Kapitel 8

Es war eine trügerische Sicherheit. Meine Glückssträhne war endgültig zu Ende, und Dunstable erwies sich nur als Beginn des Pechstrudels. Im Laufe der nächsten beiden Wochen ritt ich siebzehn Pferde; fünfzehn davon landeten abgeschlagen auf den hinteren Plätzen, und nur zweimal konnte man das als gerechtes Ergebnis bezeichnen.

Ich konnte es einfach nicht begreifen. Soviel ich sah, ritt ich genausogut wie vorher, und es war höchst erstaunlich, daß meine Pferde alle zur gleichen Zeit nicht in Form waren. Ich begann mir Sorgen zu machen, was mir nicht gut tat, weil ich geradezu spüren konnte, wie mein Selbstvertrauen von Tag zu Tag mehr dahinschwand.

Da war eine graue Stute, die ich besonders gern ritt, weil sie äußerst schnell reagierte. Sie schien oft vor mir zu wissen, was ich vorhatte, bevor ich ihr Zeichen gab, als habe sie die Situation ebenso klar erkannt wie ich und unabhängig von mir ihre Entscheidung getroffen. Sie war geduldig und zahm und sprang phantastisch. Ich mochte auch ihren Besitzer, einen kleinen, lustigen Farmer mit krassem Norfolkakzent, und als wir sie vor dem Rennen im Paradezirkel beobachteten, bekundete er Sympathie für mein Mißgeschick und meinte: »Macht nichts. Bei der Stute klappt es. Sie läßt Sie nicht im Stich. Da brauchen Sie gar keine Sorgen zu haben.«

Ich ging lächelnd ins Rennen, weil ich ebenfalls glaubte, mir könne mit diesem Pferd gar nichts passieren. Aber sie war wie umgewandelt. Dieselbe Farbe, dieselbe Größe, derselbe hübsche Kopf - aber keine Energie. Es war, als steuere man einen Wagen mit vier platten Reifen.

Der lustige Farmer wirkte weit weniger lustig, als ich sie zurückbrachte.

»Sie ist noch nie Letzte geworden«, sagte er anklagend.

Wir sahen sie uns genau an, konnten aber nichts finden. Sie atmete nicht einmal schwer.

»Ich kann ja ihr Herz untersuchen lassen«, meinte der Farmer zweifelnd. »Wissen Sie ganz genau, daß Sie alles richtig gemacht haben?«

»Ja«, antwortete ich, »aber sie war heute einfach nicht in Stimmung.«

Der Farmer schüttelte betrübt und verwirrt den Kopf.

Eines meiner Pferde gehörte einer großen Frau mit scharfen Zügen, die sehr viel vom Rennsport verstand und mit Pfuschern kein Mitleid hatte. Sie fiel über mich her, nachdem ich ihren sündteuren neuen Wallach nur wenige Meter vor dem Ziel auf den vorletzten Platz hatte zurückfallen lassen.

»Es ist Ihnen wohl klar«, sagte sie mit lauter, harter Stimme, während eine große Gruppe von Zuschauern bedenkenlos lauschte, »daß es Ihnen in den letzten fünf Minuten gelungen ist, den Wert meines Pferdes um die Hälfte zu drücken und mich zu einer Närrin zu stempeln, weil ich ein Vermögen dafür bezahlt habe.«

Ich entschuldigte mich. Ich deutete an, daß ihr Pferd möglicherweise noch Zeit brauche.

»Zeit?« wiederholte sie zornig. »Wozu? Damit Sie endlich aufwachen? Sie tun ja gerade so, als läge der Fehler bei mir, nicht bei Ihnen. Sie sind von Anfang an falsch geritten. Sie hätten ganz anders vorgehen müssen ...«

Ihre Strafpredigt hörte nicht auf, und ich starrte den schönen Kopf ihres Vollblutpferdes an und gab innerlich zu, daß es wahrscheinlich viel besser war, als es den Anschein hatte.

Ein Mittwoch war der große Tag für einen zehnjährigen Schuljungen mit strahlenden braunen Augen und Verschwörergrinsen. Seine reiche, exzentrische Großmutter, die dahintergekommen war, daß es für Rennpferdbesitzer kein Mindestalter gab, hatte Hugo einen riesigen Fuchs geschenkt und hatte zufällig auch noch die Trainingskosten bezahlt.

Ich hatte mich mit Hugo angefreundet. Da er wußte, daß ich bei James Axminster sein Pferd fast jeden Morgen sah, schickte er mir ständig kleine Päckchen Würfelzucker, den er in seinem Internat vom Eßtisch stibitzt hatte, und ich schrieb Hugo regelmäßig, um ihm in allen Einzelheiten zu erzählen, wie sich sein Pferd machte.

An diesem Mittwoch hatte Hugo nicht nur einen Tag frei bekommen, um sein Pferd laufen zu sehen, er erschien auch mit drei Freunden. Die vier Buben standen mit mir und James im Paradezirkel, da Hugos Mutter zu den seltenen Frauen gehörte, die ihre Söhne das Rampenlicht allein genießen lassen. Als ich vom Wiegeraum aus hinüberging, hatte sie mich von ihrem Platz auf der Tribüne aus freundlich angelächelt.

Die vier kleinen Buben waren todernst und aufgeregt, und James und ich hatten sehr viel Spaß mit ihnen vor dem Rennen, weil wir sie wie Männer behandelten, was ihnen offenbar wohltat. Diesmal, versprach ich mir, diesmal werde ich gewinnen. Für Hugo. Ich muß einfach.

