Kapitel 11

Obwohl weder Tick-Tock noch ich am nächsten Tag für ein Rennen engagiert waren, klaute ich ihm den Wagen, um nach Ascot zu fahren, und lief um die Bahn herum. Über die Heide wehte ein bitterkalter Nordostwind, und der Boden war steinhart. Der Winter war bisher recht mild gewesen, aber der klare Himmel versprach Schnee und Eis. Einen Tag noch, mehr verlangte ich nicht, nur noch einen Tag. Aber als ich mit dem Absatz gegen den Boden stieß, war ich enttäuscht.

Ich beendete meinen Rundgang und überlegte mir, wie ich das Rennen anpacken sollte. Wenn der Boden hart blieb, hatten wir ein schnelles Geläuf vor uns, aber das war Template nur angenehm, zumal er viel Gewicht zu schleppen hatte.

Vor dem Wiegeraum trat mir Peter Cloony in den Weg. Sein Gesicht war bleich, hager und bedrückt, und auf seiner Stirn zeigten sich Runen.

»Ich zahl’s Ihnen zurück«, sagte er beinahe feindselig.

»Schon gut. Später mal. Eilt nicht«, meinte ich.

»Sie hätten meiner Frau nicht hinter meinem Rücken das Geld und die Lebensmittel geben dürfen. Ich wollte das alles sofort zurückschicken, aber sie ließ mich nicht. Wir sind nicht auf Wohltätigkeit angewiesen. Ich mag das nicht.«

»Sie sind ein Trottel, Peter«, sagte ich. »Ihre Frau hat recht gehabt, die Sachen zu behalten, und ich hätte mich schön geärgert, wenn sie abgelehnt hätte. Finden Sie sich ruhig damit ab: Jede Woche wird eine Kiste Lebensmittel in Ihr Haus geliefert, bis Sie wieder anständig verdienen.«

»Nein«, schrie er. »Das laß ich nicht zu.«

»Ich seh’ nicht ein, warum Ihre Frau und Ihr Kind leiden sollen, nur weil Sie zu stolz sind«, rief ich. »Aber wenn es Ihr Gewissen beruhigt, sag’ ich Ihnen, warum ich das mache. Sie werden nie ordentliche Arbeit kriegen, solange Sie mit einem solchen Gesicht herumlaufen. Sie müssen sich zusammennehmen und beweisen, daß es sich lohnt, Sie zu engagieren. Ich tue nichts anderes, als eine Ihrer Sorgen aus dem Weg zu räumen, damit Sie ein bißchen mehr an den Rennsport und ein bißchen weniger an Ihr kaltes Haus und die leere Speisekammer denken können. Und kommen Sie um Gottes willen nicht wieder zu spät.«

Ich ging weg, während mir Peter mit offenem Mund und hochgezogenen Brauen nachstarrte. Was Kemp-Lore eingerissen hatte, konnte ich versuchen wieder aufzubauen, dachte ich. Ich hatte ihn bei meiner Ankunft von ferne gesehen; er unterhielt sich angeregt mit einem Herrn der Rennleitung, der über das ganze Gesicht lachte.

Nach dem vierten Rennen brachte man mir ein Telegramm in den Umkleideraum. Es lautete: >Hol mich in Uxbridge beim White Bear um halb sieben ab. Wichtig. Ingersoll. < Ich verfluchte Tick-Tock innerlich, weil Uxbridge in entgegengesetzter Richtung von meinem Heimweg war. Aber schließlich gehörte der Wagen zur Hälfte ihm, und in der letzten Woche hatte ich ihn für mich allein gehabt.

Der Nachmittag zog sich hin. Es war mir unangenehm, zusehen zu müssen, vor allem nach dem großartigen Rennen auf Turniptop, aber ich bemühte mich, meinen Rat auch hier zu befolgen und ein fröhliches Gesicht zu machen. Nach einer Weile schienen die anderen tatsächlich ein bißchen aufzutauen. Das Leben war viel einfacher, seit man wieder mit mir sprach, aber ich zweifelte nicht, daß die meisten noch abwarten wollten, bis ich Template gerit-ten hatte. Das machte mir nichts aus. Ich war überzeugt davon, daß er einer der Schnellsten war, und ich hatte mir von James versprechen lassen, daß man ihn unablässig bewachen würde.

