Kapitel 13

Ich weiß nicht, ob sie während der nächsten vier Stunden schlief oder nicht. Im Zimmer war es still. Die Zeit verging langsam.

Der Puls in meinen Händen hämmerte noch eine ganze Zeit, aber was war das schon? Tröstend, obwohl es wehtat. Ich dachte daran, wie sich die dicken roten Blutkörperchen durch die eingeschrumpften Kapillaren zwängten, wie Wasser, das nach der Dürre in trockene Kanäle stürzt. Sehr schön. Lebenspendend. Bis morgen nachmittag, dachte ich - halt, heute nachmittag - könnten sie vielleicht wieder gebrauchsfähig sein. Sie mußten einfach, etwas anderes kam gar nicht in Frage.

Nachdem es hell geworden war, hörte ich Joanna in ihre kleine Badezimmer-Küche gehen, wo sie sich die Zähne putzte und frischen Kaffee machte. Der angenehme Geruch drang bis zu mir.

Samstagmorgen, dachte ich. Winter-Cup-Tag. Ich sprang nicht eifrig aus dem Bett, um ihn zu begrüßen; ich drehte mich langsam auf die Seite, schloß die Augen vor der Steifheit, die jeden Muskel vom Hals bis zu den Hüften spürbar werden ließ, vor den Schmerzen im Rücken und an den Handgelenken. Ich fühlte mich wirklich nicht besonders gut. Sie kam mit einer Tasse herein und stellte sie auf den Nachttisch. Ihr Gesicht war blaß und ausdruckslos.

»Kaffee«, sagte sie unnötigerweise.

»Danke.«

»Wie fühlst du dich?« fragte sie, ein wenig zu sachlich.

»Ich lebe.«

Es blieb eine Weile still.

»Ach, hör doch auf«, sagte ich. »Gib mir entweder eine Ohrfeige oder lach ... eins von beiden. Aber steh nicht da und mach ein tragisches Gesicht, als sei kurz vor der Vorstellung der Konzertsaal abgebrannt.«

»Na, weißt du, Rob«, sagte sie lachend.

»Waffenstillstand?« fragte ich.

»Einverstanden«, meinte sie lächelnd. Sie setzte sich sogar wieder auf den Bettrand. Ich setzte mich auf, verzog das Gesicht wegen der Schmerzen und zog eine Hand unter der Decke hervor, um nach der Tasse zu greifen.

Die Finger glichen dicken Würsten. Ich zog die andere Hand heraus. Sie war auch geschwollen. Die Haut fühlte sich sehr empfindlich an, und die unnatürliche Rötung war immer noch vorhanden.

»Verdammt«, sagte ich. »Wie spät ist es?«

»Kurz vor acht«, erwiderte sie. »Warum?«

Acht Uhr. Das Rennen begann um halb drei. Ich zählte rückwärts. Ich mußte spätestens um halb zwei in Ascot sein, wenn möglich sogar früher, und die Fahrt mit dem Taxi dorthin würde ungefähr fünfzig Minuten dauern. Eine halbe Stunde zusätzlich mußte ich für Unvorhergesehenes einkalkulieren. Damit blieben mir genau viereinhalb Stunden, um für das Rennen fit zu werden, aber in meinem Zustand schien das allerhand verlangt zu sein. Ich begann, Mittel und Wege zu überdenken. Dampfbäder mit Hitze und Massage. Aber ich hatte zuviel Haut verloren, um das riskieren zu können. Training in einer Sporthalle; eine Möglichkeit, aber zu rauh. Ein Ritt durch den Hyde-Park -fast immer eine gute Lösung, nur am Samstag nicht, wo die Row praktisch überfüllt war, oder noch besser, ein Galopp auf einem Rennpferd in Epsom, aber dafür blieb mir weder genug Zeit noch eine gute Ausrede.

»Was ist los?« fragte Joanna.

Ich sagte ihr Bescheid.

»Das ist doch nicht dein Ernst?« meinte sie. »Du denkst doch nicht wirklich daran, heute zu reiten?«

»Und ob.«

»Du bist nicht fit.«

»Genau das ist es. Darüber sprechen wir ja, wie ich fit werden kann.«

»So hab’ ich’s nicht gemeint«, wandte sie ein. »Du siehst krank aus. Du mußt mindestens einen ganzen Tag im Bett bleiben.«

»Morgen«, sagte ich. »Heute reite ich Template im Winter-Cup.«

Sie versuchte mich davon abzubringen, und ich erzählte ihr, warum ich reiten wollte. Ich berichtete alles, Kemp-Lores Haß auf alle Jockeis und die Ereignisse am vergangenen Abend, bevor sie mich in der Telefonzelle gefunden hatte. Das nahm ziemlich viel Zeit in Anspruch. Ich sah sie nicht an, als ich von der Episode in der Sattelkammer erzählte, weil es mir aus irgendeinem Grund peinlich war, davon zu sprechen, selbst vor ihr, und ich wußte schon in diesem Augenblick, daß ich es sonst niemandem sagen konnte.