Aber der große Fuchs sprang an diesem Tag sehr ungeschickt. Fast hinter jedem Hindernis senkte er den Kopf. Einmal mußte ich mich, um nicht abgeworfen zu werden, mit nur einer Hand an seinem Hals entlangstrecken und mit der anderen die Zügel einfach fahrenlassen. Der freie, hochzuckende Arm half mir, im Sattel zu bleiben, aber die unter dem Namen >ein Taxi rufen< bekannte Geste konnte mir bei James keine Gutpunkte einbringen, der das oft als den Stil >schlechter, erschöpfter, ängstlicher oder untauglicher Amateure< qualifiziert hatte.

Hugos Gesicht war nervös gerötet, als ich abstieg, und seine drei Freunde scharrten verlegen mit den Füßen. Da er sie als Zeugen dabei hatte, konnte Hugo bei seinen übrigen Klassenkameraden die Katastrophe nicht vertuschen.

»Es tut mir sehr leid, Hugo«, sagte ich bedrückt und entschuldigte mich für alles - für mich, das Pferd, das Rennen und den Geiz des Schicksals.

Er zeigte einen Gleichmut, an dem sich viele ältere Leute ein Beispiel hätten nehmen können.

»War eben mal ein schlechter Tag«, sagte er freundlich. »Und außerdem muß einer ja Letzter sein! Das hat Daddy auch gesagt, als ich in Geschichte eine Fünf bekam.« Er sah den Fuchs verzeihend an und sagte zu mir: »Aber sonst ist er doch recht tüchtig, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete ich. »Sehr tüchtig sogar.«

»Na ja«, sagte Hugo und sah seine Freunde tapfer an, »das wär’s. Dann können wir ja unseren Tee trinken.«

Mißerfolge von dieser Art kamen zu häufig vor, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, aber im Laufe der Zeit fiel mir auf, daß sich die Einstellung der Leute zu mir änderte. Ein paar, wie Corin, ließen so etwas wie Verachtung erkennen. Andere wirkten verlegen, wieder andere sympathisierten mit mir, einige sahen mich mitleidig an. Überall sah man mir nach, und ich konnte die Klatschwelle, die hinter mir zusammenschlug, benahe spüren. Ich wußte nicht genau, was eigentlich geredet wurde, weshalb ich Tick-Tock fragte.

»Kümmer dich nicht darum«, sagte er. »Du brauchst nur ein-, zweimal zu gewinnen, dann bist du wieder der Held des Tages, und alles, was sie jetzt quatschen, ist vergessen. Du bist eben in einer Pechsträhne.«

Mehr brachte ich aus ihm nicht heraus. Eines Donnerstagabends rief James bei mir an und bat mich, zu ihm zu kommen. Ich ging im Dunkeln hin und fragte mich bedrückt, ob er, wie schon zwei andere Trainer an diesem Tag, eine Ausrede präsentieren würde, mit der er einen anderen Jockei auf seine Pferde setzen konnte. Ich nahm es ihm nicht übel. Die Besitzer waren ohne weiteres in der Lage, ihm einen Jockei auszureden, der so viel Pech hatte.

James rief mich in sein Büro, einen quadratischen Raum zwischen seinem Haus und den Stallungen. Die Wände waren mit Rennfotos, Bücherregalen, langen Reihen von Rennblusen auf Bügeln und Karteikästen ausgefüllt. Vor dem Fenster, das auf den Hof hinausging, stand ein großer Schreibtisch. Ferner gab es drei Lehnstühle mit verblaßten Überzügen, einen zerfaserten Orientteppich auf dem Boden und ein glimmendes Feuer im Kamin. Ich hatte im letzten Vierteljahr dort viele Stunden verbracht, gelaufene Rennen und zukünftige Pläne besprechend.

James erwartete mich und trat zur Seite, um mich eintreten zu lassen. Er machte die Tür zu und starrte mich angriffslustig an.

»Ich habe gehört, daß Sie den Nerv verloren haben«, begann er ohne Vorrede.

Es war sehr still im Zimmer. Das Feuer knisterte. Ein Pferd in der Stallung nebenan schlug mit dem Huf an die Boxwand. Ich sah James an und er mich. Ich antwortete nicht. Die Stille nahm zu. Ich wunderte mich nicht. Ich hätte mir ausrechnen können, was über mich gesprochen worden war, als Tick-Tock sich geweigert hatte, mir nähere Auskünfte zu geben.

»Niemand kann etwas dafür, wenn er die Nerven verliert«, sagte James. »Aber ein Trainer kann einen solchen Mann nicht brauchen.«

Ich sagte immer noch nichts. Er wartete ein paar Sekunden, dann fuhr er fort: »Die klassischen Symptome sind unübersehbar ... Sie sind fast immer als letzter hinter dem Feld hergeritten, haben ohne Grund das Tempo gedrosselt, sind nie schneller geworden als unbedingt nötig war und haben sogar mal ein Taxi gerufen. Ich nenne das allen Schwierigkeiten ausweichen.«

Ich dachte betroffen darüber nach.

»Vor ein paar Wochen«, sagte er, »hab’ ich Ihnen versprochen, daß ich nicht einfach einem Gerücht glauben werde, bevor ich mir selbst eine Meinung gebildet habe. Erinnern Sie sich?«

Ich nickte.

»Ich habe das Gerücht letzten Samstag gehört«, sagte er. »Ein paar Leute bekundeten mir ihr Mitgefühl, weil mein Jockei den Nerv verloren habe. Ich glaubte es nicht. Ich habe Sie seither genau beobachtet.«

Bedrückt wartete ich auf den entscheidenden Streich. In der letzten Woche war ich bei sieben Ritten fünfmal Letzter geworden.

Er ging zu einem Sessel vor dem Kamin und setzte sich. Gereizt sagte er: »Setzen Sie sich doch endlich hin, Rob. Stehen Sie nicht einfach da wie ein Taubstummer.«

Ich setzte mich und starrte ins Feuer.

