Kapitel 14

Der Fahrer des dritten Taxis, das ich um die Ecke der Bayswater Road anhielt, erklärte sich bereit, mich nach Ascot zu bringen. Unterwegs bewegte ich ständig Arme und Finger; und falls mich der Fahrer im Rückspiegel beobachtete, hielt er mich wohl für vom Veitstanz befallen.

Als ich ihn am Rennplatz bezahlte, meinte er, er wolle sich das Rennen auch ansehen, weshalb ich mit ihm ausmachte, daß er mich nach der Veranstaltung nach London zurückbringen sollte.

»Wie wär’s mit einem Tip?« sagte er, während er das Kleingeld zählte.

»Wie wär’s mit Template im Winter-Cup?« meinte ich.

»Na, ich weiß nicht. Ich glaub’, dieser Finn taugt nichts. Er soll doch völlig fertig sein.«

»Glauben Sie nicht alles, was Sie hören«, sagte ich lächelnd.

»Bis später.«

»Bis später.«

Ich ging durch das Tor und machte mich auf den Weg zum Wiegeraum. Die Zeiger der Uhr wiesen auf fünf nach eins. Sid, James’ erster Pferdepfleger, stand vor dem Wiegeraum, und als er mich sah, kam er mir entgegen und sagte: »Sie sind also doch da.«

»Ja«, sagte ich. »Warum nicht?«

»Der Chef hat mich als Wache aufgestellt. Ich soll ihm sofort Bescheid geben, wenn Sie da sind. Er ist gerade

beim Essen ... es wird gemunkelt, daß Sie nicht kommen wollten, verstehen Sie?« Er hastete davon.

Ich ging durch den Wiegeraum in den Umkleidesaal.

»Na so was«, sagte mein Bursche. »Ich dachte, Sie kneifen.«

»Sie sind also doch gekommen«, meinte Cloony.

»Wo, zum Teufel, bist du gewesen?« fragte Tick-Tock.

»Warum glauben denn alle, daß ich nicht mitmache?« fragte ich.

»Keine Ahnung. Irgendein Gerücht. Alle haben behauptet, du hättest am Donnerstag wieder Angst bekommen und den Rennsport endgültig aufgegeben.«

»Sehr interessant«, sagte ich grimmig.

»Denk nicht mehr dran«, meinte Tick-Tock. »Du bist hier, darauf kommt’s an. Ich habe heute früh bei dir angerufen, aber deine Vermieterin sagte, du seist die ganze Nacht nicht dagewesen. Ich wollte fragen, ob ich nach dem Rennen heute den Wagen haben kann und du dich von Axminster mitnehmen läßt. Ich habe ein tolles Mädchen kennengelernt. Sie ist hier, und wir gehen nachher aus.«

»Den Wagen?« sagte ich. »Oh, ja, sicher. Wir treffen uns nach dem letzten Rennen vor dem Wiegeraum, dann zeig’ ich dir, wo er steht.«

»Großartig«, sagte er. »Hör mal, fühlst du dich ganz wohl?«

»Ja, selbstverständlich.«

»Du siehst ein bißchen mitgenommen aus«, meinte er. »Jedenfalls recht viel Glück mit Template - du weißt ja Bescheid.«

Ein Funktionär steckte den Kopf zur Tür herein und rief meinen Namen. James wartete im Wiegeraum.

»Wo sind Sie gewesen?« fragte er.

»In London«, sagte ich. »Was ist das für ein Gerücht, daß ich nicht komme?«

»Weiß der Himmel«, meinte er achselzuckend. »Ich war überzeugt davon, daß Sie nicht wegbleiben würden, ohne mir Bescheid zu sagen, aber ...«

»Nein«, sagte ich. »Natürlich nicht.« Außer ich hinge noch in einer verlassenen Sattelkammer, dachte ich, für’s ganze Leben verkrüppelt.

Er wechselte das Thema und begann über das Rennen zu sprechen.

»Der Boden ist noch ein bißchen gefroren«, berichtete er, »aber das ist nur zu unserem Vorteil.«

Ich sagte ihm, daß ich gestern die Bahn abgeschritten sei und genau wüßte, wo wir uns in acht nehmen müßten.

»Gut«, sagte er.

Ich sah, daß er zur Abwechslung einmal aufgeregt war. Seine Augen glitzerten, und er lächelte fast ständig. Die Vorfreude auf den Sieg. Wenn ich nicht eine so furchtbare Nacht und einen so anstrengenden Vormittag hinter mir gehabt hätte, wäre ich in derselben Stimmung gewesen.

Statt dessen sah ich dem Rennen ohne große Freude entgegen, weil ich aus Erfahrung wußte, daß ein Ritt im verletzten Zustand kein Vergnügen war. Trotzdem hätte ich meinen Platz auf Template für nichts in der Welt hergegeben.