Nach der Rennveranstaltung lungerte ich herum, weil ich zwei Stunden Zeit hatte, bevor ich Tick-Tock abholen mußte. Ich sah den Leuten von der Universal Television zu, die alles für die Übertragung des morgigen Rennens aufbauten, und erkannte einen der Männer: Gordon Kildare, immer noch im blauen Nadelstreifenanzug. Er ging mit geübtem Lächeln an mir vorüber, was bei einem Mann wie ihm immer heißt, daß er nicht weiß, wen er anlächelt, es aber trotzdem tut, weil sich der Betreffende später als wichtig herausstellen könnte. Er war jedoch noch keine zwei Schritte an mir vorbei, als er sich umdrehte und zurückkehrte.

»Sie sind doch in der Sendung aufgetreten«, sagte er freundlich.

»Nein, warten Sie mal ...« Er runzelte die Stirn, dann schnalzte er mit den Fingern. »Finn, richtig, Finn.« Aber sein Lächeln verschwand schnell, und ich wußte, daß er auch daran dachte, was vor einer Woche in der Sendung über mich gesagt worden war.

»Ja, Finn«, sagte ich. »Alles fertig für morgen?«

»Oh, ja. Es wird ziemlich anstrengend werden. Tut mir leid, daß ich gleich weg muß, aber Sie wissen, wie es ist ... Wir müssen heute noch die Sendung machen, und ich muß ins Studio. Maurice ist längst fort.«

Er sah auf die Uhr, lächelte verbindlich, zog sich zurück.

Ich sah ihn in einem nagelneuen Ford davonfahren und stellte mir das Studio vor, zu dem er zurückkehrte: die Kameras, die grellen Scheinwerfer, die Platte mit Sandwiches; immer dasselbe, und wer würde heute abend Kemp-Lores Opfer sein?

Ich konnte ja so wenig gegen ihn unternehmen. Mühsame Wühlarbeit, Gegengerüchte ausstreuen. Versuchen, seinen Einfluß zu untergraben? All das, ja, aber ich besaß weder sein Prestige noch seine Rücksichtslosigkeit. Ich steckte die Hände in die Taschen, ging zum Mini-Cooper hinaus, um Tick-Tock abzuholen. Auf dem dunklen Parkplatz neben dem >White Bear< stand außer meinem Wagen nur noch ein Auto. Im Lokal saß ein einzelner alter Mann vor einem Bierglas. Ich kehrte an die Theke zurück und bestellte einen Whisky. Kein Tick-Tock. Ich sah auf die Uhr. Zwanzig vor sieben.

»Warten Sie zufällig auf jemand, Sir?« fragte der Schenkkellner.

»Ja, allerdings«, sagte ich.

»Sie sind nicht zufällig ein Mr. Finn?«

»Doch.«

»Dann hab’ ich eine Nachricht für Sie, Sir. Ein Mr. Ingersoll hat eben angerufen, daß er Sie hier nicht treffen kann, Sir, es tue ihm sehr leid, aber Sie möchten ihn doch um 6.55 Uhr am Bahnhof abholen. Sie brauchen nur geradeaus zu fahren und bei der ersten Straße links abzubiegen, dann ist es noch ein Kilometer.«

Ich leerte mein Glas, bedankte mich und ging zu meinem Wagen hinaus. Ich setzte mich ans Steuer und wollte das Licht und die Zündung einschalten. Ich streckte die Hand aus ... aber ich kam nicht an den Knopf.

Von hinten packte mich jemand am Hals. Ich hörte ein Geräusch hinter mir, als eine Schuhsohle über die dünne Matte kratzte. Ich warf die Hände hoch und versuchte mich festzukrallen, erreichte aber das Gesicht des Angreifers nicht, und gegen die Handschuhe blieben meine Fingernägel erfolglos. Es waren dicke Lederhandschuhe. Die Finger hatten viel Kraft und, was schlimmer war, sie wußten genau, wo sie zupacken mußten, über dem Schlüsselbein, an den Halsschlagadern. Aber, erinnerte ich mich dunkel, der Druck auf eine Ader unterbindet die Arterienblutung aus dem Kopf ... der Druck auf beide zugleich verhindert die Blutzufuhr zum Gehirn.

Ich hatte keine Chance. Meine Abwehrbewegung war durch das Lenkrad behindert und brachte mir nichts ein. In den letzten Sekunden, bevor eine dröhnende Dunkelheit mich aufnahm, hatte ich nur noch einen kurzen Augenblick für zwei Gedanken Zeit. Erstens, daß ich Tick-Tock nie in einem so miesen Lokal erwartet hätte, und zweitens, und das zornig, daß ich tot war.

