Zweiunddreißigstes Kapitel

In der Nacht, zu einer Zeit, als selbst die wilden Hunde schlafen und die Eulen still sind, kommt ein alter Mann in unser Zelt. Seine Haare sind voller Asche, die schmutzigen Kleider zerrissen und triefen vor Nässe. Er ist offenbar durch den Fluss geschwommen. Und doch leuchten seine Augen hell und klar, als er sagt: »Ich bin gekommen, um meinen Sohn zu holen.«

Der König von Troja kniet vor Achills Füßen nieder und beugt sein weißes Haupt. »Willst du, mächtiger Prinz von Phthia, bester der Griechen, eines Vaters Bitte anhören?«

Achill starrt wie benommen auf die altersschwachen und gramgebeugten Schultern herab. Dieser Mann hat fünfzig Söhne gezeugt und die meisten davon verloren.

»Ich höre«, sagt Achill.

»Die Götter segnen deine Güte«, sagt Priamos. Seine Hände liegen kühl auf Achills brennender Haut. »Ich habe in dieser Nacht einen langen Weg voller Hoffnung zurückgelegt.« Er zittert unter den nassen Kleidern. »Ich bedaure, dir nur meine Gebete zum Geschenk machen zu können.«

Achill scheint berührt. »Steh auf«, sagt er. »Ich will dir zu essen und zu trinken geben.« Er reicht dem Alten seine Hand und hilft ihm auf, legt ihm einen trockenen Umhang über die Schulter und lässt ihn auf den weichen Kissen Platz nehmen, auf denen Phoinix am liebsten sitzt. Von der gefurchten Haut und den langsamen Bewegungen abgesehen, wirkt Priamos plötzlich wie verjüngt.

»Danke für deine Gastfreundschaft«, sagt er mit starkem Akzent. Doch sein Griechisch ist einwandfrei. »Ich habe gehört, du bist ein Mann von Adel, und auf deinen Edelmut vertraue ich, zumal es heißt, dass du, obwohl unser Feind, nie grausam gewesen bist. Ich bitte dich inständig, mir meinen Sohn zurückzugeben, damit ich ihn begraben kann und seine Seele Ruhe findet.« Er hütet sich, seinen Blick auf die im Schatten am Zeltrand mit dem Gesicht nach unten liegende Gestalt zu richten.

Achill starrt ins Dunkel seiner ineinandergelegten Hände. »Es war mutig von dir, dich allein auf den Weg gemacht zu haben«, sagt er. »Wie bist du ins Lager gekommen?«

»Die Götter geleiteten mich in ihrer Gnade.«

Achill blickt auf. »Was gab dir die Zuversicht, dass ich dich nicht töte?«

»Diese Zuversicht hatte ich nicht.«

Es bleibt eine Weile still. Das angebotene Brot und den Wein rührt Priamos nicht an. Sein Blick fällt auf den anderen Leichnam, den meinen, ausgestreckt auf dem Bett. Er zögert einen Moment. »Ist das – dein Freund?«

»Philtatos«, sagt Achill. Der über alles Geliebte. »Der Beste, erschlagen von deinem Sohn.«

»Ich bedaure deinen Verlust«, entgegnet Priamos. »Und ich bedaure, dass mein Sohn dir den Liebsten entrissen hat. Trotzdem bitte ich dich, gnädig zu sein. Trauernde sollten einander helfen, selbst als Feinde.«

»Und wenn nicht?« Sein Tonfall ist schärfer geworden.

»Dann sei es so.«

Wieder tritt ein Moment der Stille ein. »Ich könnte dich immer noch töten«, sagt Achill.

Achill.


»Ich weiß«, antwortet der König ruhig und gelassen. »Aber dafür, dass die Seele meines Sohnes Frieden finden kann, gebe ich mein Leben gerne hin.«

Achills Augen füllen sich mit Tränen. Er wendet sich ab.

Priamos spricht mit sanfter Stimme. »Nur dann, wenn die Toten in Frieden ruhen, können auch wir, die noch leben, Frieden finden.«

»Nein«, flüstert Achill.

Nichts regt sich im Zelt; die Zeit scheint stillzustehen.

Schließlich steht Achill auf. »Es dämmert schon, und ich möchte nicht, dass du auf deinem Rückweg in Gefahr gerätst. Ich werde den Leichnam deines Sohnes von meinen Dienern herrichten und überführen lassen.«

Wieder allein, wirft er sich auf mich und weint bittere Tränen.

Am nächsten Tag trägt er meinen Leichnam zum Scheiterhaufen, hebt ihn vor den Augen Brisëis’ und der Myrmidonen aufs Holz und legt Feuer. Flammen lodern empor, und ich sehe mich weiter und weiter vom Leben abrücken und in Luft auflösen. Sehnsuchtsvoll zieht es mich hin in die Dunkelheit und Stille der Unterwelt, wo ich endlich ruhen kann.

Obwohl es das Amt einer Frau ist, sammelt Achill meine Asche ein und gibt sie in eine goldene Urne, die schönste aus unserem Lager. Mit ihr in den Händen wendet er sich den Griechen zu.