Als ich in den Umkleideraum zurückging, um Breeches und Pullover anzuziehen, waren die für das erste Rennen gemeldeten Jockeis schon verschwunden. Es war leer und still. Ich ging zu meinem Platz, wo alles bereit lag und setzte mich eine Weile auf die Bank. Mein Gewissen hätte mich eigentlich quälen sollen. James und Lord Tirrold hat-ten ein Recht darauf, ihren Jockei bei einem derart wichtigen Rennen in erstklassiger körperlicher Verfassung vorzufinden, und das war nun ganz und gar nicht der Fall. Ich starrte auf meine behandschuhten Hände hinunter und dachte, wenn wir alle Verletzungen zugäben, wären wir die meiste Zeit auf der Tribüne und müßten zusehen, wie andere auf unseren Pferden gewännen. Es war nicht das erste Mal, daß ich Besitzer und Trainer eines Pferdes auf diese Weise hinterging und trotzdem ein Rennen gewann, hoffentlich auch nicht das letzte Mal.

Ich dachte über das Cup-Rennen nach. Sehr viel hing davon ab, wie es sich entwickeln würde, aber prinzipiell hatte ich vor, mich am Geländer zu halten, den ganzen Umlauf auf dem vierten Platz zu reiten und die letzten sechshundert Meter zu sprinten. Es gab da eine neue irische Stute mit Namen Emerald, der ein toller Ruf vorauseilte; sie wollte erst geschlagen sein, zumal ihr Jockei ein sehr geschickter Bursche war. Falls Emerald in der letzten Kurve führte, mußte Template in ihrer Nähe sein und nicht auf dem vierten Platz abwarten. So schnell er auch war, ich durfte mich nicht allein auf sein Finish verlassen.

Es ist bei den Jockeis nicht üblich, während eines Rennens im Umkleideraum zu bleiben; ich sah, daß mich die Betreuer überrascht anstarrten. Ich stand auf, nahm den Unterjersey und Lord Tirrolds Renndreß und ging in den Waschraum, um mich umzuziehen. Sollen die Kerle denken, was sie wollen, dachte ich. Ich wollte mich unbeobachtet umziehen, teils weil ich es vorsichtiger tun mußte als sonst, vor allem aber, damit sie die Bandagen nicht sahen. Ich zog die Ärmel des dünngestrickten, grünschwarzen Jerseys nach unten, bis sie die Verbände verbargen.

Das erste Rennen war vorbei. Die Jockeis strömten in den Umkleideraum, als ich zu meinem Platz zurückging. Ich zog Breeches, Nylonstrümpfe und Stiefel an und trug

Sattel und Ballastdecke zur Probewaage, damit Mike die Bleistücke einfüllen konnte.

»Sie haben Handschuhe an«, meinte er.

»Ja«, sagte ich gelassen. »Es ist ziemlich kalt. Aber zum Reiten nehme ich besser seidene.«

»Okay«, sagte er. Erholte aus einem Korb ein Bündel weicher Handschuhe und gab mir ein Paar. Ich ging zur Eichwaage, um mich prüfen zu lassen, und gab meinen Sattel an Sid weiter, der schon darauf wartete.

»Der Chef hat befohlen, daß ich Template im Stall satteln und ihn dann, wenn es Zeit ist, sofort in den Paradezirkel bringen soll, ohne vorher in die Sattelbox zu gehen.«

»Gut«, sagte ich mit Nachdruck.

»Zwei Privatdetektive und ein Riesenhund haben die ganze Nacht Wache gehalten. Und ein dritter Privatdetektiv sitzt bei Template in der Box. So einen Zirkus haben Sie noch nicht gesehen!«

»Wie geht’s dem Pferd?« fragte ich lächelnd. Offenbar hielt James sein Wort, daß Template nicht gedopt sein würde.

»Er wird Sie fertigmachen«, sagte Sid lakonisch. »Die Iren werden gar nicht wissen, was passiert ist. Alle Betreuer haben einen ganzen Wochenlohn auf ihn gewettet. Ja, ich weiß, daß sie ein bißchen verärgert waren, weil Sie ihn reiten, aber ich habe Sie am Donnerstag auf Turniptop beobachtet und ihnen gesagt, daß sie sich keine Sorgen zu machen brauchen.«

»Danke«, sagte ich.

Die Zeit verging langsam. Meine Schultern schmerzten. Um mich abzulenken, stellte ich mir Kemp-Lores Gesicht vor, sobald er meinen Namen auf der Anzeigetafel las. Zuerst würde er das für einen Irrtum halten und auf eine

Berichtigung warten. Aber jeden Augenblick muß ihm klar sein, daß ich tatsächlich hier bin, dachte ich grimmig.