Ich kann nicht lange bewußtlos gewesen sein, aber es genügte. Als ich langsam zu mir kam, stellte ich fest, daß ich weder die Augen noch den Mund zu öffnen vermochte. Beide waren mit Heftpflaster verklebt. Meine Handgelenke waren gefesselt, und meine Füße konnte ich nur ein kleines Stück bewegen, sie waren zusammengebunden wie bei einem Zigeunerpony.

Ich lag auf der Seite hinter den Vordersitzen meines Mini-Cooper, wie ich an der Größe und dem Geruch erkannte; es war eiskalt, und nach einer Weile begriff ich auch, warum. Ich hatte weder einen Mantel noch ein Jakkett an. Meine Arme waren zwischen die beiden Vordersitze geklemmt, so daß ich das Heftpflaster nicht abreißen konnte. Alles tat mir weh. Ich versuchte mit aller Kraft, meine Arme zu befreien, aber es gelang mir nicht - und eine Faust, so nahm ich an - sauste so brutal auf sie hernieder, daß ich es nicht mehr versuchte. Ich konnte nicht sehen, wer den Mini-Cooper steuerte, aber das war auch nicht nötig. Es gab nur einen Menschen auf der Welt, der mir eine solche Falle gestellt haben konnte; kompliziert, aber wirksam, wie der Jaguar mitten auf der Straße. Nur einen Menschen, der Grund dazu hatte, mich zu entführen, so irrsinnig auch dieser Grund sein mochte. Ich machte mir keine Illusionen. Maurice Kemp-Lore wünschte nicht, daß ich den Winter-Cup gewann, und unternahm Schritte, das zu verhindern.

Ich fragte mich bloß, ob er wußte, daß es kein Zufall war, daß Turniptop den präparierten Zucker nicht gefressen hatte? Hatte er erraten, daß ich genau über ihn Bescheid wußte? Hatte er erfahren, daß ich mich bei allen Rennställen erkundigt und auch dem Jaguar nachgespürt hatte? Wenn er das wußte, was würde er mit mir tun? Ich hatte es gar nicht eilig, auf diese Frage eine Antwort zu erhalten.

Als wir eine Weile gefahren waren, bog der Wagen plötzlich links ab und holperte über eine unebene Straße. Nach einiger Zeit wurde er langsamer, bog wieder ab und hielt.

Kemp-Lore stieg aus, klappte die Lehne des Vordersitzes herunter und zerrte mich hinaus. Ich kam wegen der Fußfesseln nicht auf die Beine und stürzte auf die Schulter. Der Boden war hart und kiesig. Mein Hemd zerriß, und die harten Steine zerkratzten mir die Haut. Er zerrte mich hoch, und ich stand schwankend da, blind und unfähig, davonzulaufen, selbst wenn ich mich aus seinem Griff hätte befreien können. Er befestigte eine Art Leine an meinen Handfesseln und zog mich daran fort. Der Boden war uneben und die Schnur um meine Knöchel sehr kurz. Ich stolperte immer wieder und fiel zweimal hin.

Es war sehr unangenehm zu stürzen, ohne etwas sehen zu können, aber irgendwie gelang es mir, mich beiseite zu drehen, bevor ich aufprallte, so daß ich mit dem Körpergewicht auf den Schultern landete. Er zog mir die Hände immer so weit vor den Körper, daß ich das Heftpflaster nicht erreichen konnte. Beim zweiten Sturz habe ich mir alle Mühe gegeben, es abzuziehen, aber er riß mir die

Arme brutal über den Kopf und zerrte mich ein ganzes Stück auf dem Boden dahin. Wieder mußte ich eine ganze Menge Haut lassen.

Endlich ließ er mich aufstehen. Er sagte nichts. Kein Wort. Und ich konnte nicht reden. Man hörte nur unsere Schritte auf dem kiesigen Boden und das Wispern des scharfen Nordostwindes in den Bäumen. Mein zerfetztes Hemd war kein Schutz gegen diesen Wind, und ich begann zu zittern.