Als ich fertig war, sah sie mich dreißig Sekunden lang stumm an, dann räusperte sie sich und sagte: »Ja, ich verstehe. Dann müssen wir wohl.«

Ich lächelte sie an.

»Was kommt als erstes?« fragte sie.

»Ein heißes Bad und das Frühstück«, sagte ich. »Können wir den Wetterbericht einschalten? Ich höre ihn mir aus Gewohnheit jeden Morgen an.«

Sie schaltete das Radio ein, das schmalzige Musik produzierte, und begann im Zimmer aufzuräumen. Bevor sie fertig war, hörte die Musik auf. Wir lauschten den Halb-Neun-Uhr-Nachrichten und anschließend dem Wetterbericht.

»Gestern nacht herrschte in vielen Teilen des Landes leichter Frost«, erklärte der Sprecher, »und vor allem in niedrigen Bodenlagen wird auch heute nacht mit Frost zu rechnen sein. Mittagstemperaturen um fünf Grad Celsius. Winde aus nordöstlicher Richtung, im Süden heiter und sonnig. Weitere Aussichten: Zunahme der kälteren Witterung. Hier noch eine Meldung: Die Rennleitung in Ascot gibt nach einer Besichtigung der Rennbahn um acht Uhr folgendes bekannt: Auf dem Rennkurs wurden gestern nacht 2 bis 3 Grad unter Null gemessen, aber der Boden auf beiden Seiten der Hindernisse war durch Stroh abgedeckt. Falls während des Vormittags nicht plötzlich strenger Frost eintritt, wird die Rennveranstaltung auf jeden Fall abgehalten.«

Joanna schaltete ab.

»Bist du absolut entschlossen?« fragte sie.

»Absolut«, erwiderte ich.

»Ja ... dann sag’ ich’s dir lieber ... ich habe mir gestern abend die Fernsehsendung angesehen. Neues vom Turf.«

»Tatsächlich?« sagte ich überrascht.

»Seit du da aufgetreten bist, sehe ich sie mir manchmal an, wenn ich zu Hause bin.«

»Und?«

»Er sprach fast die ganze Zeit vom Winter-Cup«, sagte sie.

»Kurzbiographien der Pferde und Trainer und so weiter. Ich wartete die ganze Zeit darauf, daß er deinen Namen erwähnte, aber das hat er nicht getan. Er sprach die ganze Zeit nur davon, wie großartig Template sei. Dich erwähnte er mit keinem Wort. Aber was ich dir sagen sollte, ist folgendes. Er behauptete, das Rennen sei sehr wichtig, so daß er persönlich das Finish kommentieren würde und nachher auch den Siegerjockei interviewen würde. Wenn du gewinnen kannst, wird er das am Mikrophon beschreiben müssen, eine bittere Pille für ihn, um dir dann vor ein paar Millionen Menschen öffentlich zu gratulieren.«

Ich starrte sie verblüfft an. »Das ist eine tolle Idee«, rief ich.

»Wie beim Interview nach dem Rennen am zweiten Weihnachtstag«, fügte sie hinzu.

»Da war mein Schicksal bei ihm besiegelt«, meinte ich. »Und du scheinst ja sehr viel fernzusehen, wenn ich das sagen darf.«

Sie riß die Augen auf. »Hm ... Habe ich dich nicht letzten Sommer im Konzertsaal sitzen sehen, als ich in Birmingham auftrat?«

»Ich hab’ gedacht, man sieht vom Podium aus nichts«, meinte ich.

»Du würdest staunen«, sagte sie.

Ich schlug die Decke zurück. Die schwarze Elastikhose sah bei Tageslicht noch viel merkwürdiger an mir aus.

»Ich muß mich auf die Socken machen. Was hast du denn an Verbänden, Rasierapparaten und Jod zu Hause?«

»Nur ein paar Stückchen Heftpflaster«, meinte sie, »und den Rasierapparat, mit dem ich mir die Haare an den Beinen abrasiere. Aber in der Nähe ist eine Apotheke, die bestimmt schon auf hat. Ich mache eine Liste.« Sie schrieb alles auf einen alten Briefumschlag.

»Und Schmerztabletten«, sagte ich.