Während des zweiten Rennens saß ich im Umkleideraum neugierig beäugt von den Betreuern. Ich zog die braunen Handschuhe aus und ersetzte sie durch die weißen. Ich bewege meine Finger. Die Schwellung war weitgehend abgeklungen, und trotz der aufgesprungenen und empfindlichen Haut schienen die Finger wieder kräftiger zu sein.

Wieder kamen die anderen Jockeis lachend, fluchend und diskutierend zurück, teilten freundliche und weniger freundliche Beschimpfungen aus, brüllten die Betreuer an, warfen ihre Sachen auf die Bänke - und ich schien in einer anderen Welt zu leben.

Mühsam verging eine weitere Viertelstunde. Dann steckte ein Funktionär den Kopf herein und schrie: »Jockeis auf die Plätze bitte beeilen.« Ich stand auf, zog den Anorak an, schnallte meinen Helm fest, nahm meine Peitsche und ging mit den anderen zur Tür. Immer noch kam mir alles unwirklich vor.

Auf dem Sattelplatz, wo im Juni die Bänder in der Hitze flatterten, standen Pferdebesitzer und Trainer durchfroren herum, die meisten bis zu den Augen in dicke Schals eingehüllt. Der helle Wintersonnenschein täuschte eine Wärme vor, der tränende Augen und blau angelaufene Nasen widersprachen. Aber mein Anorak schützte mich gegen den Wind.

Lord Tirrolds Miene zeigte dieselbe aufgeregte Erwartung, wie ich sie schon bei James bemerkt hatte. Sie sind beide felsenfest davon überzeugt, daß Template gewinnen wird, dachte ich unsicher. Ihre Zuversicht schwächte die meine.

»Na, Rob«, sagte Lord Tirrold und drückte mir die Hand.

»Jetzt geht’s um die Wurscht!«

»Ja, Sir«, erwiderte ich, »das kann man wohl sagen.«

»Was halten Sie von Emerald?« fragte er.

Wir sahen sie mit gesenktem Kopf im Ring herumgehen.

»Sie soll eine zweite Kerstin sein«, meinte James, auf die beste Rennstute des Jahrhunderts anspielend. »Man kann sich noch kein endgültiges Urteil erlauben«, entgeg-nete Lord Tirrold. Ich fragte mich, ob er dasselbe dachte wie ich, daß es nach dem Winter-Cup vielleicht anders aussehen mochte. Aber wie um diese Möglichkeit auszuschließen, fügte er hinzu: »Template wird sie schlagen.«

»Das glaube ich auch«, stimmte James zu.

Ich schluckte. Sie waren ihrer Sache zu sicher. Wenn er gewann, entsprach das nur ihren Erwartungen. Wenn er verlor, würden sie mir die Schuld geben, wahrscheinlich mit gutem Grund. Template selbst stolzierte in seiner marineblauen Decke im Kreis herum, den Kopf vor dem Wind abwendend, während sein Pfleger wie ein kleines Kind an einem großen Drachen am Leitzügel hing.

Eine Glocke läutete, das Zeichen, daß die Jockeis aufsteigen mußten. James winkte dem Jungen, der Template herüberbrachte und die Decke abnahm.

»Alles in Ordnung?« sagte James.

»Jawohl, Sir.«

Templates Augen glänzten, seine Ohren standen steil in die Höhe, seine Muskeln schienen nur auf den Start zu warten. Das Bild einer gespannten, sprungbereiten Rennmaschine. Er war kein braves Pferd und erregte eher Bewunderung als Zuneigung, aber ich mochte ihn wegen seines Temperaments, seiner Angriffslust und seines Siegeswillens.

»Du hast ihn lang genug bewundert, Rob«, sagte James scherzend. Ich zog den Anorak aus und warf ihn auf die

Decke. James half mir in den Sattel, ich nahm die Zügel und steckte die Füße in die Steigbügel.

Was er in meinem Gesicht las, weiß ich nicht, aber er sagte plötzlich besorgt: »Ist etwas?«

»Nein«, erwiderte ich. »Alles bestens.« Ich lächelte zu ihm hinunter.

Lord Tirrold sagte: »Viel Glück«, als sei ich gar nicht darauf angewiesen, ich legte die Hand an die Mütze und ritt Template zur Parade auf dem Kurs.

Auf einem Turm in der Nähe des Startplatzes stand eine Fernsehkamera. Der Gedanke an Kemp-Lore, der mich jetzt auf dem Monitor sehen mußte, erwies sich als wunderbares Gegengift für den eiskalten Wind. Wir ritten fünf Minuten lang im Kreis herum, elf Pferde insgesamt, während der Startergehilfe die Gurte fester schnallte und über die Kälte jammerte.