Er blieb stehen, ich hörte, daß eine Tür geöffnet wurde, dann zerrte er mich weiter. Diesmal hatte ich eine Stufe vor mir, wie ich zu spät erkannte, bevor ich wieder hinfiel. Ich hatte auch nicht mehr die Zeit, mich zur Seite zu drehen. Ich fiel auf Magen, Ellenbogen und Brustkasten. Der Sturz benahm mir den Atem, ich fühlte mich schwindelig. Ein Holzboden, dachte ich, während ich so dalag. Es roch nach Staub und undeutlich nach Pferden. Er zerrte mich wieder hoch, und ich spürte, wie meine Handgelenke hochgehoben und irgendwo über meinem Kopf festgemacht wurden. Als er fertig war und zurücktrat, tastete ich mit den Fingern umher, weil ich feststellen wollte, was es war. Sobald ich die glatten Metallhaken fühlte, wußte ich genau, in welcher Art von Raum ich mich befand.

Es war eine Sattelkammer. Es gibt sie in jedem Rennstall. Dort werden die Sättel und Zaumzeuge aufbewahrt, gemeinsam mit all den Gürteln, Riemen, Bandagen und Decken, die die Pferde brauchen. Von der Decke jeder Sattelkammer hängt ein Geschirrhaken, ein Gerät, das einem dreizackigen Anker gleicht und auf das man Zaumzeug zum Putzen hängt. An diesem Haken hing kein Zaumzeug, nur ich. Ich war fest dort angebunden, wo sich die metallenen Arme teilten.

Die meisten Sattelkammern waren warm, geheizt von einem Ofen, der feuchte Decken trocknet und verhindert, daß Leder Schimmel ansetzt. In dieser Sattelkammer war es sehr kalt, und der Geruch nach Leder und Sattelseife war sehr schwach. Die Kammer war unbenutzt und leer. Die Stille nahm eine neue Bedeutung an. In den Boxen bewegten sich keine Pferde. Die Stallung war unbenutzt. Ich schauderte, nicht nur vor der Kälte. Ich hörte ihn in den mit Kies beworfenen Hof hinaustreten, dann klapperte ein Riegel und eine Stalltür wurde geöffnet. Nach ein paar Sekunden fiel sie zu, und eine zweite Tür wurde geöffnet und klappte zu. Eine dritte ging auf. Er öffnete der Reihe nach sechs Türen. Ich nahm an, daß er etwas suchte, und fragte mich bedrückt, was es wohl sein konnte.

Nachdem die sechste Tür zugefallen war, blieb er einige Zeit aus. Ich konnte nicht hören, was er tat. Aber der Motor des Wagens war nicht zu hören gewesen, er mußte also noch da sein. Gegen meine Handfesseln konnte ich nichts ausrichten. Sie waren schmal und glatt, fühlten sich wie Nylon an, und es gab nicht einmal einen Knoten, geschweige denn, daß ich ihn lösen konnte. Nach einer Weile kam er zurück und stellte etwas auf den Boden. Einen Eimer.

Er betrat die Kammer und ging leise auf mich zu. Vor mir blieb er stehen. Überall war es ganz still. Ich hörte ein neues Geräusch, das hohe, asthmatische Pfeifen seiner Atmung. Schon eine leere Stallung schien also zu genügen.

Eine Weile geschah gar nichts. Er ging langsam um mich herum und blieb wieder stehen. Ging und blieb stehen. Was will er tun? dachte ich.

Er berührte mich einmal, fuhr mit dem Handschuh, der eiskalt war, über meine abgeschürften Schultern. Ich zuckte zusammen, und er atmete heftig ein. Er begann zu husten, trocken und asthmatisch. Hoffentlich erstickst du, dachte ich.

Er ging hustend hinaus, hob den Eimer auf und ging über den Hof davon. Ich hörte, wie der Eimer klirrend abgestellt und ein Wasserhahn aufgedreht wurde. Das Wasser rauschte in den Eimer, unnatürlich laut in der Stille.

Ein Riese und ein Zwerg gingen auf den Berg, sagte eine alberne Stimme in mir, und holten einen Kübel Wasser. Der Riese steckt den Zwerg hinein, der wurde immer nasser.

Nein, dachte ich, o nein, mir ist doch schon so kalt. In irgendeinem Winkel meines Verstandes sagte ich mir, daß mir ganz egal war, was er mir antat, wenn ich Template nur rechtzeitig reiten konnte, und eine andere Stimme sagte, sei kein Narr, darauf kommt es ihm ja an, er läßt dich nie reiten, und selbst wenn du fliehen kannst, wirst du so durchfroren und steif sein, daß du nicht einmal einen Esel reiten könntest.