»Ich habe erwartet, daß Sie es abstreiten«, sagte er müde. »Es stimmt also?«

»Nein«, sagte ich.

»Ist das alles, was Sie zu sagen haben? Es genügt nicht. Was ist mit Ihnen los? Sie sind mir eine Erklärung schuldig.«

Ich war ihm mehr schuldig.

»Ich kann’s nicht erklären«, murmelte ich verzweifelt. »Jedes Pferd, das ich in den letzten drei Wochen geritten habe, schien durch Schlammboden zu laufen. Es liegt an den Pferden. Ich habe mich nicht verändert ...«

Das klang unnütz und unglaubhaft, selbst ich empfand es so.

»Sie haben jedenfalls stark nachgelassen«, sagte er langsam.

»Vielleicht hat Ballerton recht ...«

»Ballerton?« rief ich scharf.

»Er hat immer behauptet, daß Sie nicht so gut sind, wie die Leute tun, und daß ich Sie zu schnell aufgebaut hätte ... Daß Sie an die Spitze gekommen sind, bevor Sie reif dafür waren. Heute ist er herumgelaufen und hat allen Leuten erklärt: >Na bitte, wer hat jetzt recht? < Er kennt kein anderes Thema mehr, so freut er sich.«

»Es tut mir leid, James.«

»Sind Sie krank oder was?« fragte er ungeduldig.

»Nein.«

»Es heißt, der Sturz vor drei Wochen habe Ihnen Angst gemacht - als Sie das Bewußtsein verloren und das Pferd über Sie hinwegrollte. Aber auf dem Heimweg sind Sie doch noch ganz in Ordnung gewesen? Ich erinnere mich, daß Sie zwar ein bißchen steif waren, aber keine Angst vor einem neuerlichen Sturz zu haben schienen.«

»Ich habe an den Sturz überhaupt nicht mehr gedacht«, sagte ich.

»Warum also, Rob, warum?«

Aber ich schüttelte den Kopf. Ich wußte nicht warum.

Er stand auf und öffnete einen Schrank, der Flaschen und Gläser enthielt, goß zwei Whiskys ein und gab mir ein Glas.

»Ich bin noch nicht davon überzeugt, daß Sie den Mut verloren haben«, sagte er. »Wenn man daran denkt, wie Sie am zweiten Weihnachtsfeiertag Template geritten haben, also erst vor einem Monat, kommt einem das einfach unmöglich vor. Niemand kann sich in so kurzer Zeit derart radikal ändern. Bevor ich Sie übernommen habe, was haben Sie anderes getan, als alle wilden und gefährlichen Pferde zu reiten, auf denen die Trainer ihre besten Jockeis nicht riskieren wollten? Deshalb habe ich Sie zu Anfang eingesetzt, ich weiß es noch genau. Und die ganzen Jahre, die Sie auf einer Viehfarm in Australien verbracht haben, und die Zeit bei der Pferdeschau ... Sie gehören nicht zu den Leuten, die plötzlich ohne Grund die Nerven verlieren, vor allem dann nicht, wenn Sie mitten in einer ungeheuer erfolgreichen Saison sind.«

Ich lächelte beinahe zum erstenmal an diesem Tag, weil mir klar wurde, wie wichtig es für mich war, daß er das Zutrauen zu mir nicht verlor.

»Ich komme mir vor, als müßte ich mich gegen einen Nebel zur Wehr setzen. Ich habe heute alles versucht, um die Pferde anzutreiben, aber sie waren halbtot - oder ich. Ich weiß nicht, James ... Es ist einfach scheußlich.«

»Das finde ich auch«, sagte er bedrückt. »Ich habe natürlich Schwierigkeiten mit den Besitzern, das können Sie sich vorstellen. Alle, die zu Anfang gezweifelt haben, zweifeln jetzt wieder. Ich kann sie einfach nicht beruhigen ... das ist wie bei einem Kurssturz an der Börse, anstek-kend. Und Sie sind die schlechte Aktie, die man abstoßen will.«

»Mit welchen Ritten kann ich noch rechnen?« fragte ich.

Er seufzte. »Ich weiß es nicht genau. Sie können alle Pferde von Broome haben, weil er im Mittelmeer eine Kreuzfahrt macht und einige Zeit von den Gerüchten nichts erfahren wird. Und auch meine beiden; sie laufen nächste Woche. Im übrigen müssen wir abwarten.«

Ich brachte es kaum über die Lippen, mußte aber Bescheid wissen. »Und was ist mit Template?« fragte ich. Er sah mir in die Augen.

»Ich habe von George Tirrold noch nichts gehört«, sagte er.

»Ich glaube, er wird einsehen, daß er Sie nicht hinauswerfen kann, nachdem Sie so viele Rennen für ihn gewonnen haben. Er läßt sich nicht leicht beeinflussen, soviel steht fest, und er hat mich eigentlich auch auf Sie aufmerksam gemacht. Wenn nicht noch etwas Schlimmeres passiert«, schloß er sachlich, »dürfen Sie wohl immer noch damit rechnen, am Samstag nächster Woche Template im Winter-Cup zu reiten. Aber wenn Sie da auch Letzter werden ... ist alles aus.«

Ich stand auf und leerte das Glas. »Ich gewinne das Rennen«, sagte ich. »Was es auch kosten mag, ich gewinne es.«

Tags darauf fuhren wir stumm zum Rennplatz, aber als wir ankamen, erfuhr ich, daß zwei der für mich vorgesehenen Pferde nicht von mir geritten werden würden. Die Besitzer glaubten keine Chance zu haben, erklärte mir der betreffende Trainer brüsk, wenn man mich, wie vorgesehen, einsetzte. Es tue ihm sehr leid, aber er habe nichts machen können.