»Alles notiert«, bemerkte sie. »Ich bin gleich wieder da.«

Als sie gegangen war, stieg ich aus dem Bett und ging ins Bad. Das sagt sich so leicht, aber es war äußerst kompliziert, weil ich mir vorkam, als hätte mich eine übereifrige Wäscherin mehrere Male durch die Wäschemangel gedreht. Ich ließ das Wasser einlaufen, zog Hose und Sok-ken aus und stieg in die Wanne. Der blaue Pullover war an meinem Rücken, die Bandagen an meinen Handgelenken festgeklebt, weshalb ich mich in das heiße Wasser legte und wartete, bis sie aufgeweicht waren.

Langsam löste die Hitze meine verkrampften Muskeln, bis ich die Schultern bewegen und meinen Kopf hin- und herdrehen konnte. Ich hatte das Gefühl, daß irgend etwas auseinanderreißen müsse. Alle paar Minuten ließ ich heißes Wasser nachlaufen. Als Joanna zurückkam, lag ich bis zum Hals im Wasser, angenehm erwärmt.

Sie hatte noch in der Nacht meine Hose getrocknet und bügelte sie jetzt, während ich widerwillig aus der Wanne stieg. Ich zog die Hose an und sah ihr zu, als sie die eingekauften Sachen auf den Tisch legte. Eine dunkle Locke fiel ihr in die Stirn, die Lippen hatte sie zusammengepreßt. Eine großartige Frau.

Sie wusch die Wunden mit Alkohol aus, trocknete sie und legte große Stücke Gaze, bestrichen mit kühler Salbe, darauf, die sie mit Heftpflaster festklebte. Sie arbeitete sauber und schnell, und ihre Finger gingen sanft zu Werk.

»Zum Glück war der ganze Schmutz beim Baden schon herausgewaschen worden«, meinte sie, eifrig mit der Schere klappernd. »Du hast ja tolle Muskeln! Ich hab’ gar nicht gewußt, daß du so stark bist.«

»Im Augenblick fühl’ ich mich recht schwach«, meinte ich seufzend. »Und alles tut mir weh.«

Sie ging in den anderen Raum, kramte in einer Schublade und brachte eine Strickjacke, blaßgrün diesmal; die Farbe paßte zu meinem Zustand recht gut.

»Ich kauf’ dir neue Sachen«, sagte ich, als ich die Jacke zuknöpfte.

»Laß nur«, meinte sie, »ich kann beide nicht leiden.«

»Danke«, sagte ich, und sie lachte.

Ich zog den Anorak wieder an und schob die gestrickten Bündchen an den Armen hoch. Joanna wickelte langsam die blutbefleckten Verbände an den Handgelenken auf. Trotz des Aufweichens in der Wanne klebten sie immer noch ein bißchen fest; und was darunterlag, bot einen ziemlich unangenehmen Anblick.

»Da kann ich nichts machen«, sagte sie entschieden. »Du mußt zu einem Arzt.«

»Heute abend. Du brauchst jetzt nur zu verbinden.«

»Die Wunden sind zu tief«, sagte sie. »Sie werden eitern. Du kannst so nicht reiten, Rob, wirklich nicht.«

»Ich kann«, sagte ich. »Ich leg’ sie ein bißchen in warmes Wasser, dann kannst du sie wieder verbinden. Aber ganz flach, damit man nichts sieht.«

»Tut’s denn nicht weh?« fragte sie. - Ich schwieg.

»Ja«, sagte sie. »Alberne Frage.« Sie seufzte, holte eine Schüssel mit warmem Wasser und goß ein Desinfektionsmittel hinein. Ich badete die Handgelenke zehn Minuten lang.

»So«, bat ich, »und jetzt verbinden. Ganz flach.«

Sie tat, wie ihr geheißen, und befestigte die Verbände mit kleinen Sicherheitsnadeln. Als sie fertig war, sahen die weißen Verbände sauber und schmal aus. Und ich wußte, daß man sie unter der Rennkleidung nicht sehen würde.

»Großartig«, bedankte ich mich und zog die Ärmel des Anoraks darüber. »Vielen Dank, Florence.«

»Für Sie Nightingale«, antwortete sie und streckte mir die Zunge heraus. »Wann gehst du zur Polizei?«

»Überhaupt nicht. Ich hab’s dir doch schon gesagt.«

»Aber warum nicht? Warum denn nicht?« Sie begriff es nicht.