Er drehte den Hahn zu und ging wieder über den Hof; ich hörte das Wasser im Eimer hin- und herschwappen. Er trug ihn in die Kammer und blieb hinter mir stehen. Der Henkel klirrte. Ich biß die Zähne zusammen, atmete tief ein und wartete. Er kippte den Eimer.

Der Guß traf mich zwischen den Schulterblättern und durchnäßte mich von Kopf bis Fuß. Das Wasser war eiskalt und brannte in meinen Schürfwunden. Nach einer kurzen Pause ging er wieder durch den Hof und füllte den Eimer wieder auf. Ich dachte mir, das macht jetzt schon fast nichts mehr aus. Nässer kannst du nicht werden, ärger frieren kannst du auch nicht. Meine Arme, die er über dem Kopf festgebunden hatte, begannen bereits schwer zu werden und zu schmerzen. Ich machte mir jetzt nicht mehr solche Sorgen um die unmittelbare Zukunft, ich dachte vielmehr daran, wie lange er mich hier festhalten würde.

Er kam mit dem Eimer zurück und schüttete mir diesmal den Guß ins Gesicht. Ich hatte mich geirrt, als ich annahm, daß mir das nichts mehr ausmachen würde. Es war mindestens so schlimm wie beim erstenmal, vor allem, weil ich sehr viel Wasser in die Nase bekam. Sah er denn nicht, daß er mich ertränkte, dachte ich verzweifelt. Meine Brust schmerzte. Ich konnte kaum atmen. Jetzt wird er dir sicher das Heftpflaster vom Mund reißen, sicher . sicher .

Er tat es nicht.

Bis ich wieder einigermaßen Luft in meine gequälten Lungen bekam, ließ er draußen im Hof schon wieder den Eimer vollaufen. Der Wasserhahn wurde abgedreht und die knirschenden Schritte kamen das dritte Mal auf mich zu. Die Stufe hinauf und auf den Holzboden. Ich konnte nichts tun, um ihn aufzuhalten. Meine Gedanken in diesem Augenblick lassen sich nicht wiedergeben.

Er blieb wieder vor mir stehen. Ich drehte den Kopf zur Seite und preßte die Nase an den Oberarm. Er schüttete mir das Eiswasser über den Kopf. Von jetzt an, dachte ich, tun mir die Clowns im Zirkus leid. Hoffentlich verwenden sie wenigstens warmes Wasser. Es hatte den Anschein, als wäre ich ihm jetzt naß genug. Jedenfalls stellte er den Eimer draußen vor der Tür ab, kam zurück und blieb neben mir stehen. Sein Asthma war schlimmer geworden.

Er packte mich bei den Haaren, riß meinen Kopf hoch und begann zum erstenmal zu sprechen.

Leise und mit offensichtlicher Zufriedenheit sagte er: »Du pfuschst mir nicht mehr dazwischen.«

Er ließ mein Haar los, verließ die Kammer, und ich hörte ihn durch den Hof gehen. Seine Schritte verklangen, und nach einer Weile wurde die Tür des Mini-Coopers zugeschlagen. Der Motor sprang an, und schon bald konnte ich ihn nicht mehr hören.

Es war gar nicht lustig, tropfnaß in einer kalten Nacht gefesselt hier stehen zu müssen. Ich wußte, daß er frühe-stens in ein paar Stunden zurück sein konnte, weil Freitag war. Von acht bis mindestens halb zehn war er mit seiner Sendung beschäftigt, und ich fragte mich, welche Auswirkungen dieses Abenteuer auf sein Auftreten haben würde.

Eines stand fest, ich konnte nicht einfach geduldig stehenbleiben und warten, bis ich befreit wurde. Das Wichtigste war zunächst, das Heftpflaster abzulösen. Ich glaubte, daß sich das leicht machen lassen müsse, weil es naß war, aber es klebte ganz fest. Nachdem ich lange Zeit meinen Mund am Arm gerieben hatte, gelang es mir nur, eine Ecke aufzurollen. Das verschaffte mir zwar etwas mehr Luft, aber um Hilfe schreien konnte ich nicht.