Ich stand auf der Tribüne und sah die beiden Pferde gut laufen; eines gewann, und das andere wurde knapp Dritter. So gut ich konnte, ignorierte ich die forschenden Seitenblicke aller anderen Trainer, Jockeis und Reporter in meiner Nähe. Wenn sie sehen wollten, wie ich damit fertig wurde, war das ihre Sache, wie es meine war, vor ihnen die unvermeidliche Bitterkeit zu verbergen, die ich bei diesen beiden Ergebnissen empfand.

Ich ritt mit James’ Pferd im vierten Rennen an den Start, fest entschlossen, zu gewinnen. Das Pferd war an diesem Tag dazu in der Lage, und ich kannte es als begabtes Springpferd und guten Spurter.

Wir wurden Letzte.

Auf dem gesamten Kurs konnte ich kaum Anschluß ans Feld halten. Am Ende trabte das Pferd mit müde gesenktem Kopf durchs Ziel, und ich folgte seinem Beispiel, ge-demütigt und elend. Mir war ganz übel.

Es kostete einige Anstrengung, zurückzukehren und mich dem Unvermeidlichen zu stellen. Am liebsten hätte ich den Mini-Cooper mit Höchstgeschwindigkeit gegen einen stabilen Baum gerammt.

Der sommersprossige Bursche, der sich um das Pferd zu kümmern hatte, sah mich nicht an, als er auf dem Sattelplatz die Zügel nahm. Sonst pflegte er mich mit strahlendem Lächeln zu begrüßen. Der Eigentümer und James standen mit ausdruckslosen Mienen da. Niemand sagte etwas. Es gab nichts zu sagen. Schließlich hob der Besitzer wortlos die Schultern, drehte sich auf dem Absatz um und ging davon.

Ich nahm den Sattel vom Pferd, und der Bursche führte es fort.

»Es kann nicht so weitergehen, Rob«, sagte James.

Ich wußte es.

»Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid«, sagte er. »Ich muß morgen für meine Pferde einen anderen nehmen.«

Ich nickte.

Er warf mir einen forschenden Blick zu, in dem sich zum erstenmal Verwirrung und Zweifel mit Mitleid mischten. Ich fand ihn unerträglich.

»Ich glaube, ich fahre heute nach dem Rennen nach Kensington«, sagte ich gepreßt, »statt mit Ihnen zurückzufahren.«

»Gut«, erwiderte er, offensichtlich darüber erleichtert, daß ihm die peinliche Rückfahrt erspart blieb. »Es tut mir wirklich leid, Rob.«

»Ja, ich weiß.«

Ich trug meine Sachen in den Wiegeraum zurück, spürte dort die Blicke, die mich verfolgten. Die Unterhaltung im Umkleideraum verstummte, als ich eintrat. Ich ging zu meinem Platz, legte den Sattel auf die Bank und zog mich aus. Ich sah die Gesichter an, die mir zugewandt waren, las in einigen Neugier, in anderen Feindseligkeit, in anderen Mitgefühl und bei wenigen sogar Vergnügen. Keine Verachtung; die überließen sie Leuten, die nicht ritten, die nicht aus eigener Erfahrung wußten, wie gewaltig ein hohes Hindernis einem Jockei auf einem schlechten Pferd erscheinen kann.

Sie begannen sich wieder zu unterhalten, mit mir wurde nicht viel gesprochen. Ich nahm an, daß sie nicht wußten, was sie sagen sollten. Mir ging es genauso.

Ich fühlte mich weder mutiger noch feiger als bisher auch. Es ist doch sicher unmöglich, dachte ich verwirrt, im Unterbewußtsein Angst zu haben, allen Schwierigkeiten auszuweichen und dabei zu glauben, daß man nach wie vor bereit war, Risiken einzugehen. Vor drei Wochen noch hätte ich darüber gelacht. Aber die erschütternde Tatsache blieb bestehen, daß keines von den achtundzwanzig Pferden, die ich seit meinem Sturz geritten hatte, auch nur annähernd geleistet hatte, was man von ihnen erwarten durfte. Sie wurden von verschiedenen Trainern ausgebildet und gehörten verschiedenen Leuten; was sie gemeinsam hatten, war ich. Es waren zu viele, um noch an Zufall glauben zu können, vor allem, da diejenigen, auf die ich hatte verzichten müssen, gute Leistungen gebracht hatten.

Die nutzlosen Gedanken, die hoffnungslosen Überlegungen, das Gefühl, daß der Himmel eingestürzt war, alles drehte sich im Kreise. Ich zog mich um, bürstete mein Haar und entdeckte überrascht im Spiegel, daß ich aussah wie sonst auch.

Ich ging die Stufen vor dem Wiegeraum hinunter und hörte, wie man sich im Umkleideraum wieder lebhafter zu unterhalten begann. Auch im Freien schien niemand mit mir reden zu wollen, bis auf einen nervösen kleinen Mann, der, wie ich wußte, für eine der kleineren Sportzeitungen arbeitete.

Er stand bei John Ballerton, aber als er mich sah, kam er zu mir herüber.

»Oh, Finn«, sagte er, nahm Notizbuch und Bleistift aus der Tasche und sah mich mit hinterhältigem Lächeln an, »kann ich eine Liste der Pferde haben, die Sie morgen reiten? Und nächste Woche?«

Ich sah zu Ballerton hinüber. Er trug ein triumphierendes Lächeln im Gesicht. Ich nahm meine ganze Beherrschung zusammen und begegnete dem Reporter mit Milde.

»Erkundigen Sie sich bei Mr. Axminster«, sagte ich. Er machte ein enttäuschtes Gesicht, wußte aber nicht, wie nahe er daran gewesen war, meine Faust auf seiner Nase zu spüren. Ich hatte gerade noch Vernunft genug, um zu wissen, daß ich kaum etwas Dümmeres tun konnte, als ihn niederzuschlagen.