»Aufstellen«, rief der Starter, und wir bildeten eine Reihe quer über die Bahn, Template ganz innen neben dem Geländer.

Ich beobachtete die Hand des Starters. Er hatte die Gewohnheit, die Finger zu strecken, bevor er den Hebel umlegte, und ich dachte gar nicht daran, ein anderes Pferd vor mir wegzulassen, damit es mir die Position, die ich am Geländer eingenommen hatte, streitig machen konnte.

Der Starter streckte die Finger. Ich stieß Template in die Flanken. Er brauste davon, unter dem hochschnellenden Startband heraus, während ich flach auf seinem Hals lag, um nicht heruntergerissen zu werden. Andere Reiter, die zu früh gestartet waren, konnten das nicht verhindern. Das Band pfiff über meinen Kopf dahin, und wir waren auf dem Weg, ungefährdet am Geländer, und die nächsten zwei Meilen von der Innenbahn nicht zu vertreiben.

Die ersten drei Hindernisse waren die schlimmsten, was meinen Zustand betraf. Bis wir das vierte - den Wassergraben - hinter uns hatten, waren die Wunden an meinem Rücken wieder aufgebrochen, meine Arme und Schultern schienen von Hämmern zermalmt zu werden, und ich hatte erfahren müssen, wieviel meine Handgelenke und Hände zu erdulden hatten.

Als wir hinter dem Wassergraben aufkamen, fühlte ich nur noch Erleichterung. Alles war erträglich. Ich kam damit zurecht, konnte es ignorieren und mich auf meine Aufgabe konzentrieren.

Von meinem Standpunkt aus war der Rennablauf unkompliziert, weil ich vom Start bis zum Ziel nur drei andere Pferde sah, Emerald und die beiden nur leicht gehandikapten Tiere, denen ich erlaubt hatte, in Führung zu gehen und das Tempo zu bestimmen. Die Jockeis dieser beiden Pferde ließen ständig eine sechzig Zentimeter breite Lücke zwischen sich selbst und dem Geländer; und ich überlegte mir, daß sie beim vorletzten Hindernis auf der Geraden wie üblich etwas zu den Tribünen hinüberdrängen würden, wie das in Ascot gebräuchlich ist, um mir damit eine Lücke zu schaffen, durch die ich vorwärtsdringen konnte.

Meine Hauptaufgabe bis dahin verlangte, Emerald daran zu hindern, daß sie statt Template diese Öffnung nutzte. Ich beließ nicht Platz genug zwischen mir und den beiden ersten Pferden, damit Emerald nicht herein konnte, so daß die Stute den ganzen Weg auf der Außenbahn zurückzulegen hatte. Es spielte keine Rolle, daß sie einen guten halben bis einen Meter vor mir war; da konnte ich sie besser sehen, und Template war ein zu geschickter Springer, um sich irritieren zu lassen.

In unveränderter Reihenfolge beendeten wir die erste Runde und rasten wieder hinaus. Template übersprang die vier Hindernisse in Richtung Swinley Bottom so großartig, daß wir die Schrittmacher allzusehr bedrängten, ich mußte ihn auf der flachen Strecke jedesmal ein bißchen zurücknehmen, um nicht zu früh an die Spitze zu gehen, hatte aber dabei darauf zu achten, daß Emerald sich nicht zwischen die führenden Pferde und Template drängen konnte. Von Zeit zu Zeit sah ich das grimmige Gesicht von Emeralds Jockei. Er wußte sehr wohl, was ich da trieb, und wenn ich nicht als erster am Geländer gewesen wäre, hätte er dasselbe mit mir gemacht. Vielleicht hatte ich es Kemp-Lore zu verdanken, daß er nicht einmal den Versuch unternommen hatte; wenn der Ire durch Kemp-Lores Bemühungen, meinen Ruf zu zerstören, leichtsinnig geworden war, sollte es mir nur recht sein.

Die nächste halbe Meile liefen die beiden Pferde an der Spitze wunderbar, aber am drittletzten Hindernis benützte einer der Jockeis seine Peitsche, der andere arbeitete schon mit beiden Händen. Sie waren erledigt und wurden deshalb ein bißchen nach außen getrieben, als sie in die letzte Kurve gingen. Der Ire mußte sich zu sehr auf seine übliche Taktik versteift haben, weil er diesen Augenblick benützte, um an die Spitze zu gehen. Das war der ideale Zeitpunkt für dieses Manöver. Ich sah ihn neben mir vorwärtsspurten und beschleunigen, aber er mußte um die beiden Pferde, die gerade nach rechts ausbogen, herumgehen, wobei er Längen verschwendete. Die Stute trug sieben Pfund weniger Gewicht als Template, und in dieser Kurve verlor sie den Vorteil, der ihr durch das geringere Gewicht erwachsen war.