Die Kälte erwies sich als ernstes Problem. Meine Nässe war schrecklich, die Hose klebte klamm an meinen Beinen, die Schuhe waren voll Wasser, und die Fetzen meines Hemds schienen an Armen und Brust wie Mörtel zu haften. Meine Finger waren schon völlig gefühllos, und auch die Füße spürte ich kaum mehr. Er hatte die Tür absichtlich offengelassen, da gab es keinen Zweifel, und obwohl der beißend kalte Wind nicht direkt hereinwehte, herrschte doch ein starker Luftzug. Ich zitterte am ganzen Körper.

Zaumzeughaken. Ich stellte mir ihre Form vor. Ein Metallstab mit drei aufwärtsgebogenen Haken. Oben am Ende ein Ring und am Ring befestigt eine Kette. Die Länge der Kette hing von der Höhe der Decke ab. Am obersten Glied der Kette eine in den Holzbalken eingeschlagene Krampe. Da die ganze Anlage jahrelang halten mußte, war es völlig aussichtslos, sie aus der Decke ziehen zu wollen.

Ich hatte Zaumzeughaken gesehen, die nur auf die Kette gehängt waren und leicht abgenommen werden konnten, aber nach nutzlosen und ermüdenden Anstrengungen war mir klar geworden, daß es mir hier nicht so leicht gemacht wurde.

Aber irgendwo, dachte ich, irgendwo muß ein schwaches Glied sein. Buchstäblich ein schwaches Glied. Im Laden bekam man die Haken nicht mit Ketten zu kaufen. Man schnitt irgendeine Kette auf die benötigte Länge zu, und irgendwo mußte sich also ein Verbindungsglied befinden.

Die Wölbung der Haken streifte an meine Haare, und meine Handgelenke waren etwa sechs Zentimeter darüber festgebunden. Das ließ mir wenig Hebelwirkung, aber eine andere Hoffnung hatte ich nicht. Ich begann mich zu drehen, stemmte die Unterarme auf die Haken und verdrehte die Kette, hängte mich daran und hörte, daß sich die Glieder aneinander rieben. Nach zweieinhalb Umdrehungen konnte ich sie nicht mehr weiterdrehen. Sobald es mir gelang, darüber hinwegzukommen, würde das schwache Glied auseinanderreißen.

Die Theorie war einfach. Sie in die Praxis umzusetzen, erwies sich als schwierig. Sobald ich an der Kette drehte, verkürzte sie sich, meine Arme wurden höher hinaufgezogen, die Hebelwirkung verringerte sich. Außerdem begannen sie mir jetzt im Ernst wehzutun.

Ich drückte, so stark ich konnte. Nichts rührte sich. Ich drehte sie ein wenig zurück, setzte wieder an. Der Anprall fuhr durch meinen ganzen Körper und riß mich von den Beinen. Mühsam raffte ich mich wieder hoch, ging ein wenig in die Grätsche und begann von neuem. Diesmal spürte ich die Erschütterung nur bis zur Brust. Ich versuchte es wieder. Die Kette hielt.

Zur Abwechslung befaßte ich mich wieder mit dem Heftpflaster und konnte es nach einer Weile ganz entfernen. Endlich war mir die Möglichkeit gegeben, laut zu schreien. Ich schrie.

Niemand kam. Meine Stimme hallte in der Kammer, klang laut in meinen Ohren, aber ich fürchtete, daß der

Wind draußen sie verschlucken würde. Ich schrie, mit kurzen Pausen, lange Zeit. Ohne Erfolg.

Und jetzt, es war etwa eine Stunde, nachdem Kemp-Lore gegangen war, stiegen Angst und Wut in mir hoch.

Ich fürchtete für meine Hände, die ich nicht mehr spürte. Ich zitterte nicht bloß, sondern schauderte vor Kälte, und die Blutzufuhr zu meinen Händen mußte sich buchstäblich hochquälen; die Fessel um meine Handgelenke wurde immer enger.

Ich mußte mich dem schrecklichen Gedanken stellen, daß meine Hände am Morgen abgestorben sein würden, wenn ich hier die ganze Nacht zubringen mußte. Meine Einbildungskraft ging ungebeten mit mir durch. Abgestorben. Gangrän. Amputiert.

Das kann er nicht gewollt haben, dachte ich plötzlich. Das hat er doch nicht vorgehabt. Niemand kann so gemein sein. Ich erinnerte mich an die Befriedigung in seiner Stimme. Er hatte mir doch sicher nur eine Lehre erteilen und mich nicht für das ganze Leben zum Krüppel machen wollen.