Ich ging wutbebend davon, aber es war noch nicht zu Ende. Auch jetzt noch nicht. Corin trat mir absichtlich in den Weg und bemerkte: »Ich nehme an, daß Sie das gesehen haben?« Er zeigte mir ein Exemplar der Zeitung, für die der kleine Reporter schrieb.

»Nein. Interessiert mich auch nicht.«

Corin lächelte schwach. »Ich finde, daß Sie die Leute verklagen sollten. Das meinen eigentlich alle. Sie werden sie verklagen müssen, wenn Sie den Artikel gelesen haben. Sie können ihn nicht ignorieren, sonst glaubt jeder .«

»Die Leute können glauben, was ihnen paßt«, schrie ich grob und versuchte, weiterzugehen.

»Lesen Sie’s«, hartnäckig hielt Corin mir die Zeitung vors Gesicht. »Alle Leute kennen den Artikel schon.«

Es bedurfte nur eines kurzen Blickes, um die Schlagzeile zu lesen. Sie war nicht zu übersehen. In dicken Lettern verkündete sie: >Mut verlorene.

Gegen meinen Willen begann ich zu lesen.

Mut ist entweder Angst, durch Willensanstrengung überwunden, oder gänzlicher Mangel an Phantasie. Wenn man Hindernisrennen reitet, spielt es keine Rolle, welche Art von Mut man besitzt, solange einer von beiden vorhanden ist.

Begreift man, warum ein Mann tapfer ist und der andere nicht? Oder warum ein Mensch zu einer Zeit tapfer und zur anderen feig sein kann?

Vielleicht ist das alles eine Frage der Hormone! Vielleicht kann ein Schlag auf den Kopf die chemische Struktur zerstören, aus der Mut hervorgeht. Wer weiß? Wer weiß?

Der Zusammenbruch eines Springjockeis ist ein trauriger Anblick, wie alle Zuschauer, die in der letzten Zeit auf Rennplätzen waren, bestätigen können. Obwohl man also einem Mann Mitgefühl für einen Zustand bezeigen muß, den er nicht verschuldet hat, muß man sich doch fragen, ob er das Richtige tut, wenn er weiterhin Ritte verlangt und annimmt.

Das Publikum hat für sein Geld Anspruch auf faire Rennen. Wenn ein Jockei nicht das Beste geben kann, weil er Angst hat, sich wehzutun, nimmt er Geld, ohne Anspruch darauf zu haben.

Aber es ist natürlich nur eine Frage der Zeit, bis Pferdebesitzer und Trainer auf einen solchen Mann verzichten und, indem sie ihn zum Rücktritt vom Rennsport bewegen, das Wettpublikum davor bewahren, sein Geld zu verschwenden.

Zum Glück!

Ich gab Corin die Zeitung zurück und bemühte mich, die Starre meiner Kiefermuskeln zu lösen. »Ich kann sie nicht verklagen«, sagte ich. »Mein Name wird nicht erwähnt.«

Er schien nicht überrascht zu sein, und mir wurde plötzlich klar, daß er das die ganze Zeit gewußt hatte. Er wollte sich nur das Vergnügen nicht entgehen lassen, mich beim Lesen zu beobachten, und um seine Augen spielte immer noch die Andeutung eines hinterlistigen Lächelns.

»Was hab’ ich Ihnen eigentlich getan, Corin?« fragte ich, »daß Sie solch eine Einstellung haben?«

Er schien verblüfft zu sein und sagte lahm: »Äh ... nichts .«

»Dann tun Sie mir leid«, sagte ich frostig. »Sie tun mir leid, weil Sie eine gemeine, hinterhältige, feige Seele haben .«

»Feig!« schrie er aufgebracht. »Wer sind Sie denn, daß Sie einen anderen feig nennen dürfen? Daß ich nicht lache! Warten Sie nur, bis die anderen das hören! Warten Sie nur, bis ich ...«

Aber ich wartete nicht. Ich hatte mehr als genug. Ich fuhr in einer so üblen und verzweifelten Stimmung nach

Kensington zurück, wie ich sie in meinem ganzen Leben noch nicht kennengelernt hatte.

Niemand in der Wohnung, und zur Abwechslung war sie fleckenlos sauber. Die Familie war verreist. Ein Blick in die Küche bestätigte es. Im Kühlschrank standen weder Milchflaschen, noch war sonst etwas Eßbares zu finden, kein Brot im Kasten, kein Obst.

Im stillen Wohnzimmer nahm ich eine fast volle Whiskyflasche aus dem Schrank und legte mich aufs Sofa. Ich entkorkte die Whiskyflasche und trank. Der scharfe Schnaps brannte in meinem leeren Magen. Ich steckte den Korken zurück und stellte die Flasche auf den Boden. Was hat es für einen Sinn, sich zu besaufen, dachte ich, morgen fühlst du dich nur noch schlechter. Ich konnte mich vielleicht ein paar Tage hintereinander betrinken, aber letzten Endes hatte ich nichts davon. Mir konnte nichts mehr auf die Beine helfen. Alles war aus.

Ich starrte lange Zeit meine Hände an. Hände. Ihr Geschick für Pferde hatte mir mein ganzes Leben bisher den Unterhalt verdient. Sie sahen genauso aus wie immer. Sie sind ja auch unverändert, dachte ich verzweifelt. Nerven und Muskeln, Kraft und Feingefühl, nichts war verändert. Aber die Erinnerung an die letzten achtundzwanzig Pferde, die ich geritten hatte, widersprach: schwerfällig, ungeschickt und tölpelhaft.