Nach der Kurve, als wir zum letzten Mal in die Gerade gingen und das vorletzte Hindernis vor uns hatten, war Emerald außen in Führung, dann kamen die beiden müde werdenden Pferde, schließlich ich.

Zwischen dem inneren Schrittmacher und dem Geländer war eine Lücke von neunzig Zentimeter. Ich trieb Template an. Er stellte die Ohren hoch, wölbte seine kolossalen Muskeln und stürmte in die schmale Öffnung. Am vorletzten Hindernis sprang er mit einer halben Länge Rückstand ab und landete eine Länge vor dem nachlassenden Pferd, so nah an ihm vorbeizischend, daß ich den anderen Jockei überrascht aufschreien hörte.

Eines von Templates großen Talenten war seine Geschwindigkeit nach dem Aufsprung. Ohne Zögern raste er weiter, am Geländer entlang, während Emerald nur noch eine Länge vor uns war. Ich trieb Template ein bißchen an, um die Stute nicht ans Geländer kommen und mich am letzten Hindernis blockieren zu lassen. Sie brauchte nur zwei Längen Führung, um das ungefährdet tun zu können, aber ich dachte nicht daran, das zuzulassen.

Das einmalige Erlebnis bei einem Ritt auf Template lag in dem Gefühl unermeßlicher Kraft begründet. Auf ihm hatte man es nicht nötig, aus der jeweiligen Situation das Beste zu machen, auf die Fehler der anderen zu hoffen und im Finish nichts mehr zulegen zu können. Er hatte genug Kraftreserven, um seinem Jockei zu ermöglichen, sich das Rennen nach Wunsch einzuteilen, und etwas Schöneres gab es überhaupt nicht.

Als wir auf das letzte Hindernis zu galoppierten, wußte ich, daß Template Emerald schlagen konnte, wenn er nur halbwegs so gut sprang wie sonst auch. Sie führte mit einer Länge und zeigte keinerlei Ermüdungserscheinungen, aber ich hielt Template immer noch zurück. Zehn Meter vor dem Hindernis gab ich ihm freie Hand. Ich stieß ihm in die Flanken, preßte die Schenkel zusammen, und er flog wie ein Engel über das Hindernis, hoch, weit hinauf, als hätte er Flügel.

Er rückte um eine halbe Länge näher an die Stute heran, aber sie gab nicht so leicht auf. Ich sank in den Sattel zurück, trieb Template mit aller Kraft an, und er streckte sich. Auf der flachen Strecke holte er Emerald ein. Sie ging noch eine kurze Strecke mit, aber Template war nicht zu halten. Er stürmte mit unglaublichem Tempo an ihr vorbei und gewann schließlich ganz klar mit zwei Längen Vorsprung.

Es gibt Gelegenheiten, bei denen Worte nicht ausreichen, und ich konnte nur noch Templates Hals immer und immer wieder tätscheln. Ich hätte ihn am liebsten abgeküßt. Ich hätte ihm alles gegeben. Wie bedankt man sich bei einem Pferd? Wie sollte man sich bei ihm für einen derartigen Sieg bedanken?

Die beiden großen, breitschultrigen Männer konnten ihre Freude kaum verbergen. Sie standen nebeneinander, erwarteten uns auf dem eingezäunten Platz, wo die Pferde abgesattelt wurden. Ich lächelte sie an, nahm die Füße aus den Steigbügeln und stieg ab. Auf den Boden - zurück auf die Erde. Das Ende eines unvergeßlichen Erlebnisses.

»Rob«, sagte James kopfschüttelnd. »Rob.« Er tätschelte Template und sah mir zu, wie ich den Sattelgurt mit zitternden Fingern aufschnallte.

»Ich hab’ gewußt, daß er es schafft«, sagte Lord Tirrold. »Was für ein Pferd! Was für ein Rennen!«

Endlich hatte ich den Sattelgurt offen und den Sattel unter dem Arm, als ein Funktionär Lord Tirrold bat, sich nicht zu entfernen, weil man in wenigen Minuten den Cup überreichen würde. Zu mir sagte er: »Würden Sie bitte nach dem Abwiegen gleich wieder herauskommen? Für den Siegerjockei gibt es auch eine Trophäe.«

Ich nickte und ging hinein, um mich auf die Waage zu setzen. Jetzt, da die Konzentration auf das Rennen überstanden war, entdeckte ich, welche Schäden ich davongetragen hatte. Alle Muskeln an meinen Schultern und die Arme hinunter bis zu den Fingerspitzen waren wie Blei, durchzuckt von brennenden und stechenden Schmerzen. Ich war schrecklich schwach und müde, und die Schmerzen in meinen Handgelenken hatten sich so verstärkt, daß ich die Zähne zusammenbeißen mußte, um mir nichts anmerken zu lassen. Ein schneller Blick zeigte, daß die Verbände blutig geworden waren, ebenso die Stulpen der seidenen Handschuhe und zum Teil auch der Unterjersey.