»Wenn ich tot bin, sollt ihr meine Asche unter seine mengen und uns gemeinsam begraben.«

Hektor und Sarpedon sind gefallen, doch es treten andere Helden an ihre Stelle. Troja hat viele Verbündete. Sie schließen sich zum Kampf gegen die Eindringlinge zusammen, allen voran Memnon, Sohn der Morgenröte Eos und König von Äthiopien, ein hochgewachsener dunkelhäutiger Mann mit stattlichem Heer. Er hat es auf einen bestimmten Mann abgesehen und schmunzelt in froher Erwartung.

Dieser Mann tritt ihm gegenüber, bewaffnet nur mit einem Speer. Sein Brustpanzer ist liederlich angelegt, und seine einst hellen Haare sind ungewaschen und strähnig. Memnon glaubt leichtes Spiel zu haben und lacht. Als er, vom Schwert durchbohrt, in sich zusammensackt, gefriert ihm das Lachen im Gesicht. Müde entwindet ihm Achill seine Waffe.

Als Nächstes kommen die Amazonen mit entblößten Brüsten. Ihre Haut glänzt wie geöltes Holz, die Haare sind zurückgebunden. Sie tragen Bündel von Speeren und Pfeilen in den Armen, und an den Sätteln hängen halbmondförmige Schilde. An ihrer Spitze reitet auf einem kastanienbraunen Pferd eine Gestalt mit frei fliegenden Haaren und schlitzartigen dunklen Augen, die rastlos hin und her gehen: Penthesilea.

Sie trägt einen Umhang, der ihr zum Verhängnis wird, denn es ist ein Leichtes, den Saum zu packen und sie vom Pferd zu ziehen. Geschmeidig wie eine Katze fällt sie zu Boden und greift nach dem Speer, der am Sattel hängt. Sie kauert tief, den Schaft fest im Griff, als der Widersacher seinen Schatten auf sie wirft. Er trägt keine Rüstung und bietet ihr den entblößten Körper wie zum Geschenk.

Sie sticht zu, doch Achill weicht unglaublich schnell dem mörderischen Anschlag aus. Wie schon so oft, wird er auch jetzt von seiner Kraft verraten, die überleben will, anstatt der Friedensverheißung des Todes zu folgen. Sie versucht es ein zweites Mal, und er springt federleicht über die gestählte Spitze hinweg. Er hat gehofft, sie, der schon so viele erlegen waren, würde ihn erlösen. Im Sattel sah sie so schnell, anmutig und unerbittlich aus wie er selbst. Aber das ist sie nicht. Mit einem einzigen Stoß reißt er ihre Brust auf und bringt sie zu Fall. Ihre Mitstreiterinnen schreien vor Wut und Trauer, als er mit gesenktem Kopf das Feld räumt.

Zuletzt stellt sich ihm ein junger Bursche, Troilos, der jüngste Sohn des Priamos. Damit er verschont bliebe, wurde er hinter den Mauern in Sicherheit gehalten. Doch der Tod seines Bruders hat ihn vor die Stadt geführt. Er ist mutig und töricht und will nicht hören. Ich sehe, wie er sich aus den Händen der älteren Brüder losreißt und auf seinen Streitwagen springt. Wie ein losgelassener Windhund stürmt er hinaus, von Rachedurst getrieben.

Der Speerschaft schlägt auf seine noch knabenhaft schmale Brust. Er taumelt und stürzt, hält aber am Zügel fest, während die scheuenden Pferde durchgehen. Der Speer, den er hinter sich herzieht, schreibt mit seiner bronzenen Spitze eine Spur in den Sand.

Es gelingt ihm schließlich, aufzustehen. Seine Beine und der Rücken sind zerkratzt und geschunden. Helläugig und mit emporgerecktem Kinn tritt er auf den älteren Gegner zu, jenen gräulichen Schatten, der alle in Angst und Schrecken versetzt und mit müder Miene einen Mann nach dem anderen tötet. Gegen ihn kann der Junge nichts ausrichten. Die Speerspitze trifft auf den ungeschützten, weichen Teil seines Halses. Die Farbe des Bluts, das ihm entströmt, verläuft sich im Dunst, der mich umhüllt. Der Junge fällt.

Hinter der Stadtmauer eilen schnelle Schritte die Stufen des Turms hinauf, der das Schlachtfeld überblickt. Wo ein Gott wartet. Ein Bogen wird mit hastiger Hand gespannt.

Paris hat sein Ziel bald gefunden. Es bewegt sich langsam wie ein verwundeter Löwe, doch sein goldenes Haar ist unverkennbar. Paris legt den Pfeil auf die Sehne.

»Worauf soll ich zielen? Es heißt, dass er unverwundbar ist. Außer –«

»Er ist ein Mensch«, sagt Apoll. »Triff ihn, und er wird sterben.«

Paris fasst sein Opfer ins Auge. Der Gott legt eine Fingerspitze an das gefiederte Pfeilende und stößt einen Schwall Luft aus, als wollte er eine Kerze löschen. Der Pfeil fliegt in hohem Bogen auf Achills Rücken zu.

Achill hört sein leises Sirren, kurz bevor der Pfeil einschlägt, dreht den Kopf und schließt die Augen. Er spürt die Spitze eindringen, den Muskel teilen und das Rippenfell durchschlagen, ehe sie – endlich – das Herz findet. Blut schießt zwischen den Schulterblättern hervor, dunkel und ölig. Lächelnd stürzt Achill zu Boden.

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