Ich konnte nichts anderes als reiten, hatte auch nie etwas anderes lernen wollen. Auf einem Pferderücken war ich ein anderer Mensch. Ich besaß vier Glieder mehr und ein zweites Gehirn. Größere Geschwindigkeit, größere Kraft, größeren Mut ... Ich zuckte bei diesem Wort zusammen ... und schnellere Reaktionen. Ein Sattel war für mich wie das Wasser für einen Fisch, die natürliche Umwelt. Ein Zuhause. Und ein Rennsattel? Ich atmete tief. Für einen

Rennsattel reicht es bei dir nicht, dachte ich düster. Es genügte also doch nicht, Rennsport betreiben zu wollen, man brauchte auch Talent und Beharrungsvermögen, und ich stand der Überzeugung gegenüber, daß ich nicht gut genug war, daß ich nie gut genug sein würde, die Stellung festzuhalten, die ich beinahe im Griff gehabt hatte. Ich war der Meinung gewesen, die unglaubliche Gelegenheit nützen zu können, die sich mir geboten hatte. Mein Versagen, der feige, schwächliche Rückzug vor dem Erfolg zerfetzte alles, was ich über mich selbst gewußt oder geglaubt hatte.

Ich nahm die Whiskyflasche zu mir herauf und legte sie auf meine Brust. Sie war alles, was ich jetzt noch hatte, und zumindest würde sie Schlaf bringen. Aber alte Gewohnheiten lassen sich nicht so leicht vertreiben. Ich preßte die Flasche an mich wie ein Ertrinkender, aber ich wußte, daß ich sie nicht mehr entkorken würde. Eine ganze Weile nicht. In dieser Nacht nicht mehr.

Und die Zukunft? Ich konnte nächste Woche zurückkommen und ein oder zwei Pferde von James reiten, wenn er es erlaubte, vielleicht sogar Template beim Winter-Cup. Aber ich rechnete weder damit, etwas zu leisten, noch hoffte ich es, und mir wurde ganz übel, wenn ich daran dachte, mich wieder diesen Blicken und Beleidigungen aussetzen zu müssen. Vielleicht war es doch besser, sofort ein neues Leben anzufangen. Aber ein neues Leben, in dem ich was tun sollte?

Ich konnte nicht einfach da anfangen, wo ich damals aufgehört hatte. Mit zwanzig hatte es mir Spaß gemacht, bei Viehzüchtern zu arbeiten, aber es war nicht das Richtige für einen Mann mit dreißig oder vierzig oder fünfzig. Was ich auch immer tat, wohin ich auch gehen mochte, ich würde immer das Wissen mit mir herumtragen, daß ich gerade da total versagt hatte, worauf es mir am meisten angekommen war.

Nach langer Zeit stand ich auf und stellte die Flasche in den Schrank zurück. Ich hatte schon seit über sechsundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen. Trotz der betrüblichen Erlebnisse begann sich mein Magen zu melden. Bei einer zweiten Inspektion förderte ich in der Küche nur Gurken, glasierte Maronen und Erdbeeren zutage, weshalb ich das Haus verließ und durch die Straßen lief, bis ich ein anständiges Lokal fand, wo mich niemand kannte. Ich wollte meine Ruhe haben.

Ich bestellte Schinkenbrote und ein Glas Bier, aber als das Essen kam, schmeckte das dicke, frische Weißbrot wie Stroh, und meine Kehle wehrte sich gegen alle Schluckversuche. So kann’s nicht weitergehen, dachte ich. Ich muß essen. Wenn ich mich nicht besaufen kann, wenn ich Joanna nicht haben kann und wenn ich ... wenn ich kein Jockei mehr sein kann . dann möchte ich wenigstens essen, so viel ich will, ohne mir Sorgen über mein Gewicht machen zu müssen . Aber nach zehn Minuten hatte ich erst zwei Bissen hinuntergebracht, und damit war endgültig Schluß.

Die Tatsache, daß Freitag war, hatte mir den ganzen Abend lang nichts Besonderes bedeutet, und ich merkte auch nicht auf, als es neun Uhr wurde. Aber als ich die Brote wegschob und das Bier angewidert anstarrte, stellte jemand das Fernsehgerät auf der Theke lauter, und die ersten Takte der Erkennungsmelodie von Maurice Kemp-Lores Sendung übertönten plötzlich das Gläserklirren und Stimmengewirr. Eine große Gruppe von Männern, die sich vor dem Fernsehgerät niedergelassen hatte, zischte den anderen Gästen zu, still zu sein, und bis Maurice Kemp-Lores Gesicht auf dem Bildschirm erschien, war es ziemlich ruhig geworden. Mein kleiner Tisch war der am weitesten von der Tür entfernte, so daß ich eigentlich hauptsächlich deswegen blieb, weil ich mich nicht zwischen den Leuten hindurchzwängen wollte.

»Guten Abend«, sagte Maurice mit seinem vertrauten Lächeln.

»Heute abend sprechen wir über Handikaps, und ich möchte Ihnen zwei Fachleute vorstellen, die Gewichte und Maße von verschiednen Standpunkten aus betrachten. Der erste ist Mr. Charles Jenkinson, seit mehreren Jahren amtlicher Handikaper.«

Mr. Jenkinsons verlegenes Gesicht tauchte kurz auf dem Bildschirm auf. »Und der andere ist der weithin bekannte Trainer Corin Kellar.«

Corins hageres Gesicht strahlte vor Befriedigung. Das wird er uns die nächsten fünf Monate unter die Nase reiben, dachte ich, dann fiel mir plötzlich ein, daß ich jedenfalls nicht dabeisein würde, wenn er davon erzählte.