Mit breitem Lächeln nahm mir Mike im Umkleideraum den Sattel ab und den Helm vom Kopf.

»Sie werden draußen erwartet, wußten Sie das?« fragte er.

Ich nickte. Er hielt mir einen Kamm hin.

»Richten Sie sich ein bißchen her.«

Ich nahm gehorsam den Kamm, bändigte mein Haar und ging hinaus.

Die Pferde waren weggeführt worden. An ihrer Stelle stand ein Tisch mit dem Winter-Cup und anderen Trophäen, dahinter eine Gruppe von Funktionären und Angehörigen der Rennleitung sowie des National Hunt Committees. Und Maurice Kemp-Lore.

Es war ein Glück, daß ich ihn sah, bevor er den Blick auf mich richtete. Meine Kopfhaut zog sich bei seinem Anblick zusammen, Ekel schüttelte mich. Wenn er das gesehen hätte, wäre ihm die Bedeutung dieses Vorgangs nicht verborgen geblieben.

James stand plötzlich neben mir. Er folgte meinem Blick.

»Warum sehen Sie so grimmig drein?« sagte er. »Er hat nicht einmal versucht, Template zu dopen.«

»Nein«, gab ich zu. »Er war wohl mit seiner Arbeit zu sehr beschäftigt.«

»Er hat es endgültig aufgegeben«, meinte James zuversichtlich.

»Er muß eingesehen haben, daß es keinen Zweck hat, andere Leute davon zu überzeugen, Sie hätten den Mut verloren. Nach Ihrem Rennen am Donnerstag war es aus.«

Es war meine verwegene Reitattacke am Donnerstag gewesen, die Kemp-Lore veranlaßte, mich am Freitag seiner Sonderbehandlung zu unterziehen. Das war mir völlig klar.

»Haben Sie jemandem von dem Zucker erzählt?« fragte ich James.

»Nein«, sagte er. »Sie hatten mich ja ausdrücklich gebeten, es nicht zu tun. Aber ich glaube, daß wir etwas unternehmen müssen. Beweis hin, Beweis her ...«

»Würden Sie bis nächsten Samstag warten?« fragte ich. »Genau eine Woche? Dann können Sie tun, was Sie wollen.«

»Meinetwegen«, sagte er langsam. »Ich glaube aber immer noch .«

Das Eintreffen des Ehrengastes am Trophäentisch, einer hübschen Herzogin, die mit gutgewählten Worten und freundlichem Lächeln Lord Tirrold den Winter-Cup, James ein silbernes Tablett und mir ein Zigarettenkästchen überreichte, unterbrach ihn. Ein Pressefotograf ließ das Blitzlicht aufflammen, als wir drei beieinanderstanden und unsere Preise bewunderten, und dann gaben wir sie an einen Funktionär zurück, damit er unsere und Templates Namen eingravieren ließ.

Als ich das Zigarettenkästchen übergab, hörte ich Kemp-Lores Stimme hinter mir, und ich hatte Zeit, mein Gesicht in Gewalt zu bekommen, bevor ich mich umdrehte.

Ich wandte mich ihm zu und begegnete seinen Augen. Sie waren durchdringend blau und sehr kalt, aber es war ihnen keinerlei Reaktion anzumerken, als ich ihren Blick erwiderte. Ich fühlte mich ein wenig erleichtert. Er hatte in meinem Gesicht die Bestätigung gesucht, aber nicht gefunden, daß ich wußte, wer mich am Abend zuvor entführt hatte.

»Rob Finn«, sagte er mit einer charmanten Fernsehstimme, »ist der Jockei, den Sie eben auf seinem Wunderpferd Template dem Sieg zueilen sahen.« Er sprach in ein Handmikrophon, hinter dem sich ein endloses schwarzes Kabel herschlängelte und sah abwechselnd mich und eine Kamera auf einer Plattform in der Nähe an. Das rote Auge der Kamera glühte. Ich gürtete innerlich meine Lenden und bereitete mich darauf vor, all seinen hinterlistigen Einwänden zuvorzukommen.

»Es hat Ihnen sicher Spaß gemacht, auf ihm zu sitzen?« meinte er.