Die Wut gab mir Kraft und Entschlossenheit zurück. Ich gedachte nicht zuzulassen, daß er sein Ziel erreichte. Die Kette mußte zerreißen.

Ich drehte sie wieder bis zum Anschlag und riß daran; der Atem blieb mir weg. Ich befahl mir, nicht nachzulassen. Ich ließ locker und riß, ließ locker und riß, stemmte mich gegen die Haken, versuchte sie mit aller Kraft herumzudrehen. Die Kette klirrte und hielt.

Ich ging methodisch vor. Sechsmal zerren, dann eine Pause, sechsmal zerren, eine Pause. Unaufhörlich, sechsmal zerren, Pause, bis ich zu schluchzen anfing.

Wenigstens erwärmt mich die Bewegung ein bißchen, dachte ich mit einer Spur von Galgenhumor, aber das war ein schwacher Trost für die unerträglichen Schmerzen in meinen Armen und Schultern, für die glühendheißen Zangen, die sich in meinem Genick festgebissen hatten, oder für den Einschnitt der Fessel in meine Handgelenke, als die Reibung die Haut wegschürfte.

Sechsmal zerren, Pause. Sechsmal zerren, Pause. Die Pausen wurden länger. Jeder, der schon einmal mit Heftpflaster auf den Augen geweint hat, wird wissen, daß die Tränen in der Nase herunterlaufen. Wenn ich hochschluckte, bekam ich sie in den Mund, salzig, der Geschmack war mir zuwider.

Sechsmal zerren, Pause. Ich wollte nicht aufhören. Ich weigerte mich, aufzuhören. Sechsmal zerren, Pause. Sechs. Pause.

Nach einer Weile verdrehte ich die Kette in der anderen Richtung. Ich dachte, daß die Kette dadurch schneller auseinanderreißen und meinen Muskeln Erleichterung verschaffen würde, aber ich irrte mich. Ich versuchte es wieder anders herum.

Die Zeit verging. Weil ich nicht sehen konnte, wurde ich schwindelig. Ich begann zu schwanken und in den Knien einzuknicken, wenn ich mich nicht konzentrierte, und beides schadete meinen Armen ungemein.

Warum - anreißen - wollte - anreißen - die verdammte Kette - anreißen - nicht zerbrechen. Ich wollte nicht zugeben, daß mir das zuviel war, ohne mich bis zum Ende abzuplagen, obwohl die Versuche, endlich aufzuhören, einfach dazuhängen, bewußtlos zu werden und Fieber zu haben, immer stärker wurde. Aber dieser Frieden würde nur vorübergehend, täuschend, nutzlos, gefährlich sein.

Ich riß und riß, wie mir schien, stundenlang, manchmal schluchzend, manchmal fluchend, vielleicht manchmal sogar betend.

Ich war völlig unvorbereitet, als es endlich passierte. Im Augenblick zuvor raffte ich den Rest meiner Willenskraft zusammen, um wieder anzureißen, und im nächsten, nach einem krampfhaften, verzweifelten Aufbäumen, stürzte ich zu Boden, während der Zaumzeughaken klirrend auf mich fiel, immer noch an meine Handgelenke gebunden.

Ein paar Sekunden lang konnte ich es kaum glauben. Alles drehte sich um mich, ich fand mich nicht mehr zurecht. Aber der Boden unter meinem Körper war hart, roch nach Staub, war wirklich, feucht und Zuversicht einflößend.

Nach einer Weile, als ich wieder einigermaßen zu mir gekommen war, warf ich mich auf die Knie, so daß endlich das Blut in meinen Armen nach unten strömte und steckte die Hände zwischen die Schenkel, um sie zu wärmen. Sie fühlten sich an wie Klumpen erstarrten Fleisches, ohne Gefühl, ohne Bewegung. Die Fessel um meine Handgelenke schnitt nicht mehr so stark ein, seit sie kein Gewicht mehr zu tragen hatte, und jetzt hätte das Blut Platz gehabt, in die Hände zurückzukehren, dachte ich, wenn es nur wollte.

Die unvorstellbare Erleichterung, die Arme endlich nach unten nehmen zu können, ließ mich eine Weile vergessen, wie sehr ich fror, wie naß ich war, wie weit davon entfernt, warm und trocken zu werden.

Ich war beinahe guter Laune, als hätte ich einen entscheidenden Kampf gewonnen, und so war es schließlich auch.

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