»Mr. Jenkinson«, plauderte Maurice, »wird Ihnen erklären, wie er ein Handikap errechnet. Und Mr. Kellar sagt Ihnen, wie er es anstellt, daß seine Pferde durch die festgesetzten Gewichte nicht alle Chancen verlieren. Die Auseinandersetzung zwischen Handikapern und Trainern ist, obwohl sie mit gentlemanhafter und klagloser Zurückhaltung geführt wird, sehr hart, und vielleicht bekommen Sie heute abend eine Andeutung davon zu spüren.« Er lächelte liebenswürdig. »Der Gipfel des Erfolges für einen Handi-kaper wäre, daß alle bei einem Rennen gemeldeten Pferde gleichzeitig durchs Ziel gehen - im vielfachen Bodenrennen -, weil es ihm darauf ankommt, jedem Pferd genau dieselbe Chance zu geben. Das kommt selbstverständlich vor, aber selbst Handikaper träumen manchmal.« Er grinste seine Gäste voll Herzlichkeit an, und als Mr. Jenkinson auf dem Bildschirm erschien, konnte man beinahe sehen, wie er selbstsicherer wurde, als er von seiner Arbeit zu erzählen begann.

Ich hörte nur mit halber Aufmerksamkeit zu, weil ich im übrigen mit meinem eigenen Elend beschäftigt war, und

Corin war schon seit einiger Zeit zu Wort gekommen, bevor ich auf ihn achtete. Er war aus gutem Grund nicht ganz offen, weil ihn die blanke Wahrheit seine Lizenz gekostet hätte. In der Praxis hatte er keinerlei Bedenken, seinen Jockeis die Anweisung zu erteilen, daß sie hinter dem Feld bleiben sollten, aber in der Theorie stand er, wie ich sah, durchaus auf der Seite des Rechts.

»Die Pferde aus meinem Stall laufen grundsätzlich auf Sieg«, log er ohne Bedenken.

»Aber Sie bestehen doch sicherlich nicht darauf, daß sie auch am Ende noch hart hergenommen werden sollen, obwohl sie keine Chance mehr haben?« meinte Maurice verbindlich.

»So hart wie möglich, ja«, bestätigte Corin. »Ich kann es nicht vertragen, wenn Jockeis zu früh nachlas sen, selbst wenn sie schon geschlagen sind. Ich habe erst vor kurzem einen Jockei entlassen, weil er beim Finish nicht alles gegeben hat. Er hätte dritter werden können, wenn er das Pferd angetrieben hätte ...« Seine Stimme tönte weiter, heuchlerisch und klagend, und ich dachte an Tick-Tock, den man gerügt hatte, weil er sich zu gewissenhaft an seine Anweisungen gehalten hatte. Ich dachte an Art, den man beschimpft, angenörgelt und in den Tod getrieben hatte, und meine Abneigung gegenüber Corin Kellar steigerte sich zu Haß. Maurice brachte ihn aufs Thema zurück und rang ihm das widerwillige Eingeständnis ab, daß es im Hinblick auf die Gewichtsbelastung, die in Zukunft vorgeschrieben sein würde, für ein Pferd manchmal besser war, mit einer Länge Vorsprung zu gewinnen, als mit zehn. Maurice hätte besser daran getan, irgendeinen anderen Fachmann einzuladen, oder vielleicht kannte er Corin nicht gut genug, um zu wissen, daß er vor der Öffentlichkeit heuchlerisch bestritt, was er privat gesagt hatte. Jeder Jockei, der Kellars Pferde geritten hatte, wußte Bescheid.

»Man ist seinem Jockei immer ausgeliefert«, jammerte Corin gerade.

»Nur zu«, sagte Maurice anfeuernd und beugte sich vor. Eine Lichtquelle irgendwo im Studio ließ seine Augen aufglänzen.

»Man kann sich wochenlang mit einem Pferd abplagen«, fuhr Corin fort, »und dann kommt ein Jockei daher und vermasselt alles durch einen einzigen dummen Fehler.«

»Für das Handikap ist das allerdings nicht schlecht«, unterbrach ihn Maurice lachend. Die Zuhörer im Lokal lachten auch.

»Na ja«, meinte Corin verständnislos.

»Wenn Sie die Sache so sehen«, fuhr Maurice fort, »gibt es immer einen Ausgleich dafür, daß ein Jockei dem Pferd nicht alles abverlangt. Was immer auch der Grund dafür sein mag. Harmlos, also ein Fehler, oder ernster, wenn er im entscheidenden Augenblick nicht seine ganze Entschlußkraft einsetzt.«

»Sie meinen, wenn er keinen Mut hat?« sagte Corin. »Ich würde sagen, daß ein Handikaper darüber genauso Bescheid weiß wie jeder andere und es auch berücksichtigen würde. Es gibt zur Zeit ein praktisches Beispiel .« Er zögerte, aber Maurice fuhr nicht dazwischen, so daß er etwas kühler geworden fortfuhr: »Ein Fall, bei dem ein gewisser Jockei bei jedem Rennen hinter dem Feld bleibt. Er hat Angst vor einem Sturz, verstehen Sie? Mir können Sie nicht erzählen, daß ein Handikaper diese Pferde nicht für so gut hält, wie sie eigentlich sind. An ihnen liegt es nicht. Es ist einfach der Reiter, der immer weiter abrutscht.«

Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoß und zu pulsieren begann. Ich stützte die Ellenbogen auf den Tisch und biß in die Fingerknöchel. Sie Stimmen sprachen unerbittlich weiter.

»Was haben Sie dazu zu sagen, Jenkinson?« fragte Maurice.

Und der Handikaper murmelte mit verlegenem Gesicht: »Selbstverständlich ... äh ... unter diesen Umständen würde man solche ... äh ... gelegentlichen Ergebnisse unbeachtet lassen.«

»Gelegentlich!« sagte Corin. »Wenn so etwas nahezu dreißigmal hintereinander passiert, kann man nicht mehr von gelegentlich sprechen. Wollen Sie das alles übersehen?«

»Ich kann das nicht beantworten«, protestierte Jenkin-son.