»Es war wunderbar«, sagte ich nachdrücklich und strahlte über das ganze Gesicht. »Es ist für jeden Jockei ein tolles Erlebnis, ein so großartiges Pferd zu reiten. Natürlich«, fuhr ich fort, bevor er etwas sagen konnte, »bin ich nur durch einen glücklichen Zufall in diese Situation gekommen. Wie Sie wissen, habe ich in den letzten Monaten Pip Pankhursts Platz eingenommen, während sein Bein heilt, und der heutige Sieg gehört eigentlich ihm. Es geht ihm zum Glück schon viel besser, und wir freuen uns alle, daß er bald wieder in den Sattel steigen kann.« Ich meinte es ernst; wenn ich auch dann weniger Ritte bekommen würde, der ganze Rennsport konnte nur gewinnen, wenn der Champion wieder seinen Platz einnahm.

Kemp-Lores Mundwinkel zuckten ein wenig. »In der letzten Zeit lief es für Sie nicht ganz so gut ...«:, begann er.

»Nein«, unterbrach ich ihn herzlich. »Ist es nicht merkwürdig, wie häufig solche Pechsträhnen auftreten? Wußten Sie, daß Doug Smith einmal hintereinander neunundneunzig Verlierer geritten hat? Das muß gräßlich gewesen sein. Dagegen verblassen meine guten zwanzig Mißerfolge.«

»Sie waren also nicht besorgt über ... äh. über diese Pechsträhne, die Sie durchmachen mußten?« Sein Lächeln wirkte gezwungen.

»Besorgt?« wiederholte ich fröhlich. »Na ja, ich war nicht gerade begeistert, aber solche Pechsträhnen hat schon jeder Jockei durchgemacht, und man muß sie einfach durchstehen, bis wieder einmal ein Sieg dabei ist wie heute«, fügte ich hinzu.

»Die meisten Leute sahen dahinter mehr als Pech«, sprach er scharf. Seine Freundlichkeit hatte einen argen Sprung, und für einen Sekundenbruchteil sah ich in seinen Augen die Wut aufzucken, die er zu beherrschen versuchte. Ich verspürte große Befriedigung und lächelte ihn nur um so strahlender an.

»Die Leute glauben alles, wenn es ihnen an die Tasche geht«, meinte ich. »Leider haben viele der Zuschauer Geld verloren, die auf meine Pferde gewettet haben ... da ist es nur natürlich, daß man dem Jockei die Schuld gibt ... damit muß man sich eben abfinden.«

Erhörte mir zu, während ich reparierte, was er kaputtgemacht hatte, und er konnte mich nicht bremsen, ohne sich bloßzustellen; nichts ist der Popularität eines Fernsehkommentators abträglicher, als wenn er sich als schlechten Sportsmann zu erkennen gibt.

Er war im rechten Winkel zu mir, mit dem Profil zur Kamera gestanden, aber jetzt tat er einen Schritt auf mich zu und drehte sich, bis er links neben mir stand. Seine Lippen wurden schmal, und in gewisser Weise bereitete mich das auf seine nächste Aktion vor.

Mit einer großartigen Geste, die auf dem Bildschirm wie ehrlich gemeinte Freundschaft ausgesehen haben mußte, legte er mir den rechten Arm schwer auf die Schultern, so daß der rechte Daumen vorne auf dem Schlüsselbein lag und die Finger über den Schultergürtel gespreizt waren. Ich stand ganz ruhig, wandte ihm den Kopf zu und lächelte süß. Selten war mir etwas so schwergefallen.

»Erzählen Sie uns doch etwas über das Rennen, Rob«, bat er, das Mikrophon näherbringend. »Wann nahmen Sie an, daß Sie gewinnen würden?« Sein Arm fühlte sich an wie ein Zentnergewicht, eine beinahe unerträgliche Last auf meinen schmerzenden Muskeln. Ich nahm meine ganze Beherrschung zusammen.

»Oh ... als ich zum letzten Hindernis kam«, sagte ich, »dachte ich, daß Template schnell genug sein könnte, um Emerald auf der flachen Strecke zu schlagen. Er ist ja im Finish sehr schnell, wie Sie wissen.«

»Ja, selbstverständlich.« Er preßte mir die Finger stärker in den Schultergürtel und schüttelte mich mit gespielter Freundlichkeit. Alles begann sich um mich zu drehen, die Umgebung verschwamm vor meinen Augen. Ich lächelte weiter, konzentrierte mich verzweifelt auf das gutaussehende Gesicht vor mir und wurde durch einen Ausdruck von Verwirrung und Enttäuschung in seinen Augen belohnt.

