selbst im wildesten Schlachtengetümmel stets unter Kontrolle hatte.

Es war uns, Achill und mir, ein Vergnügen, die erwachsenen Gastgeber zu spielen, das Fleisch zu verteilen und Wein auszuschenken. War das Feuer heruntergebrannt und die Mahlzeit beendet, verlangten wir von Phoinix, dass er Geschichten erzählte. Er tat es gern. Der Schein der Feuersglut verlieh ihm eine geradezu delphische Aura, aus der manche Auguren vielleicht zukunftsweisende Schlüsse hätten ziehen können.

Auch Brisëis erzählte Geschichten, traumähnliche Sagen, in denen Sterbliche nichts ahnend verzauberten Göttern begegneten, sonderbaren Wesen – halb Tier, halb Mensch –, die auf dem Lande verehrt wurden und nichts mit den hohen Göttern der Städte gemein hatten. Es war schön, wie sie diese Geschichten mit ihrer leisen, wohlklingenden Stimme vortrug. Manchmal mussten wir auch herzhaft lachen, wenn sie etwa Zyklopen nachmachte oder einen Löwen mimte, der die Witterung von einem versteckten Menschen aufgenommen hatte.

Wenn wir später allein waren, wiederholte Achill singend Zeilen aus diesen Geschichten, spielte die Leier dazu und bewies damit, wie gut sich diese Erzählungen als Lieder eigneten. Und ich fühlte mich erleichtert, denn er verstand offenbar, warum ich meine Tage mit Brisëis verbrachte und mir das Warten auf ihn so verkürzte. Sie gehörte inzwischen fest zu unserem Kreis, war ein Mitglied unserer Familie.

Es war während einer dieser Nächte, als Achill sie fragte, was sie über Hektor wusste.

Sie hatte sich, den Kopf auf die Hände gebettet, zurückgelegt und erschrak ein wenig, als sie seine Stimme hörte. Er sprach sie nur selten an, und auch sie richtete nie direkt das Wort an ihn; das, was ihrem Dorf widerfahren war, konnte nicht so einfach verziehen werden.

»Ich weiß nicht viel über ihn«, antwortete sie. »Er oder irgendein anderer aus Priamos’ Familie ist mir nie zu Gesicht gekommen.«

»Aber du hast bestimmt von ihm gehört.« Auch Achill hatte sich aufgerichtet.

»Ein wenig. Ich weiß mehr über seine Frau.«

»Lass hören.«

Sie räusperte sich wie jedes Mal, wenn sie eine Geschichte zu erzählen begann. »Sie heißt Andromache und ist die einzige Tochter von Eëtion, dem König über Kilikien. Es heißt, dass Hektor sie über alle Maßen liebt.

Er begegnete ihr zum ersten Mal, als er von ihrem Vater Tribut einforderte. Sie hieß ihn willkommen und unterhielt ihn während eines Festmahls. Noch am selben Abend hielt Hektor beim König um ihre Hand an.«

»Sie muss sehr schön sein.«

»Ja, aber es heißt, dass Hektor eine noch viel schönere Frau hätte wählen können. Sie ist bekannt für ihr sanftes, freundliches Wesen, und das Volk liebt sie, denn sie schenkt ihm Kleider und Nahrung. Sie war schwanger, aber ich weiß nicht, was aus dem Kind geworden ist.«

»Wo liegt Kilikien?«, fragte ich.

»Im Süden, an der Küste. Nicht weit von hier.«

»In der Nähe von Lesbos«, präzisierte Achill. Brisëis nickte.

Als wir wieder allein waren, sagte er: »Wir sind über Kilikien hergefallen. Wusstest du das nicht?«

»Nein.«

Er nickte. »Ich erinnere mich an diesen Eëtion. Er hatte acht Söhne. Sie haben sich tapfer gewehrt.«

Sein Schweigen verriet, was er nicht sagen mochte.

»Du hast sie getötet.« Eine ganze Familie, dahingeschlachtet.

Er sah mir an, was ich dachte, obwohl ich es zu verbergen versuchte.

»Ja.«

Mir war klar, dass er tagtäglich Männer erschlug, denn er kam jedes Mal blutüberströmt zurück und schrubbte sich von Kopf bis Fuß ab, bevor wir miteinander aßen. Aber es gab Momente wie diesen, da mich der Gedanke an all die durch ihn hervorgerufenen Tränen und Schmerzen verzweifeln ließ. Und nun war ihm auch Andromache zum Opfer gefallen, die von Hektor über alles geliebte Frau. Obwohl Achill so dicht neben mir saß, dass ich seine Wärme spürte, wähnte ich ihn in diesem Moment Welten von mir entfernt. Er hatte seine Hände in den Schoß gelegt. Sie waren voller Schwielen und doch schön, unvergleichlich sanft und gleichzeitig tödlich.

Wolken zogen auf, die Luft wurde drückend schwer. Es sollte in der Nacht ein Unwetter geben und so heftig regnen, dass die in den Bergen quellenden Flüsse über die Ufer treten und eine wahre Flut auslösen würden.

Eine solche Flut ist auch er, dachte ich.

Seine Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Ich habe einen Sohn am Leben gelassen«, sagte er, »den achten, damit ihr Geschlecht nicht ausstirbt.«

Seltsam, dass sich schon ein solcher kleiner Gnadenakt als große Güte ausnahm. Und doch, welcher andere Kämpfer wäre dazu bereit gewesen? Eine ganze Familie zu töten war etwas, womit sich andere brüsteten, eine Ruhmestat, die den Beweis erbrachte, dass man stark genug war, einen Namen zu tilgen. Der Sohn, der überlebt hatte, würde Kinder haben, die seinen Namen trugen und der Nachwelt ihre Geschichte erzählten, so dass die Getöteten zumindest in der Erinnerung fortlebten.

»Ich bin froh darüber«, sagte ich aus vollem Herzen.

Das Feuer war restlos heruntergebrannt. »Seltsam«, sinnierte er. »Ich habe immer gesagt, dass Hektor mir nichts getan hat. Ähnliches wird er von mir nun nicht mehr sagen können.«

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