»Du könntest ihn doch anzeigen.«

»Ich helf mir schon selber«, beharrte ich. »Und außerdem kann ich es nicht ertragen, der Polizei zu erzählen, was gestern nacht passiert ist. Ich will mich nicht fotografieren und vernehmen lassen oder vor Gericht auftreten, vor aller Öffentlichkeit dastehen und alles in den Zeitungen lesen. Das ertrag’ ich einfach nicht.«

»Oh«, sagte sie langsam. »Das wäre dir sicher unangenehm, da hast du recht. Vielleicht kämst du dir gedemütigt vor . Ist es das?«

»Da kannst du recht haben«, gab ich zu. »Und diese Demütigung möchte ich mit mir selber abmachen, wenn es dir nichts ausmacht.«

Sie lachte. »Das ist doch Quatsch«, sagte sie. »Ihr Männer!«

Das Dumme an heißen Bädern ist, daß sie nicht lange nachwirken. Man muß durch Bewegung nachhelfen. Und meine mißhandelten Muskeln protestierten gegen jede Art von Bewegung. Trotzdem machte ich ein paar gymnastische Übungen, während Joanna Eier in die Pfanne schlug. Nach dem Frühstück und dem Rasieren fing ich wieder mit den Bewegungsübungen an, weil ich wußte, daß Template nicht gewinnen konnte, wenn ich nicht einigermaßen auf Draht war. Niemandem war gedient, wenn ich beim ersten Hindernis herunterfiel.

Nach einer Stunde war ich immerhin soweit, daß ich die Arme über Schulterhöhe heben konnte, ohne aufschreien zu müssen. Joanna spülte ab und räumte die Wohnung auf. Kurz nach zehn, während ich mich ein bißchen ausruhte, sagte sie: »Machst du jetzt so weiter, bis du nach Ascot fährst?«

»Ja.«

»Tja«, meinte sie, »es ist ja nur ein Vorschlag, aber warum gehen wir nicht lieber zum Eislaufen?«

»Pfui Teufel, Eis«, rief ich schaudernd.

Sie lächelte. »Ich dachte, man muß sofort nach einem Sturz wieder aufstehen?«

Ich mußte ihr recht geben.

»Jedenfalls wird einem da warm dabei, und interessanter ist es auch als dein Turnen.«

»Du bist ein Genie, liebste Joanna«, lobte ich begeistert.

»Äh ... vielleicht«, sagte sie. »Du gehörst trotzdem ins Bett.«

Als sie fertig war, fuhren wir zur Wohnung meiner Eltern, wo ich von meinem Vater Hemd und Krawatte und seine Schlittschuhe ausborgte. Dann fuhren wir zur Bank, weil die Taxifahrt in der vergangenen Nacht Joannas Bargeld verschlungen hatte und ich ihr das Geld zurückgeben wollte; außerdem brauchte ich ja selbst welches. Schließlich gingen wir noch in ein Geschäft und kauften braune, mit Seide gefütterte Lederhandschuhe, die ich anzog. Anschließend fuhren wir zur Eislaufbahn Queensway, wo wir seit unserer Kindheit Mitglieder waren.

Wir hatten seit unserem sechzehnten Lebensjahr nicht mehr gemeinsam auf Schlittschuhen gestanden, und es war erstaunlich, wie schnell wir uns wieder zusammenfanden.

Sie hatte recht gehabt. Nach einer Stunde war ich von

Kopf bis Fuß gelockert, und es gab kaum einen Muskel, der sich nicht frei bewegte. Joanna hatte rote Backen und glänzende Augen. Sie sah jung und frisch aus. Um zwölf Uhr verließen wir die Eislaufbahn.

»War’s gut?« fragte sie lächelnd.

»Phantastisch«, ich bewunderte das klare, intelligente Gesicht, das sie mir zuwandte.

Sie wußte nicht, ob ich sie oder das Eislaufen meinte, und damit war ich zufrieden.

»Ich meine ... wie ist es mit den Schmerzen?«

»Weg«, sagte ich.

»Du bist ein Lügner«, meinte sie. »Aber wenigstens siehst du nicht mehr so grau aus wie vorher.«

Wir zogen uns um, daß heißt, ich zog anstelle der blaugrünen Strickjacke Hemd und Krawatte meines Vaters an, darüber den Anorak und streifte die Handschuhe über. Sie waren notwendig. Obwohl meine Finger nicht mehr so angeschwollen und auch weniger gerötet waren, begann die Haut an verschiedenen Stellen aufzuplatzen.

Im Vorraum packte Joanna Strickjacke und Schlittschuhe meines Vaters in die Tasche, machte den Reißverschluß zu, und wir gingen auf die Straße hinaus. Sie hatte mir vorher schon gesagt, daß sie mit mir nicht nach Ascot fahren, aber im Fernsehen zuschauen wolle.

»Und daß du mir gewinnst«, betonte sie. »Nach so vielen Anstrengungen.«

»Kann ich nachher zu dir zurückkommen?« fragte ich.

»Aber ja ... ja«, sagte sie, als überrasche sie die Frage.

»Fein«, rief ich. »Na, dann ... auf Wiedersehen.«

»Viel Glück, Rob«, sagte sie ernst.

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