Er wußte, daß unter seinen Fingern sich Stellen befanden, die Berührung nicht ertragen konnten, aber er war sich nicht darüber im klaren, wieviel Mühe es gekostet hatte, mich aus der Sattelkammer zu befreien. Ich wollte ihn in dem Glauben lassen, daß es ganz einfach gewesen war, daß die Fesseln abgerutscht waren oder ich den Zaumzeughaken leicht aus der Decke hatte reißen können. Ich wollte ihm nicht einmal den Trostpreis gönnen, zu wissen, daß es ihm beinahe gelungen wäre, mich an dem Ritt auf Template zu hindern.

»Und wie lauten Templates Pläne für die Zukunft?« Er gab sich Mühe, normale Konversation zu treiben.

»Da wäre der Gold Cup in Cheltenham«, sagte ich. Ich konnte nicht mehr beurteilen, ob es mir noch gelang, gleichmütig zu erscheinen, aber in seinem Gesicht war immer noch kein Triumph zu bemerken, so daß ich fortfuhr: »Ich nehme an, daß er dort in drei Wochen läuft. Wenn alles gut geht, versteht sich.«

»Und hoffen Sie, ihn da auch wieder reiten zu können?« fragte er. Seine Stimme hatte einen Unterton, der gerade noch nicht beleidigend wirkte. Es schien ihm so schwer wie mir zu fallen, Sympathie zu bezeigen.

»Das kommt darauf an«, sagte ich, »ob Pip rechtzeitig fit ist ... und ob Lord Tirrold und Mr. Axminster mich einsetzen wollen, falls es nicht klappt. Aber ich möchte natürlich gerne reiten, wenn es geht.«

»Sie haben bisher noch nie am Gold Cup teilnehmen können, glaube ich?« Er suchte den Eindruck zu erwecken, als versuche ich seit Jahren erfolglos, ein Pferd zu bekommen.

»Nein«, sagte ich. »Aber seit ich Jockei bin, ist er erst zweimal ausgetragen worden, und ich kann mich glücklich schätzen, wenn ich so früh in meiner Laufbahn einen Ritt bekomme.«

Seine Nasenflügel blähten sich. Ich dachte befriedigt, da hab’ ich dich schön erwischt, Freundchen, du hast vergessen, daß ich erst seit kurzer Zeit Jockei bin.

Er wandte das Gesicht der Kamera zu. Ich sah die Starrheit in seinem Genick, den Kiefermuskeln, den sichtbar schlagenden Puls an seiner Schläfe. Ich konnte mir vorstellen, daß er mich am liebsten tot gesehen hätte, aber er konnte sich soweit beherrschen, um zu begreifen, daß ich nicht mehr nur an Zufall glauben würde, wenn er meine Schulter noch stärker mißhandelte.

Wenn er in diesem Augenblick weniger beherrscht gewesen wäre, hätte ich ihn später vielleicht gnädiger behandelt. Wenn seine berufsgemäß freundliche Miene der Wut Ausdruck gegeben hätte, die ihn erfüllte, oder wenn er mir die Nägel ohne Bedenken in den Rücken gekrallt hätte, wäre es mir vielleicht möglich gewesen, ihn eher für zornentbrannt als für bösartig zu halten. Aber er wußte nur zu gut, wann er aufhören mußte, und da ich irrsinnige Wut nicht mit solcher Selbstdisziplin zu vereinbaren vermochte, war er nach meinen Grundsätzen geistig normal; geistig normal und beherrscht, und daher nicht in Gefahr, sich innerlich selbst zu zerstören. Ich warf Claudius Mellits Bitte um Benützung von Glacehandschuhen endgültig über Bord.

Kemp-Lore sprach gelassen in Richtung Kamera, seine Sendung zu Ende bringend. Er schüttelte mich ein letztes Mal freundschaftlich und nahm den Arm von meinen Schultern. Langsam und methodisch sagte ich mir stumm die zehn unanständigsten Worte vor, die ich kannte, und danach hörte der Ringplatz auf, sich um mich zu drehen.

Der Mann mit der Kamera hob die Hand, und das rote Auge erlosch.

Kemp-Lore wandte sich mir zu und sagte: »So, das wär’s. Die Sendung ist vorbei.«

»Danke, Maurice«, erwiderte ich, über das ganze Gesicht lachend. »Genau das hab’ ich gebraucht, um wieder ganz oben zu sein. Ein richtiger Sieg und ein Fernsehinterview mit Ihnen. Herzlichen Dank.« Ich konnte genausogut Salz in seine Wunde streuen.

Er warf mir einen Blick zu, in dem die angelernte Gewohnheit des Charmes mit der Bösartigkeit kämpfte und noch einmal gewann. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging davon, sein Mikrophonkabel hinter sich herziehend.

Wer von uns beiden den anderen mehr haßte, ließ sich nicht entscheiden.

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