»Was tun Sie gewöhnlich in solchen Fällen?« fragte Maurice.

»Ich ... das heißt ... normalerweise sind sie nicht so auffällig. Ich würde gegebenenfalls mit ... äh ... anderen Leuten sprechen müssen, bevor ich eine Entscheidung treffe, aber darüber kann ich hier wirklich nichts sagen.«

»Wo wäre es passender?« meinte Maurice. »Wir alle wissen, daß der arme Kerl vor drei Wochen gestürzt ist und seither ... äh ... nicht besonders viel geleistet hat. Sie müßten das doch sicher berücksichtigen, wenn Sie das Handikap errechnen?«

Während sich die Kamera auf Jenkinson richtete, sagte Corins Stimme: »Mich würde interessieren, was Sie für eine Meinung haben. Eines von den Pferden stammte von mir, wissen Sie. Es war eine blamable Sache. Finn wird für mich nicht mehr reiten, wahrscheinlich auch für keinen anderen Trainer mehr.«

Jenkinson meinte unsicher: »Ich glaube nicht, daß wir Namen nennen sollten«, und Maurice fuhr hastig dazwischen: »Nein, nein. Ich bin völlig Ihrer Meinung. Lieber nicht.« Aber es war schon passiert.

»Nun, ich bedanke mich vielmals, daß Sie uns heute abend Ihre Zeit gewidmet haben. Leider geht die Sendung schon wieder ihrem Ende zu ...« Geschickt fand er einen Übergang zur üblichen Vorschau und zu den Schlußsätzen, aber ich hörte nicht mehr hin. Er und Corin hatten meine kurze Laufbahn endgültig ruiniert, und das auf dem grellen kleinen Bildschirm mit ansehen zu müssen, hatte bei mir furchtbare Kopfschmerzen hervorgerufen.

Als sich die Gäste wieder zu unterhalten begannen, stand ich auf und ging ein wenig unsicher zur Tür. Die Rennsport-Anhänger leerten ihre Krüge, und als ich mich an ihnen vorbeizwängte, hörte ich, wie einer sagte: »Der hat aber schon arg übertrieben.«

»Gar nicht«, erwiderte ein anderer. »Finn hat mich am Dienstag zehn Pfund gekostet. Geschieht ihm recht, dem Dreckskerl -«

Ich taumelte auf die Straße hinaus, zog die kalte Luft ein und bemühte mich angestrengt, gerade zu stehen. Es hatte keinen Zweck, sich hinzusetzen und in der Gosse zu heulen, was mir sehr leichtgefallen wäre. Ich ging langsam zur dunklen, leeren Wohnung zurück und legte mich angezogen aufs Bett, ohne das Licht anzuknipsen.

Der Lichtschein der Straßenlaterne warf einen schwachen Schimmer in den kleinen Raum, und der Schatten des Fensterrahmens zeigte sich verzerrt an der Decke. Mein Schädel pulsierte. Ich erinnerte mich, schon einmal so dagelegen zu haben, an dem Tag, als Grant mich niedergeschlagen hatte. Ich entsann mich, ihn und Art bemitleidet zu haben. Das war so einfach gewesen. Ich stöhnte laut, und das Geräusch schockierte mich.

Von meinem Fenster bis zur Straße war ein weiter Weg - fünf Stockwerke. Ein langer, schneller Weg. Ich dachte darüber nach.

In der Wohnung unter uns gab es eine Uhr mit Glockenschlag, die sich jede Viertelstunde meldete, und in dem stillen Haus konnte ich sie deutlich hören. Es schlug zehn, elf, zwölf, eins, zwei.

Der Schatten des Fensters stand unverrückbar an der Decke. Ich sah zu ihm hinauf. Fünf Stockwerke. Aber so schlecht es auch sein mochte, ich konnte auch diesen Weg nicht gehen. Für mich war das kein Ausweg. Ich schloß die Augen und fiel endlich nach den langen, verzweifelten Stunden in einen erschöpften, unruhigen, von Träumen erfüllten Schlaf.

Ich erwachte zwei Stunden später und hörte die Uhr vier schlagen. Meine Kopfschmerzen waren verschwunden, und mein Verstand wirkte so klar und scharf wie der bestirnte Himmel draußen: frisch gesäubert und glänzend. Es war, als trete man aus einem dichten Nebel in den Sonnenschein. Wie Kühle nach dem Fieber. Als sei ich neu geboren.

Irgendwann zwischen Schlaf und Erwachen war ich wieder zu mir selbst gekommen, hatte die Sicherheit gefunden, daß ich der war, für den ich mich hielt, und nicht der, als den mich die anderen sahen.

Und daß es so war, dachte ich verwirrt, wußte ich. Also mußte es eine andere Erklärung für meine Schwierigkeiten geben. Ich brauchte sie nur zu finden. Verärgert dachte ich an die schreckliche Stimmung, mit der ich mich herumgequält hatte, und begann endlich, meinen Verstand zu benutzen.

Eine halbe Stunde später war mir klar geworden, daß auch mein Magen wach war und so beharrlich darauf bestand, gefüllt zu werden, daß ich mich nicht konzentrieren konnte. Ich stand auf und holte die glasierten Maronen aus der Küche, wo ich auch noch Käsegebäck in Dosen fand. Ich machte die Dosen auf, legte mich wieder hin, aß das

Käsegebäck und die Hälfte der Kastanien. Mein Magen beruhigte sich, wie ein Drache, der seine ihm zustehende Jungfrau verspeist hat, und draußen verblaßten die Sterne in der trüben Londoner Dämmerung.

Am Vormittag befolgte ich den Rat, den ich Grant gegeben hatte, und suchte einen Psychiater auf.

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